München,
im Februar 1912.
Hochverehrliche Redaktion!Bisher galt: „An welche Zeitungsredaktion der Brief gerichtet war, konnte nicht nachgewiesen werden.“ [KSA 5/III, 312] Es darf angesichts der Formulierung „Ihrer vielleicht schon über Gebühr erbetenen Gastlichkeit“ (siehe unten) aber angenommen werden, dass Wedekind an die Redaktion der „Münchner Neuesten Nachrichten“ geschrieben hat; die „Münchener Zeitung“ ist weniger wahrscheinlich, wobei jedenfalls davon auszugehen ist, dass eine Wedekinds Angelegenheiten gegenüber wohlwollend eingestellte Zeitung in München adressiert war.
Wollen Sie mir gestatten, es Ihrer vielleicht schon über
GebührWedekind hat im Zusammenhang mit Zensurmaßnahmen gegen ihn wenige Monate zuvor in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ zwei maßgebliche offene Briefe in der Sache veröffentlichen können – die das Verbot von „Oaha“ (siehe unten) betreffenden „Drei Fragen von Frank Wedekind“ [vgl. Wedekind an Münchner Neueste Nachrichten, 20.9.1911], die er allerdings auch anderen Zeitungen angeboten hat, sowie vor allem die erst unlängst veröffentlichten „Sieben Fragen“ an den Münchner Zensurbeirat [vgl. Wedekind an Münchner Neueste Nachrichten, 28.12.1911], die eine große Presseresonanz hatten. erbetenen Gastlichkeit anheimzustellen, beiliegenden Zeilen einen PlatzDie Glosse „Ein Monomane als Censor“ (1912) ist weder in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ noch in einer anderen Zeitung gedruckt nachweisbar; sie wurde „wohl nicht gedruckt.“ [Kutscher 3, S. 48]
in Ihrem geschätzten BaltteSchreibversehen, statt: Blatte. zu überlassen.
Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochschätzung
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
Ein Monomane als Censor.
Die vielfachen unverständlichen, von der Münchner
Censurbehörde in den letzten Monaten getroffenen MassnahmenZensurmaßnahmen, insbesondere „Franziska“ und „Oaha“ betreffend (siehe unten). finden plötzlicjSchreibversehen, statt: plötzlich.
eine ebenso einleuchtende wie überraschende Erklärung. Es unterliegt kaum mehr
einem Zweifel, dass das Censoramt, ohne dass natürlich die Münchner
Polizeidirektion eine Ahnung davon hat, in den Händen eines MonomanenWedekind hatte wohl speziell Dr. jur. Dietrich Bittinger im Blick, der für die Theaterzensur „zuständige Referent des Polizeipräsidenten Julius Freiherr von der Heydte“ [KSA 8, S. 605], den er zu der „Franziska“-Lesung am 16.11.1911 im Hotel Vier Jahreszeiten (siehe unten) eingeladen hatte [vgl. Wedekind an Dietrich Bittinger, 27.10.1911]. Dietrich Bittinger hatte 1907 die Gründung des Münchner Zensurbeirats angeregt und organisiert [vgl. Meyer 1982, S. 69f.] und übte eben die Tätigkeit „des Preßreferenten und Theaterzensors der Polizeidirektion“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 528, 11.11.1911, General-Anzeiger, S. 12] aus. liegt.
Die Tatsachen sind folgende:
In Wedekind’s
meinem „Mysterium“ „Franziska“ treibt ein AbenteurerpaarFranziska und Veit Kunz, die Hauptfiguren in Wedekinds „Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten“ (1912). sein
Spiel mit einem Frauenschicksaldem Schicksal der Sophie, Figur in „Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten“ (1912)., eine Voraussetzung, die dem
Verfasser dazu dient, um mit ihrer Hülfe zu zeigen mit deren Hülfe ich zeige zu zeigen suche, wie sehr sich menschliche Leidenschaft, auch wenn sie
sich der edelsten vornehmsten Ziele bewusst ist, mit der Vernunft in
Widerspruch setzen kann. Der Passus, in dem dieses Thema kurz besprochen wird,
hat folgenden Wortlaut: |
Franziska:
Aberab hier Zitat von drei Repliken aus der Szene II/4 (3. Bild), die in der Buchausgabe „Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten“ (1912) lauten: „FRANZISKA Vorderhand verzichte ich noch darauf. Aber Sophie muß jetzt endlich von ihrem Jammer erlöst werden. Es ist die allerhöchste Zeit, daß sie zur Ruhe kommt. Ich spiele sonst einfach nicht mehr mit! / VEIT KUNZ Aber Franziska! So rasch ist deine Spielwut befriedigt! – Oder bildest du dir vielleicht ein, du habest schon alles gelernt, was es aus diesem Spiel für dich zu lernen gibt? / FRANZISKA Ich sehne mich nach lustigeren Spielen. Ich will und kann sie nicht länger quälen. Sie hat ihr Geschick so tapfer ertragen, wie ich das früher bei einem Weibe nie für möglich gehalten hätte.“ [KSA 7/I, S. 259f.] Sophie, mussSchreibversehen, statt: Sophie muss. jetzt endlich von ihrem Jammer erlöst werden. Es ist die
allerhöchste Zeit, dass sie zur Ruhe kommt. Ich spiele sonst einfach nicht mehr
mit.
Veit Kunz: Aber Franziska! So rasch ist deine
Spielwut befreidgtSchreibversehen, statt: befriedigt.! Oder bildest Du dir vielleicht ein, du habest schon alles
gelernt, was es aus diesem Spiel für dich zu lernen gibt?
Franziska: Ich sehne mich nach lustigeren Spielen.
Ich will und kann sie nicht länger quälen. Sie hat ihr Geschick so tapfer
getragen„ertragen“ [KSA 7/I, S. 260] 1912 in der Buchausgabe von „Franziska“ (siehe oben)., wie ich das früher bei einem Weib nie für möglich gehalten hätte.
Dieser Absatz wurde dem Autor mir, als er sein ich das Drama im VierjahreszeitensaalWedekind las sein Stück „Franziska“ am 16.11.1911 „in toto“ [KSA 7/II, 1155] im Saal des Hotels Vier Jahreszeiten in München (Maximilianstraße 4) vor. Die Presse hatte gemeldet: „Frank Wedekind beabsichtigte am 16. November im Jahreszeitensaale sein neues ernstes Drama ‚Francisca‘ – ein modernes Mysterium, öffentlich vorzulesen. Da der Dichter zur Zeit noch an seinem eben vollendeten Werke feilt, war er nicht in der Lage, das Manuskript bei der Anmeldung der Vorlesung der Polizeibehörde zur Zensur vorzulegen, und aus diesem Grunde ist nun ein Verbot der öffentlichen Vorlesung erfolgt. Uebrigens wird sich Wedekind nicht abhalten lassen, sein Werk doch vorzulesen, wenn auch nur vor einem geschlossenen Kreis von Zuhörern, die er durch das Konzertbureau Emil Gutmann einladen läßt.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 510, 31.10.1911, Morgenblatt, S. 8] Die Lesung wurde nach Anhörung des Zensurbeirates von der Münchner Polizeidirektion am 14.11.1911 genehmigt, nachdem das Konzertbüro Emil Gutmann bei der Polizeidirektion München am 30.10.1911 angefragt hatte: „Wir erlauben uns anbei das uns soeben zugekommene Manuskript der neuen Wedekind’schen Dichtung ‚Franziska‘, ein modernes Mysterium, zu übermitteln mit dem Ansuchen, uns eine Entscheidung, ob das Werk am 16. November im Jahreszeitensaal vom Autor öffentlich vorgelesen werden darf, baldigst bekannt zu geben.“ [KSA 7/II, S. 1162] Entsprechend kurzfristig war angekündigt: „Heute finden statt: Im Jahreszeitensaal abends 8¼ Uhr die Vorlesung Frank Wedekind, der sein neues fünfaktiges Drama ‚Franziska ‒ Ein modernes Mysterium‘ aus dem Manuskript vorträgt“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 536, 16.11.1911, Morgenblatt, S. 3]; das Konzertbüro Emil Gutmann hat für Wedekinds Lesung am 16.11.1911 um 20.15 Uhr im „Jahreszeitensaal“ annonciert: „Aus dem Manuskript: ‚Franziska‘ Ein modernes Mysterium. (Vollständige Rezitation der neuen, fünfaktigen Bühnendichtung bis auf einige von der Polizei bedungenen Streichungen)“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 534, 15.11.1911, Morgenblatt, S. 3]. Richard Elchinger besprach die gut besuchte Lesung: „Am Vorlesetisch des großen, dichtbesetzten Jahreszeitensaales erschien gestern Abend Frank Wedekind, um sein neues, dramatisches Werk, betitelt: Franziska ein modernes Mysterium in fünf Akten, vorzulesen.“ [E.: Der neue Wedekind. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 539, 18.11.1911, Vorabendblatt, S. 3] in München vorlesen wollte,
von der Censur gestrichen. Ueberraschend war mir dabei, dass der Censor die Worte: „Spiel“, „Spielen“ und
„Spielwut“ ganz besonders dick mit dem Rotstift unterstrichen
hatte, offenbar, um sie als den Grund der vorgenommenen Verstümmelung zu
kennzeichnen. Und weiter, dass der Censor i/I/n dem
ganzen darauffolgenden Text des Stückes hatte der Zensor nicht die geringste Stelle mehr als für die Vorlesung
ungeeignet beanstandet hatte. Ich frage nun: Woher soll nun ein Autor heute noch wissen, gegen welche Worte der deutschen Sprache der
Münchner Censor keine persönliche IdiosynkrasieÜberempfindlichkeit. hegt? Liesse sich von der
Münchner Censurbehörde nicht im Ernste verlangen, dass sie zum Handgebrauch für
Schriftsteller ein Vocabularium derjenigen deutschen Worte veröffentlicht,
denen sie keine unpassende Bedeutung unterschiebt? |
Dass ein erneuter GesuchsSchreibversehen, statt: erneutes Gesuch. – Nachdem Georg Stollberg, Direktor des Münchner Schauspielhauses, am 19.4.1911 die Münchner Polizeidirektion vergebens um Freigabe von „Oaha“ ersucht hatte, stellte Eugen Robert, Direktor des Münchner Lustspielhauses, einen Antrag auf eine öffentliche „Oaha“-Aufführung in München [vgl. KSA 8, S. 606], der abgelehnt wurde (siehe unten). Wedekind’s, ihm mir die
Aufführung seiner meiner ausgesprochen antirevolutionären Komödie „Oaha“
freizugebenDas schon bestehende Verbot der öffentlichen Aufführung von „Oaha“ (1908) wurde am 16.11.1911 von der Münchner Zensurbehörde erneuert [vgl. KSA 8, S. 606]., von der Behörde abschlägig beschieden wurde, darüber wundertSchreibversehen (irrtümlich nicht korrigiert), statt: wundere. er sich ich mich jetzt absolut nicht mehr.
Frank Wedekind.