München 28.V.86.
Lieber Papa,
herzlichsten Dank für Deinen großen interessanten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 27.4.1886. , in dem
du mich, nachdem du dich kaum vom Krankenlager erhoben, so genau über alle
heimischen Verhältnisse unterrichtest. Mama schrieb mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 18.5.1886. dann vom 18., daß du
wieder ausgehest und dich des schönen Wetters erfreutest und ich hoffe, daß du
dich seither immer mehr erholt | hast. Freilich hattest du dir bei Gelegenheit
von Willis AbreiseWilliam Wedekind, von seinem Vater und seinem Bruder Donald bis nach Basel begleitet und nach Paris weiterreisend, wie aus einem Brief von Wedekinds Schwester Emilie hervorgeht [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.4.1886], schiffte sich am 24.4.1886 in Le Havre nach New York ein. so viele Strapazen zugemuthet, daß sich die schlimmen Folgen
wol erklären lassen. Willis Abreise nach Amerika war es natürlich was mich
darnach am meisten in Deinem Briefe interessirte. Diese Nachricht kam mir
freilich sehr unerwartet und ich hätte ihn gerne vorher noch einmal gesehen und
von ihm Abschied genommen. Nun darf ich wol erwarten, aus Deinen nächsten
Zeilenvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.5.1886. etwas über seine glückliche Landung in der neuen Welt zu vernehmen.
Nebenbei erfreute es mich auch sehr, zu hören, wie mannigfaltig | sich das
geistige Leben Lenzburgs im Ausgange des letzten Winters gestaltet hat, und ich
bin sehr gespannt darauf, die verschiedenen neuen Elemente darin kennen zu
lernen. Zwei neue Dichter haben sich also eingestellt, ein schwedischerDer schwedische Schriftsteller Verner von Heidenstam ließ sich zusammen mit seiner Frau 1884 in der Schweiz nieder, zunächst in Appenzell, dann im Aargau. Im Winter 1885 quartierten sie sich im Haus Thalgarten in der Ammerswilerstraße in Lenzburg ein, seit dem 1.5.1886 auf dem benachbarten Schloss Brunegg, das Marie Hünerwadel vermietete [vgl. Edward Attendorf: Strindberg und Heidenstam begegnen sich auf Schloss Brunegg. In: Lenzburger Neujahrsblätter 1949, Jg. 19, S. 27ff. und ders.: Von den Dichtern Heidenstam und Strindberg und König Gustav IV. von Schweden (1792–1809), der als Oberst Gustavson in Lenzburg lebte. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 29, 1958, S. 3f.] und
einer von der neuen deutschen Dichterschule. Was den letzteren, den Herrn
Henckel anbetrifft, so thut es mir eigendlichSchreibversehen, statt: eigentlich. leid um ihn, daß er so schmählich
unter die Philister gerathen ist; denn Dr. WeltiDer Theater-, Musik- und Literaturkritiker Dr. Heinrich Welti war ein Freund Armin Wedekinds aus der Aarauer Schulzeit, der Frank Wedekind in das kulturelle Angebot Münchens einführte., der jene Ges/d/ichtsammlungdie von Wilhelm Arent herausgegebene Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“ (1885), über die sich Wedekinds Vater zuletzt kritisch geäußert hatte [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 20.4.1886]. Karl Henckell hatte darin neben Hermann Conradis Einleitung ein Vorwort mit dem Titel „Die neue Lyrik“ beigesteuert und war mit 20 Gedichten vertreten. genau kennt, sagt mir, daß
seine Gedichte sehr hübsch, ansprechend seien und bedeutend mehr reine Poesie
enthielten, als die Werke der anderen Sänger. | Übrigens wird die Anschauung
der ungekünstelten Natur, wie sie ihm ja zu Hause entgegentritt, wol auch ein wenig läuternd auf seine Ideen einwirken, und du
selber, der du ja über die Zeitströmungen hinaus den weiten Horizont des
allgemein-menschlich Schönen mit dem geistigen Auge übersiehst, vermagst durch
Würde und einigen Humor dem jungen Mann wol am besten auf die
Einseitigkeit seiner Bestrebungen klarzulegen. Es sind das ja gewöhnlich nur,
zumal bei so jungen Leuten momentane verirrungenSchreibversehen, statt: Verirrungen., die die überflüssige Begeisterung an den Mann bringen und
gerade unsere größten Dichter haben ja ohne Ausnahme | ihre Sturm- und
Drangperiode gehabt wo sie sich mit fast kindlicher naiver Freude an den
blendenden Unflätigkeiten des Realismus ergötzten und sich selber für Cyniker
ausgaben während ihnen indessen nichts mehr fehlte als die
Hauptbedingung dazu, die Objectivität.
Über München liegt gegenwärtig eine ziemlich drückende
Schwüle. Jeden Tag liest man neue Geschichten über die Verhältnisse des Königsgemeint sind die anwachsenden Schulden des Königs durch seine Bauprojekte, insbesondere von Schloss Neuschwanstein, und die drohende Zahlungsunfähigkeit der Kabinetskasse. Diese sogenannte ‚Königskrise‘ führte schließlich zur Entmündigung und Absetzung des Königs. Zunächst berichtete vor allem die auswärtige Presse darüber: „(Dementi.) Die Mittheilung auswärtiger Blätter, daß ‚nach Beschluß des Staatsrathes Sr. Maj. der König ersucht werden solle, die Bauten einzustellen und in München Residenz zu nehmen‘, beruht nach eingezogener Erkundigung vollständig auf Erfindung.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 39, Nr. 103, 13.4.1886, 1. Blatt, S. 2] Seit Anfang Mai berichtete dann jedoch auch verstärkt die bayerische Presse: „Wenn neuerdings die Angelegenheiten der königlichen Kabinetskasse häufiger und offener in Zeitungen besprochen werden, so sind zwei Umstände daran schuld: die von Gläubigern der Civilliste gegen dieselbe eingereichten Klagen bei den hiesigen Gerichten und die zwar amtlich nicht, aber durch sichere private Mittheilungen über allen Zweifel festgesetzte Thatsache, daß Verhandlungen des Ministeriums mit der Landesvertretung über die Lage der Kabinetskasse stattfinden.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 39, Nr. 121, 1.5.1886, 2. Blatt, S. 1],
die dann des Abends aufs weitläufigste von den Bierpolitikern discurrirt und meistens am andern
Morgen wieder offiziell widerrufen werden. Indessen werden schon überall
Vorbereitungen für die „Centenarfeierdas Fest zum 100. Geburtstag von König Ludwig I. von Bayern in München vom 8. bis 10.7.1886. Die Presse berichtete am Tag von Wedekinds Brief über die Vorbereitungen: „Je näher das Fest rückt, von dem uns jetzt noch sechs Wochen trennen, desto mehr befestigt sich die Ueberzeugung, daß die Tage vom 8., 9. und 10. Juli in München eine Prunkentfaltung sehen werden, wie kaum je zuvor. [...] Die Sammlungen nehmen einen erfreulichen Fortgang, wenn auch zu wünschen wäre, daß das Tempo des Eingangs ein etwas rascheres wäre, damit das Finanzkomité seine Einzelpläne genau feststellen kann.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 39, Nr. 148, 28.5.1886, S. (1)]“ des | alten Ludwig getroffen, aber das
Publicum verhält sich ziemlich kühl dem gegenüber. Man spottet allgemein
darüber, daß bei jedem Ladenfenster „Sammelstelle für die Ludwigsfeier“
angeschrieben steht; die Beiträge fließen nur äußerst S/s/pärlich und
von Begeisterung ist natürlich keine Rede. Zudem fürchtet man bei dieser
Gelegenheit allgemein Demonstrationen von Seiten der Socialisten und die
bevorstehenden Landtagswahlen werden wol nicht unbeeinflußt bleiben von dem
Wechsels des
Ministeriumsdie Landesregierung des Königreichs Bayern, bestehend aus dem vom König berufenen Ministerrat unter Vorsitz von Johann von Lutz., der wol in nächster Zeit erfolgen wird. Denn die AddresseSchreibversehen, statt: Adresse. Das bayerische Staatsministerium hatte „sich unter dem 6. d. M. veranlaßt gesehen, sich mit einer die beklagenswerthen Mißstände der k. Kabinetskasse und deren unabwendbare Folgen offen darlegenden Eingabe an Se. Maj. den König zu wenden und demselben ehrfurchtsvoll anheimzugeben, die unhaltbar gewordenen Zustände der k. Kabinetskasse durch ein Abkommen mit den dringendsten Gläubigern und weise Sparsamkeit – Einstellung der kostspieligen Bauten, Beschränkung der Hofstäbe u. s. w. – aus eigener allerhöchster Initiative zu saniren. ‚Eine Antwort Sr. Majestät auf diese ebenso ehrfurchtsvolle als entschieden freimüthige Vorstellung des Gesammtstaatsministeriums ist, soviel wir vernehmen, bis zur Stunde (gestern Nachmittag) noch nicht eingetroffen“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 39, Nr. 131, 11.5.1886, S. 1]., die
dasselbe an den König gerichtet hat, wird jedenfalls einfach unbeantwortet |
bleiben. Schon seit länger als einem Jahr ist der K. jetzt nicht mehr hier in München gewesen, während
er doch die Verpflichtung hat, sich so und so lang im Lauf des Jahres hier
aufzuhalten. Das
Theater ist freilich herzlich froh darüber; es gibt keine SeparatvorstellungenDie Presse berichtete: „(Privatvorstellungen für Se. Maj. den König) werden, wie wir soeben vernehmen, nach neuester Bestimmung nicht stattfinden. Daß diese Aufführungen im hiesigen Hoftheater vor ich gegangen wären, erwähnen wir nur deßhalb, weil ein hiesiges Blatt als Schauplatz für dieselben gestern das neue Schloß ‚Schwanstein‘ bezeichnet hat.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 39, Nr. 126, 6.5.1886, S. 2],
die oft bis Morgens um vier dauerten. Im Orchester machte Einer dem/n/
Vorschlag, wenn er wiederkäme, so wolle man ihm eine Kamusikwohl Wortspiel aus k. Musik (für königliche Musik) und Katzenmusik. bringen. Aber die
Entscheidung rückt in dessen immer näher und endlich muß es doch zu einem Ausbruch kommen; darüber
sind sich Alle klar. ––
Schließlich bleibt es mir noch übrig, d/D/ir für das
Geld zu | DankenSchreibversehen, statt: danken., das ich richtig erhalten habe. Ich bin so frei und lege hier
einige Zeilen an Matinicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 28.5.1886. bei, die mir schon so oft geschrieben hat. An Mama meinen
herzlichen Dank für ihren lieben Brief. Mit tausend Grüßen vor allem an Dich,
lieber Papa, und auch an die Anderen bin ich Dein treuer Sohn
Franklin.