München 27 IV.85.
Lieber Papa,
bitte verzeih mir, daß ich Dir nicht früher schreibe aber
langwieriges Zahnweh ließ mich letzter Tage zu keiner rechten Sammlung kommen.
Ich hatte mir zwei Backenzähne plombiren lassen, aber obwol sie nicht eben sehr
stark angegangen waren, enstandSchreibversehen, statt: entstand. dennoch an beiden eine sehr heftige
Wurzelentzündung, so daß ich sie mir nach einander ausreißen lassen mußte.
Die FerienDie Semesterferien an der Ludwig-Maximilians-Universität endeten am 14.4.1885. sind mir recht schnell vorübergegangen, zumal die
erste Hälfte derselben, da Armin noch hierArmin Wedekind reiste spätestens am Samstag, den 11.4.1885 von München nach Lenzburg und verbrachte die letzte Woche der Semesterferien bei seinen Eltern, bevor er sein Studium in Zürich fortsetzte. | war. Ich hoffe daß er gesund und
wohl bei Euch eingetroffen ist und e/E/uch alle zusammen ebenso
angetroffen hat. In den letzten Tagen der Ferien sah ich mich ein wenig in der
Umgebung der Stadt um. Sehr schön war sie zwar damals noch nicht, da erst seit
drei Tagen, seit
einem heftigen Gewitterregen überall das Grün an Baum und Strauch
hervorgebrochen ist. So besuchte ich mehrere Schlösser, darunter Schleißheim,
wo eine sehr reichhaltige Bildergallerie zu sehen ist. Ich kam mir
anfangs recht dumm vor unter all den Kunstwerken in Malerei und Musik, die hier
in München dem Neuling vor die Sinne treten. Aber durch den Umgang mit einigen S/s/achverständigen
Leuten und auch durch einige gedruckte kleine Fingerzeige, so z. B. Mengs: Über
den GeschmackDas 1762 in Zürich zunächst anonym erschienene Buch des klassizistischen Malers Anton Raphael Mengs „Gedanken über die Schönheit und über den Geschmak in der Malerey. Herrn Johann Winkelmann gewidmet von dem Verfasser. Herausgegeben von J. Caspar Füeßli“. Das Buch avancierte zum kunsttheoretischen Standardwerk, das auch im Unterricht der Kunstakademien Verwendung fand. in der Malerei e.
ct. | hab/t/ sich mein Urtheil
nach gerade allmählig so weit abgeklärt, daß, wenn ich auch noch nicht wagen
kann selber mitzusprechen, ich doch wenigsten verstehe was a/A/ndere
sagen und sagen wollen. Denn der naive Kunstgenuß wird d/h/eutzutage doch nur in den seltensten Fällen
auf die eine richtige Ansicht führen. Hier ist dies gut, dort jenes, und
da wieder etwas anders, was jeweilen den großen Meister macht, und wer nicht
weiß, was er zu suchen hat, der wird auch das Richtige schwerlich finden
können. Auf diesem Wege ist mir denn auch mit der Zeit das Verständniß von
Richard Wagner
aufgegangen. Das sind wirklich Kunstproduk/c/te, die genauer untersucht
sein wollen und die dem n/U/ng/e/ingeweihten nicht viel mehr
bieten, als recht viel lautes lärmendes Tschinpum und großartige Scenerien.
Selbst das wenige Melodische wirklich Musika|lische in seiner Musik ist wenn
auch imposant, doch so gesucht, so ausstudirt, daß es wol kaum jemals, wie die
Musik der Italiener, Eigenthum der Drehorgeln und Gassenjungen werden wird. Es
heißt der Musik ja gewiß eine hohe Aufgabe stellen, wenn
sie Empfindungen und
Gemüthszustände malen soll; ob sie es aber kann, ist eine andere Frage, und obsie
dazu befähigt ist, Gedanken, ja sogar logische und philosophische Syst
Operationen auszudrücken, daß/s/ möcht’ ich noch sehr bezweifeln und das
ist auch meiner unmaßgeblichen Ansicht nach die Klippe, an der die ganze
Wagnerei in kurzer Zeit zerschellen wird. In RienziRichard Wagners große tragische Oper „Rienzi, der Letzte der Tribunen“ (1842) wurde am Königlichen Hof- und National-Theater München am 30.11.1884 und am 22.2.1885 gegeben; welche Vorstellung Wedekind besuchte ist nicht ermittelt. treten diese specivischSchreibversehen, statt: specifisch.
wagnerischen Eigenheiten noch nicht so frappant hervor, um so lebhafter
erinnerte er mich an all’ das, was du uns eh’dem über | NiemannAlbert Niemann, Opernsänger (Tenor) und Wagner-Interpret; seit 1854 am Hoftheater in Hannover engagiert, wo er 1859 erstmals die Titelrolle in Wagners Oper „Rienzi“ sang; 1866 wechselte er nach Berlin. in Hannover
erzählt hast. Auch hier machte sich die Schlacht- und Triumpfscenedie 10. Szene des III. Aktes von „Rienzi“, in der Rienzi sowie die Senatoren, Cecco und Baroncelli „ganz geharnischt und zu Pferd“ [Richard Wagner: Rienzi der Letzte der Tribunen. Große tragische Oper in 5 Akten. Berlin, Dresden 1875, S. 263] auftreten. mit dem
stampfenden, schnaubenden Schimmel sehr imposant aber im Niebelungenring, zumal
im Schluß desselben, in der GötterdämmerungWedekind besuchte aus Richard Wagners Opern-Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ die Oper „Die Walküre“ am 11.3.1885 im Königlichen Hof- und Nationaltheater München [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.3.1885]; im April wurden dort die Teile „Siegfried“ (am 10.4.1885) und „Götterdämmerung“ (am 14.4.1885) aufgeführt, die Wedekind vermutlich beide besuchte., kommen noch tollere
Reiterstückchen auf die Bühne.
Vor acht TagenVorlesungsbeginn war offiziell am 15.4.1885 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommersemester 1885. München 1885, S. 2]. haben hier die Collegien wieder begonnen und
passen für mein Semester recht gut und fallen ganz angenehm. Ich belegte für
jeden Morgen von 7 – 8 Erb- und FamilienrechtEine Veranstaltung zu diesem Thema ist im Vorlesungsverzeichnis nicht aufgeführt, zu der genannten Uhrzeit waren die Vorlesungen Deutsches Handels-, Wechsel und Seerecht (v. Sicherer) bzw. Deutsches Staatsrecht (Harburger) angekündigt [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommersemester 1885. München 1885, S. 4]. und von 8 – 10 Pandektendie Veranstaltung: Pandekten ohne Familien- und Erbrecht (Seuffert) [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommersemester 1885. München 1885, S. 4]. Als Pandektenrecht bezeichnete man im 19. Jahrhundert das Zivilrecht gemäß der von Friedrich Carl von Savigny begründeten historischen Rechtsschule, die sich auf die römischen Pandekten, „Justinians Sammlung von Erörterungen, Aussprüchen und Gutachten altrömischer Rechtsgelehrten“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. 12. Bd. Leipzig 1888, S. 649], stützte.. Von 10
– 11 liest Prof. Riel Culturgeschichte der RenaissanceEine Veranstaltung dieses Titels findet sich im Vorlesungsverzeichnis nicht. Der Kunsthistoriker Wilhelm Heinrich von Riehl, seit 1859 Professor für Kulturgeschichte und Statistik an dem Münchner Universität und seit 1885 Direktor des Bayerischen Nationalmuseums, bot demnach die vierstündige Vorlesung „Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei von der van Eyk bis zum Ausgange der Rubenschen Schule“ an sowie als öffentliche Veranstaltung „Demonstrationen in der K. älteren Pinakothek, einstündig (publice).“ [Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommersemester 1885. München 1885, S. 15] Unter den von Wedekind überlieferten Kollegheften trägt eines den Titel „Renaissance“ [vgl. Aa Wedekind-Archiv B 156], die ich besuchen kann auch ohne
sie belegt zu haben. Die Stunde kostet hier 4 M so daß mich die Collegien auf 72 M kommen. Außerdem sollt
ich mir aber allerdings noch ein Pandektenhandbuch anschaffen, das 19 M kostenSchreibversehen, statt: kostet., antiquarisch aber
vielleicht | wol auch etwas billiger zu haben ist. Bei gegenwärtigem schönen
Wetter ist es bedeutend angenehmer, als vergangenen Winter, früh m/M/
orgens ins Colleg zu gehen, und auch der Stoff, zumal die Pandecten sind nicht
so schrecklich dürr, wie sie verschrieen sind.
Meine WirthinWedekind zog nach dem Studienortwechsel seines Bruders Armin nach Zürich von dem gemeinsamen Zimmer in der Türkenstraße 30, 1. Stock in die Schellingstraße 27, 3. Stock um. Unter dieser Adresse war die Privatierswitwe Maria Fischer verzeichnet [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil II, S. 407 und 1886, Teil II, S. 416]; das Haus mit der neuen Wohnung lag in unmittelbarer Nähe zu seinem alten Zimmer: „Zwischen 27 und 29 Türkenstrasse“ [ebd.]. gefällt mir sehr gut. Sie ist Wittwe und besorgt
mir sehr pünktlich selber meine Wäsche und die Ausbesserung der Kleider. Ich
wohne hier mit noch drei anderen StudentenIm 3. Stock der Schellingstraße rechts waren der Jurastudent Anton Graf und der Philosophiestudent Josef Nieberle, beide aus Neuburg an der Donau, verzeichnet, links wohnte der Philosophiestudent Anton Heeger aus Westheim [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Besamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Sommer-Semester 1885. München 1885, S. 47, 49 und 63]. zusammen, zwei Juristen darunter der
eine in meinem Semester, und einem Philosophen. Alle drei sind sehr nette stille Leute, mit denen sich
gut verkehren läßt. Wenn hier erst vor drei Tagen der Frühling begonnen hat, so
wird er indeß bei Euch wol schon längst in voller Blüthe stehen und | dabei
giebt es gewiß in Haus und Garten recht viel a/A/rbeit. An Armin hatt’
ich einen langen ausführlichen Brief nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 17.4.1885.nach Lenzburg gesandt mit der
Voraussetzung, daß er denselben Euch allen vorlest/e/n werde. Er scheint
ihn aber erst in Zürich erhalten zu haben. Er schrieb mir darauf, daß es ihm
gut gehe, und wenn auch Zürich nicht München sei, so werde er dort doch um so
besser für sein Examen arbeiten können. – Und nun leb wohl, lieber Papa. Ich
wünsche, daß es dir auch diesen Sommer recht gut ergehen möge, und bleibe mit
herzlichsten Grüßen an Dich, an Mamma und die KleinenWedekinds auf Schloss Lenzburg wohnende jüngeren Geschwister Erika, Emilie und Donald. Dein treuer Sohn
Franklin.
Schellingstraße 27 III.