München, 29.V 85.
Lieber Papa,
Es ist wol nicht schön von mir, daß ich Dir erst jetzt für
Deinen freundlichen Briefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 29.4.1885. und das Geld danke, da ich wieder den Boden meiner
Cassa sehe und um eine neue Sendung bitten muß. Aber wenn hier auch alle Tage
viel Neues geschieht,
wenn man jeden Morgen auch von der oder jener Nachricht überrascht wird, es
langt doch nicht immer, einen Brief zu füllen und interessant zu machen. Das
sind so viele Kleinigkeiten, die das Treiben der Großstadt illustriren, die die
| Tage rascher, unbemerkter hingleiten lassen, aber doch innerhalb 24 Stunden
wieder vergessen sind. Ich bescheinige Dir nun hiemit also mit herzlichem Dank
den Empfang der 252 M. Ich habe s/d/ie Papiere, wie du mir schriebst, beim Banquiernicht identifiziert.
gewechselt, der mir nur bemerkte, daß an den MeiningernAnteilscheine des Herzogtums Sachsen-Meiningen. viel verloren gienge. Der späte Schneefall und die klaren
Nächte zu Pankraz und Servatiusdie Eisheiligen am 12. und 13.5.1885. müssen in der Ostschweiz schrecklich geschadet
haben. Ich hoffe, daß es bei uns weniger erheblich ist, und jetzt währt ja
schon seit mehreren Tagen das schönste Wetter, das wol Einiges wieder gut
machen wird. –– Vor einigen Tagen erhielt ichDas Begleitschreiben zu der Sendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Theodor Wedekind an Frank Wedekind, 24.5.1885. ein gedrucktes FamiliencircularDas „Circular VI. Die Familie Wedekind Zur Horst in den Jahren 1880 – 1885“ erschien ohne Jahresangabe in Göttingen, das Nachwort von Theodor Wedekind ist auf Mai 1885 datiert. Die Sendschreiben (Circulare) enthielten die Fortschreibung von Stammtafel und Familienchronik, Nachrufe und Berichte über die Familientage.
von Onkel TheodorLandgerichtsrat Theodor Wedekind, Bruder von Friedrich Wilhelm Wedekind, war der „Familiensyndikus u. Bearbeiter des 1880 gedruckten Werkes ‚Stammbaum der Familie Wedekind zur Horst‘. Er hatte ab 1870 als Familiensyndikus die Verwaltung der Familienstiftung, die Sorge für die Einberufung der Familientage und gemäß des Beschlusses auf dem 4. Wedekind’schen Familientag (1860) die Abfassung der Familiencirculare (Sendschreiben) zu verfassen.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 72]. Ich blätterte mit großem Interesse die statistischen
Tabellen und das Familiengliederverzeichniß in chronologischer Reihenfolge
durch und las das Vor- und Nachwort mit noch grö|ßerer Aufmerksamkeit, da alles
das viel Neues für mich enthielt. Ich ersah daraus auch, daß und wie die
Schauspielerin Ch. Wolter mit unserer Familie verwandt istDie Schauspielerin Charlotte Wolter findet in dem genannten Circular keine Erwähnung, ein Verwandtschaftsverhältnis zur Familie Wedekind ist nicht bekannt, möglicherweise eine Verwechslung Wedekinds mit „Charlotte W. zu Stade“ [Circular VI. Die Familie Wedekind Zur Horst in den Jahren 1880 – 1885. Göttingen o. J., S. 13]., und die
jüngst hier in München mit wirkte in einer SeparatvorstellungDie Wiener Hofburgtheater-Schauspielerin Charlotte Wolter spielte am 9.5.1885 in der Separatvorstellung vor Ludwig II. die Marquise de Pompadour in Albert Emil Brachvogels Trauerspiel „Narziß“ und nicht in der Aufführung von Kalidasas „Urvasi“ am Tag zuvor [vgl. Karl von Perfall: Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Theater in München. 25. November 1867 – 25. November 1892. München 1894, S. 244]. Die Presse berichtete hingegen, Charlotte Wolter träte in der Separatvorstellung von Victorien Sardous „Theodora“ auf [vgl. Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 118, 28.4.1885, S. 3]. des Königs von
Kalidasas UrvasiDas indische Schauspiel „Urvasi“ von Kalidasa vom Anfang des 5. Jahrhunderts wurde in der Übersetzung von Edmund Lobedanz und mit Musik von Dr. Franz Grandaur am 8. und 12.5.1885 in Separatvorstellungen vor Ludwig II. aufgeführt, die erste öffentliche Aufführung fand am 18.12.1887 statt [vgl. Karl von Perfall: Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Theater in München. 25. November 1867 – 25. November 1892. München 1894, S. 187 und 244]..
Leider hab’ ich sie selber nie gesehen, die schöne Dame, wol aber Herrn C.
SonntagDer Königliche Hofschauspieler Karl Sontag aus Hannover war am Theater am Gärtnerplatz am 16., 17. und 24.4.1885 in den Einaktern „Ein Wort an den Minister“ von Anton Lange, „Die Frau im Hause“ von Pauline Raupach und „Die Unglücklichen“ von Louis Schneider (nach August Kotzebue) zu sehen, am 18., 19., 21., 23. und 29.4.1885 in „Kean oder Leidenschaft und Genie“ von Louis Schneider (nach Alexandre Dumas), am 22.4.1885 in „Der Sklave oder Ein lieber Schwiegervater“ von Gustav von Moser und „Dir wie mir oder Dem Herrn ein Glas Wasser“ von Roger (Anton Ascher), am 26. und 28.4.1885 sowie am 1., 8. und 13.5.1885 in Julius Rosens Schwank „Deficit“ und am 10., 11. und 15.5.1885 in „Richards Wanderleben oder Die reisenden Comödianten“ von Georg Kettel. Welche Aufführungen Wedekind besuchte, ist nicht ermittelt. , den Freund Onkel Theodors, der hier mehrere Wochen lang gastirte.
Onkel Theodor dankte ich natürlich in einem längeren Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Theodor Wedekind, 26.5.1885. für seine
freundliche Zusendung und schrieb ihm dabei, was ich dachte, daß ihn, den ehemah/l/igen
Münchner Studenten interessiren könnte. Es freute mich sehr, zu vernehmen, daß
auch Dir die Verse,
die ich Mama zum Geburs/t/stag sandtevgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1885. Zum 45. Geburtstag seiner Mutter am 8.5.1885 hatte er ihr ein Briefgedicht geschickt., gefallen haben. Sie selber sprachEmilie Wedekinds Antwortbrief ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: 9.5.1885.
sich besonders anerkennend über den Umfang des Poemas aus aber mit der
Befürchtung, ob das nicht auch meine Studien zu sehr beansprucht hätte. Ich mag
ihr nun natürlich nicht gern den Glau|ben nehmen, daß ich viel Fleiß und Zeit
darauf verwendet habe; aber die Wahrheit ist doch, daß ich es erst Mittwoch n/N/achtden 6.5.1885.
begann und sofort vollendete. Am Donnerstagden 7.5.1885. Morgen war ich um 7 Uhr wieder im
Colleg, am Nachmittag schrieb ich es ab und legte den Brief bei und trug es noch
vor 7 Uhr Abends auf
den Bahnhof, in der Hoffnung, daß es Mamma demzufolge noch am Freitagam 8.5.1885. erhalten
werde, was allerdings nicht zutrafDie Uhrzeit des Eingangsstempels in Lenzburg am 8.5.1885 ist 19 Uhr, eine Zustellung nach Schloss Lenzburg ist an diesem Tag demnach offenbar nicht mehr erfolgt.. Ich kann solche Sachen, wo der Stoff
gegeben ist und die Gedanken von selbst dem Herzen entströmen und die Form das
Schwierigste ist, nicht gut Tage lang herumschleppen und zusammenstudiren,
sondern schreibe sie leichter in der Aufregung der Eile und in der flüchtigen
Begeisterung des Augenblickes, was allerdings dann äußerlich an dem Opus seine
auffallenden Spuren zurückläßt. Aber ich glaube, es hat Mama darum dennoch
wohlgethan und nochmehr der Gedanke | an die Arbeit, die sie dahinter
vermuthete und freilich ein wenig zu hoch anschlug. Ich schreibe dir dies aber
nur deswegen, um Dich zu beruhigen, falls Du etwa auf ähnliche Befürchtungen,
wie Mama wegen der Studien, verfallen sein solltest. –– Die Umgebung der Stadt
ist jetzt schöner, als ich es mir je von München gedacht hätte. Überalle
weite schattige Parkanlagen mit schönen Wegen und viel vornehmem Leben und
Treiben darin, so daß man nie in Verlegenheit kommt, wenn man bei dem
herrlichen Wetter eine Stunde spazieren gehn will. Von meiner Wohnung aus hab’
ich kaum fünf Minuten bis in den englischen Garten, wo weithin ununterbrochenes
Grün das Auge erquickt, was man in der That bei den
blendenden makadamisirten StraßenEin nach John Loudon MacAdam (1756–1836), dem „Erfinder einer Befestigung der Straßenfahrbahn, wonach dieselbe aus einer etwa 25 Centim. dicken Lage gleich großer, höchstens 1/6 Kilogr. schwerer Steine hergestellt wird“ [Meyers Konversations-Lexikon. 3. Aufl. Bd. 11. Leipzig 1877, S. 22], benanntes Straßenbauverfahren. und hohen weißen Häusern als eine große
Wohlthat empfindet. Aber hoffentlich halten sich der Sonnenschein und die Wärme
| auf einige Zeit, daß alles wohl gedeiht und möglichst wieder gut wird was der
Schnee und der Regen verdorben haben. Mit herzlichen Grüßen und Küssen für AlleGemeint sind wohl Wedekinds Mutter und die auf Schloss Lenzburg lebenden jüngeren Geschwister Erika, Donald und Emilie.
zusammen, ganz besonders für Dich, lieber Papa, bleib ich Dein treuer Sohn
Franklin
P. S. Ich erlaube mir, einen Brief an
Mamavgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.5.1885. beizulegen, den ich ihr schon lange schulde. Ich glaube es geht noch unter
einfachem Porto.