München,
im Mai 1885 –
Liebe
Mama.
Jetzt hab’ ich schon drei liebe BriefeSeit Wedekinds Geburtstagsbrief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1885] ist von der Mutter lediglich ein Briefzitat überliefert [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 27.5.1885], so dass zwei weitere Briefe zu erschließen sind: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.4.1885 und 9.5.1885. auf
von Dir auf Lager und will sie demnach der chronologischen Reihenfolge nach
getreulich beantworten. Vor allem aber für alle Drei meinen herzlichsten Dank
und der aufrichtige Wunsch, es möchten Dir meine Briefe eben so großes Vergnügen bereiten, wie die
Deinigen mir, denn als dann müßtest du manche frohe Stunde haben. Aufrichtig
gestanden, ich übertreibe min/t/ keiner Sylbe,:
Deinen letzten Brief hab’ ich vor heller Freude abgeküßt, als ich | noch kaum
die erste Seite herunter gelesen hatte. Das war aber auch ein ä/e/chter
impulsiver Herzenserguß, den nicht irgend eine Gelegenheit, ein geschäftliches
Bagatell zu verantworten hatte, sondern der aus dem reinen Drang nach
Mittheilung, nach Entlastung der übervollen Seele geflossen ist. Und nun soll ich dich also tadeln,
weil du von der RectoratsgeschichteDie näheren Umstände sind nicht ermittelt; Wedekind erwähnte die Geschichte bereits in seinem Neujahrsbrief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884]. geschwatzt hast? – Aber was denkst du denn
von mir, liebe Mama,/?/ e/E/s hat mich selten etwas so gefreut,
wie dieser scharfe Streit zwischen den Schlichen des Jesuitismus und der
Frömmelei und dem unerschrockenen Muthe von Wahrheit und Gerechtigkeit, den Du so rühmlich ausgekämpft
hat/s/t. Und wie singt doch der alte Heide, der universalmenschSchreibversehen, statt: Universalmensch. Göthe,
obschon er sonst nicht gerade dein Freund ist: „Nur die LumpenZitat aus Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Rechenschaft“ (1810), das zum geflügelten Wort avanciert war: „Nur die Lumpe sind bescheiden, / Brave freuen sich der That“ [Büchmann 1879, S. 90]. sind bescheiden,
Gute freuen sich der That[“], und darin hat er meiner unmaßgeblichen | Ansicht
nach vollkommen Recht, denn es scheint mir das Zeichen eines kleinlichen
Geistes zu sein, wenn man nicht einmal den Muth hat, zu seinen guten Seiten zu
stehen, geschweigen denn zu seinen S/s/chlechten. Treten a/d/och
auch die alten Helden im Homer jeweilen mit den Worten auf: „Ich rühme mich, der und
der zu sein und dies und jenes vollbracht zu haben.“ Ich selber bin ja, du
weißt es, durchaus kein Freund von Selbstüberhebung, aber dennoch glaube ich,
daß die Rücksichtschinderei, die vielen leeren Phrasen und gegenseitigen
Unwahrheiten, die man sich heutzutage auf Schritt und Tritt ins Gesicht sagen
muß, nicht des Geringsten wenig daran schuld sind, daß alle Welt seine
Naivetät verloren hat und kein Mensch mehr im Stande ist, natürlich zu denken
und zu empfinden. –– Ob Herr Gymnasiallehrer Schneidewin in Hameln selber auch
ein PessimistDer Latein- und Griechisch-Lehrer Max Schneidewin hatte unter anderem auch zum philosophischen Pessimismus publiziert, darunter der Essay „Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann“ [in: Drei populär-philosophische Essays. Hameln 1883, S. 3-25]. Außerdem hatte er das Buch „Lichtstrahlen aus Ed. v. Hartmann’s sämmtlichen Werken“ (1881) herausgegeben und mit einer Einleitung versehen, das Wedekind 1881 von seiner ‚philosophischen Tante‘ Olga Plümacher zum 17.Geburtstag geschenkt bekommen hatte [vgl. Kutscher 1, S. 46]. ist, weiß ich nicht; aber ich weiß, daß er Lichtstrahlen aus E v. Hartmanns Werken herausge|geben hat und deshalb wol auch in irgend
welcher persönlichen Beziehung zu ihm stehen wird. Immerhin freut es mich
ungemein für Fra/Tan/te Plümacher, daß jener Mann ihren ja gewiß
verdienten Ruf verbreiten hilftOlga Plümachers Beschäftigung mit Eduard von Hartmann schlug sich in den beiden philosophiehistorischen Monographien „Der Kampf um’s Unbewusste“ (Berlin 1881) und „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches“ (Heidelberg 1884) nieder. Diese Publikationen veranlassten Max Schneidewin zu seinem Aufsatz „Eine phänomenale Frau“ [Hannoverscher Courier, Jg. 32, Nr. 13448, 1.5.1885, Morgen-Ausgabe, S. (1)-3], in dem er bekannt machte, „daß sich jüngst eine Frau auf dem der Frauennatur fernab liegenden Gebiete der strengen Philosophie durch ganz hervorragende Leistungen einen Lorbeerkranz gewunden hat“ [S. 1], da „diese Frau sich als vollständige Beherrscherin der einschlägigen philosophischen monographischen Literatur erweist“ [S. 3]. Und obwohl Schneidewin sich „der gewaltigen Kämpferin O. Plümacher“ für den Pessismismus nicht anschließen will, hebt er nachdrücklich „die Phänomenalität der Geisteskraft und der Leistungen dieser Frau“ [S. 3] hervor. Im Herbst setzte er seine Auseinandersetzung mit Olga Plümacher in seinem Aufsatz „Zur populären Orientierung über den modernen philosophischen Pessimismus“ [Hannoverscher Courier, Jg. 32, Nr. 13638, 20.10.1885, Abend-Ausgabe, S. (1)-2 und Nr. 13639, 21.10.1885, S. 5-6] fort. In einer späteren Rezension betonte er dann noch einmal das „märchenhafte und nie dagewesene Genie einer Olga Plümacher für die schwierigsten und abstrusesten Fragen der Weltweisheit“ [Hannoverscher Courier, Jg. 39, Nr. 17669, 1.6.1892, Abend-Ausgabe, S. (1)].. Aber vielleicht rechnet er auch darauf, daß
die phänomänaleSchreibversehen, statt: phänomenale. Frau
über kurz oder lang einen phänomänalen Mann in der ZeitenSchreibversehen, statt: in der Zeitung. proclamirt. „Wenn du
michvielfach verbreitetes Zitat der Schlussverse aus Heinrich Leutholds Gedicht „Auf Gegenseitigkeit“ (1872): „Und wenn du mich mit Goethe vergleichst, /Vergleich’ ich dich mit Lessing.“ [Heinrich Leuthold: Gedichte. Frauenfeld 1879, S. 103] mit dem Göthe vergleichst, vergleich ich dich mit dem Lessing.“ schreibt
Leuthold und warum sollen sich auch die Literaten nicht gegenseitig aufhelfen
und beistehen? Nur ist es für das superiorere Genie halt immer ein schlechter
Tausch. –– Mir geht es hier in München soweit sehr gut. Umgang hab’ ich nicht viel aber
dafür um so gewählteren. Letzten Mittwocham 27.5.1885. sah und hörte ich zum zweiten MaleMozarts Oper „Figaros Hochzeit“ (1786) wurde am 27.5.1885 am Königlichen Hof- und Nationaltheater München aufgeführt; Emilie Herzog sang den Cherubin. Zum ersten Mal hat Wedekind die Oper dort am 11.12.1884 oder am 29.1.1885 sehen können.
Figaros Hochzeit und nächsten Donnerstagam 4.6.1885. wird die ZauberflöteDie Aufführung von Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ (1791) fand am Königlichen Hof- und Nationaltheater München nicht am Donnerstag, sondern erst am Sonntag, den 7.6.1885 statt; Emilie Herzog sang die Papagena. gegeben. Das ist
mir doch die liebste Musik trotz aller Virtuosität | Kraftgenialität, Sentimentalität
und Frivolität anderer jüngerer Meister. Solch’ schöne, reine, lebensfrohe
Klänge zu vernehmen ist doch der höchste musikalische Genuß den ich mir denken
und verstehen kann. Jüngst las ich auch das Leben Mozartsvermutlich die populäre Mozart-Biographie von Ludwig Meinardus, der in seiner Einleitung schrieb, Mozarts „Lebensdrama“ habe „das Gepräge einer Tragödie“ [Ludwig Meinardus: Mozart. Ein Künstlerleben. Berlin, Leipzig 1883, S. VIII]., eine erschütternde
Tragödie, die mich mehr ergriffen hat, als irgend eine auf der Münchner
Hofbühne. – Herrn Glinzmöglicherweise Theophil Glinz, der seit 1882 Zeichen- und Turnlehrer an der Bezirksschule in Lenzburg war., katzenmusikalischen Angedenkens, sah ich allerdings
eine Zeit lang hier in den Straßen herumschnüffeln und traf ihn auch öfters im
Theater an. Da ich ihm aber schon das erste Mal keine Gelegenheit gab, sich mir
zu nähern, so sahen wir auch in der Folgezeit an einander vorbei, ohne uns zu
bemerken. – Und nun grüße ich Dich, liebe Mama, von ganzen Herzen, und auch die
andern alle, besonders Doda, den kleinen großen Don Chuan, und verbleibe
indessen Dein treuer Sohn Franklin. – |
P.
S. Die Socken hab’ ich
richtig erhaltenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.4.1885. Die Mutter hatte sich zuletzt nach dem Verbleib der Socken erkundigt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 27.5.1885].. Meinen besten Dank dafür, ich trage sie schon über einen
Monat lang.