München, 7 V.85.
Liebe Mama,
Zürnst du mir wol noch von letztem Herbstevgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 12.11.1884. Die näheren Umstände der Unstimmigkeiten sind nicht ermittelt. her, wegen meiner
peinlichen unartigen Erörterung? Bitte, liebe Mama, verzeih mir; ich darf es ja
sonst gar nicht wagen, dir heuer wieder zu gratulirenzu Emilie Wedekinds 45. Geburtstag am 8.5.1885.. Ich weiß wol, es war
nicht schön von mir, aber Du hattest mich auch nicht recht verstanden, nachdem ich dich mißverstanden
hatte und so kam die traurige Scene zu Stande. Nicht wahr, ich darf jetzt davon
abbrechen und du willst mir die Sache vergessen. Nimm meinen herzlichen Dank
dafür. Die VerseÜber das Zustandekommen der beigelegten Verse (s. u.) zum Geburtstag der Mutter berichtete Wedekind seinem Vater [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 29.5.1885]. | die ich Dir beilege, sind nicht so schön geworden, wie die
letztjährigenDas Gedicht „Meiner Mutter“ [KSA 1/I, S. 174 und KSA1/II, 1885f.]., aber dafür um so ungekünstelter und verständlicher. Sie kommen
recta(lat.) geradewegs, direkt. aus dem Herzen, und das ist doch die Hauptsache. Allem nach was hier in
München dem Wetter abzusehen ist, wird morgen, an deinem Geburtstag wol auch in
Lenzburg die Sonne nicht scheinen; aber wenn sie’s nur den Sommer hindurch um
so mehr thut, innen und außen, dann wird auf Deinem Angesicht, wo sich
nothwendiger Weise der innere und der äußere Sonnenschein treffen und begegnen
müssen, h
ununterbrochen helle Freude liegen. Das ist doch das höchste Glück, das dem
Menschen begegnen kann und das wünsch ich dir mit aufrichtiger Seele. Und so
viele Wolken auch am Himmel steht/en/ (Regenwolken, Schneewolken,
Gewitter- | und Hagelwolken!) Der/ie/ eine Sonne möge sie alle vertilgen
und wenn noch ein wenig Biswind„kalter Nord- bzw. Ostwind“ [Schweizerisches Idiotikon 16, S. 620]., Deine stramme Energie, dazu kommt und
aufräumt, wenns Noth thut, dann wirds schon gut gehn, wenigstens muß man immer
das Beste hoffen. ––
Armin hat mirvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.4.1885. viel von Euch, Examia(griech.) Prüfungen; die öffentlich stattfindenden jährlichen Schulprüfungen, an denen Wedekinds Schwester Emilie (Mati) teilnahm., Marielinicht sicher identifiziert, möglicherweise Marie (Mary) Gaudard, Schwester von Blanche Zweifel-Gaudard, die auch „Mitglied des Dichterbundes Fidelitas (gegr. 1883), dem Anny Barck, Minna von Greyerz, Franklin und Armin Wedekind angehörten“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 69], war. e ct. geschrieben und
vom Papa erhielt ich dann auch noch Nachrichtenvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 29.4.1885.. Hier in München ist es
gegenwärtig ein wenig einth/ö/nig, da der König das Hoftheater immer
noch für sich in BeschlagLudwig II. nahm das Haus mehrmals im Jahr für Separatvorstellungen in Anspruch. Vom 23.4.1885 bis 13.5.1885 fanden daher am Königlichen Hof- und Nationaltheater München keine öffentlichen Vorstellungen statt [vgl. Almanach des Königl. Hof- und National-Theaters zu München für das Jahr 1885. Hg. v. Anton Hagen. Jg. 15. München 1886, S. 24]. Die Presse berichtete: „Am 23. April schließen sich die Räume des k. Hoftheaters da an diesem Tage die Separatvorstellungen für Se. Majestät den König beginnen, die bis 11. Mai dauern werden. Auf dem Repertoire steht Wagner’s ‚Parsival‘, der vor Sr. Majestät dreimal zur Aufführung gelangt, welche Vorstellungen mit ‚Theodora‘ von Sardou, der indischen Dichtung ‚Urwasi‘ und ‚Narziß‘ abwechseln sollen.“ [Deutsches Wochenblatt, Jg. 1, Nr. 12, 26.4.1885, S. 5] An anderer Stelle wurde als Repertoire gemeldet: „26., 27. April: ‚Parsifal‘, 28. ‚Eine deutsche Fürstin‘, 29. ‚Parsifal‘, 30. ‚Deutsche Fürstin‘. 1. Mai: ‚Tell‘, 2. ‚Voltaire‘, 4. und 5. ‚Theodora‘, 8. ‚Urvasi‘, 9. ‚Narziß‘, 10. wie 8., 11. ‚Genius des Ruhmes‘.“ [Neue Augsburger Zeitung, Nr. 101, 1. Mai 1885, S. 1]. Der Generalintendant des Hoftheaters, Karl von Perfall, nannte später folgendes Programm: am 26., 27. und 29.4.1885 „Parsifal“, am 28. und 30.4.1885 „Eine deutsche Fürstin“, am 1.5.1885 „Wilhelm Tell“, am 2.5.1885 „Voltaire“, am 4., 5. und 10.5.1885 „Theodora“, am 8. und 12.5.1885 „Urvasi“, am 9.5.1885 „Narziß“ und am 11.5.1885 „Der Genius des Ruhms“ [vgl. Karl von Perfall: Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Theater in München. 25. November 1867 – 25. November 1892. München 1894, S. 243f.]. hält. Er läßt sich dort sein EigengewächsLudwig II. gab für die Opern und Theaterstücke der Separatvorstellungen detaillierte Anweisungen zur Gestaltung aufwändiger Bühnenbilder und Kostüme. Zwischen 1872 und 1885 veranstaltete er 209 Separataufführungen, zum letzten Mal im Frühjahr 1885. aufführen,
wovon ihm jeder Act
circa auf 60000 M
zu stehen kommt. Gestern sah ich im Residenztheater die weiße DameFrançois-Adrien Boieldieus komische Oper „Die weiße Frau“ (1825) wurde am 6.5.1885 am Münchner Residenztheater gespielt. Emilie Herzog sang die Jenny., die mir
sehr gut gefiel, besonders wegen des zarten duftigen Hauches der bei aller
Naivität und fern von aller Sentimentalität über den/r/ ganzen Musik liet/g/t.
| Auch der Barbier von SevillaGioachini Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ (1816) wurde zuletzt am 3.5.1885 am Münchner Residenztheater gegeben. gefiel mir sehr gut, während dem ich Rossinis
TellGioachini Rossinis Oper „Guillaume Tell“ (1829) war am 1.1.1885 am Königlichen Hof- und Nationaltheater aufgeführt worden. nicht besuchen mochte, aus demselben Grunde, wie/der/ Wagner davon
abhielt ihn zu componiren, RespectFriedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ zählte Richard Wagner, neben Goethes „Faust“ zu den „zwei Höhepunkten“, zu denen „sich das deutsche Genie“ erhoben hatte. „Der idealistische Schiller erreichte ihn in der Tiefe des ruhig sicheren Kernes der deutschen Volksnatur […], vom Untergange bis zum hoffnungsvollen Aufgange der Sonne edler deutscher Menschlichkeit gelangend.“ [Wagner-Encyklopädie. Haupterscheinungen der Kunst- und Kulturgeschichte im Lichte der Anschauung Richard Wagners. In wörtlichen Anführungen aus seinen Schriften dargestellt von C. Fr. Glasenapp. Bd. 2, Leipzig 1891, S. 137] Gioachinos Rossinis großen Opern-Erfolg mit seinem „Guillaume Tell“ in Paris (1829) betrachtete Wagner daher skeptisch und fragte, „ob man es sich unterstehen dürfe, dem Deutschen seinen ‚Tell‘ als übersetzte französische Oper zu bieten […] Jeder Deutsche, vom Professor bis zum untersten Gymnasiasten hinab, selbst die Komödianten, […] fühlten die Schmach, die ihnen mit der Vorführung dieser widerlichen Entstellung ihres eigenen besten Grundwesens geschah“ [ebd., S. 338]. vor unserm lieben guten Friedrich Christof
Schiller. Umgang hab’ ich jetzt eigentlich hier sehr wenig, unter Studenten
fast gar keinen, dagegen lernt’ ich einige HofmusiciIn einer Namensliste seiner Bekannten im Münchner Tagebuch verzeichnete Wedekind: „Franz Bennat, Kgl. Kammermusiker. Fritz Hilpert, Cellist […] Penzl Bratschist. Hoffmann Bratschist und Sänger v. Dietrich Bratschist. Kotschenreuter Posaunist Lander Violinist. Brunner Posaunist Scherzer Flötist. Skerle Harfenist aus Graz Ölgertner Geiger Neubert Trompeter Lehaer Ranftler“ [Tb München, S. 56f.], die sich als Mitglieder der Königlichen Hof-Kapelle belegen lassen. Es handelte sich um die Violoncellisten Franz Bennat (Schellingstr. 26/1) und Friedrich Hilpert (Theresienstr. 7/2), die Bratschisten Franz Xaver Penzl (Promenadeplatz 4/2 rechts), Max Hofmann (Reichenbachstr. 40/1) und Richard v. Ditterich (Kanalstr. 64a/2), die Posaunisten Johann Brunner (Theresienstr. 13/4 Rückgeb.) und Georg Kotschenreuther (Schellingstr. 36/3 rechts), den Flötisten Josef Scherzer (Schellingstr. 21/2 links), den Harfenisten August Skerle (Hildegardstr. 14½/3), den Trompeter Johann Neupert (Glückstr. 4/2) sowie die Geiger Christof Lehner (Jägerstr. 10/3 rechts), Anton Oelgärtner (Ludwigstr. 17a/3), Friedrich Sander (Heßstr. 36/2) und Karl Ramstler (Amalienstr. 21/1) [vgl. Almanach des Königl. Hof- und National-Theaters und des Königl. Residenz-Theaters zu München für das Jahr 1885. Hg. v. Anton Hagen. Jg. 15. München 1886, S. 14-17]. kennen, sehr nette Leute
von gediegner Bildung, jen/d/er von interessant ausgeprägter Individualität,
Alle begeistert für ihre Kunst mit e/ä/chtem schaffenslustigem Ernste
und als rechte Künstler von weitenSchreibversehen, statt: von weitem. Horizonte. Es ist doch recht eigenthümlich, daß die
Bühnenwelt beinah so groß ist wie die ganze übrige Welt; hier in München ist
sie fast noch größer aber das hängt hä/a/lt mit den Verhältnissen
zusammen. Ich wandere jetzt jeden Morgen um | 7 Uhr ins CollegWedekind war als Jurastudent an der Ludwig-Maximilians-Universität eingeschrieben. Seinem Vater hatte er zuletzt über die besuchten Veranstaltungen berichtet [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.4.1885]. und bleibe 4 Mal
in der Woche bis um 12, 2 Mal bis um 10 Uhr. Die regnerischen Nachmittage
verbring ich auf der Bibliothek oder zu Hause. Wenn Du Frau Jahn sehen
solltest, so richt’ ihr meine besten Empfehlungen aus, wenn Du so gut sein
willst. Ich hab ihr einen längeren Briefvgl. Wedekind an Bertha Jahn, 12.4.1885. geschrieben aber sie scheint auch viel
zu thun zu haben. – Papa laß ich herzlich DankenSchreibversehen, statt: herzlich danken. für seinen Brief und die
Beilagenvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 29.4.1885. Bei den Beilagen handelte es sich um „Coupons“, die Wedekind bei der Bank gegen Geld eintauschen konnte, um seine Studienkosten zu bestreiten.. Ich werde ihm bei nächstemwohl für: demnächst. extra schreiben und lasse ihn herzlich
grüßen. Ebenso Doda und die MaidlisWedekinds Schwestern Erika und Emilie (Mati).. Ich bleibe mit tausend Küssen Dein treuer
Sohn Franklin.
[Beilage:]
Meiner
lieben Muttervgl. KSA 1/I, S. 190-194 und KSA1/II, 1883-1885.
Zu ihrem Geburtstag 8.V.85.
von ihrem getreuen Sohne
Franklin. |
Wenn Lenzesodem über Feld und Flur
Und in der Bäume hohen Wipfeln webet,
Und wenn an allen Enden die Natur
Zur vollsten Pracht sich zu entfalten strebet,
Dann reget auch in mir sich neuer Muth,
Es schwillt das Herz von seligen Gefühlen,
In raschern Pulsen fließt mein junges Blut;
Und wie in stiller, kalter Meeresfluth
Auf ein Mal wilde Frühlingsstürme wühlen,
So brausen durch die unbewachte Brust
Begeisternd alle himmlischen Gewalten,
Bis Schaffensdrang und süße Lebenslust
Zu frischem, frohem Sange sich gestalten: |
Hinaus
in’s Freie
Treibt mich mein Sinn;
Dort herrscht die Weihe
Der Königin,
Die
längst mich schauen
Und finden ließ
Auf grünen Auen
Ein Paradies,
Die
mich ließ träumen,
Wie junge Kraft
Aus dichten Bäumen
Den Himmel schafft;
Sie,
meine traute,
Geliebte Braut,
Die ihre Laute
Mir anvertraut, |
Mir
zugewendet
Ihr Antlitz hold;
Und was sie spendet,
Ist lautres Gold;
Die mir
die Wonne
Des Sanges lieh,
Sie, meine Sonne,
Die Poesie. ––
Wo
klare Wellen
Dem tiefen Schooß
Der Erd’ entquellen
Im weichen Moos,
Wo
unter Zweigen
Und jungem Laub
Sich Blumen neigen
Voll Blüthenstaub, |
Und wo die Kehlen
Der Vögel all’
Die Luft beseelen
Mit Jubelschall,
Da sitz’ ich gerne
In stiller Ruh,
Schau in die Ferne
Dem Süden zu.
Mein Sinnen lenk’ ich
Dann heimatwärts
Und Dein gedenk’ ich,
Lieb Mutterherz;
Wie Du uns geliebet
Gedenk’ ich Dein
Und bin betrübet
Dir fern zu sein. |
O, mög’ Dir tragen
Ein gut Geschick
In schönen Tagen
Noch manches Glück!
Mög’ es behüten
Die Pfade Dein,
Mehr Rosenblüthen
Als Dornen streun!
Und mög’ noch fächeln
Um Deinen Mund
Manch’ frohes Lächeln
Aus Herzensgrund!
Und wenn zu Zeiten
Dein Auge feucht,
So sei’n es Freuden,
Die Dich erweicht. |
Daß süßer Frieden
Im Herz Dir ruht,
Sei Dir beschieden
Als höchstes Gut! ––
Indeß mir so die Phantasie
Manch’ Bildniß zeigt aus alten Zeiten,
Und was einst Schönes mir gedieh,
Weiß freundlich vor mir auszubreiten,
Vergeß’ ich alles um mich her,
Nur Einem Traume hingegeben,
Als ob aus meinem Jugendleben
Ein Theil zurückgekehret wär’:
Denkst Du wol noch daran zurück,
Wie wir all’abendlich beim Lampenscheine
So manchen schönen Augenblick
Verplauderten in traulichem Vereine? |
Wie wir geschwatzt, verhandelt und gelacht,
Wol manchmal auch ein ernstes Wort geredet,
Da ich zum ersten Male mich entblödet,
Dir auszukramen, was mein Sinn gedacht?
O, damals hab’ ich kaum den Werth
Der schönen Stunden hoch genug geehrt.
Nur selten weiß der Mensch, was er genießet,
Zu schätzen schon im nämlichen Moment;
Oft, daß den Strom er kaum mit Namen kennt,
Der mächtig rauschend ihm vorüberfließet.
Doch ist er erst zu seinem Ziel gekommen,
So sagt er doch: „Ich sah den Rhein!
„Ich blickte tief bis auf den Grund hinein,
„Hab’ den Gesang der Nixen auch vernommen.
„Ich sah den Nibelungenhort
„Im lichten Glanz von Gold und Edelsteinen. –“
Und auch mein Aug’ erblickt e/i/hn, sollt’ ich meinen,
S/D/enn Gold und Edelstein war hier wie dort: |
Das Gold der ersten, eigenen Gedanken,
Das aus dem Herz mir quoll mit wilder Macht,
Noch ungemünzt, wie Erz aus Bergesschacht. –
Du sahst sie ungestüm zum Himmel ranken,
Und mit besorgter kluger Hand
Hast Du die losen Ranken mir umwunden,
Und hast mit einem starken Band
An manchen sichern Stamm sie festgebunden.
Das sind die Stellen, wo mit einem Mal
Die Pflanze brechen kann in schönster Blüthe;
Du stärktest sie mit innigem Gemüthe
Und durch die herzerhebendste Moral.
Und dieses nenn’ ich meine Edelsteine
Die erst zur Menschenwürde mich geweiht;
Mit meinem Gold in glänzendem Vereine
Sind sie des Lebens herrlichstes Geschmeid’. |
Sie bilden eine lichte Strahlenkrone,
Die ihren Träger wunderbar beglückt,
Die Du in trauter Stunde deinem Sohne
Mit liebevoller Hand auf’s Haupt gedrückt.
Und wie den König, der die Krone trägt,
So laß auch mich in Andacht Dir geloben,
Daß sich auf ihren Glanz kein Schatten legt,
So lang ein Herz in diesem Busen schlägt,
Von Dankbarkeit und Edelsinn gehoben. ––
[Kuvert:]
Frau Dr. Wedekind
auf Schloss Lenzburg
im
Schweizerland.
fr.