Zürich 19/0/.VI 87.
Liebe Mama,
warum ängstigst und quälst du dich wieder? Du hast doch gewiß
ohne das Sorgen die Fülle. Und nun gar meinetwegen, der ich das gar nicht recht
zu schätzen weiß. Rechne ich dazu die Sorge, die dir und um Hammis ExamenArmin Wedekind war im Frühjahr durch das Medizin-Examen gefallen und bereitete sich nun auf einen zweiten Versuch vor [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 9.3.1887]. in
gegenwärtiger Zeit erwachsen mag, so wirSchreibversehen, statt: so wird. es mir ganz schwindlig, in deinem
Namen. Ich versichre dich, das/ß/ ich an die unglückselige Marianne seit
acht | Tagen gar nicht mehr gedacht habe. Ich habe sie eingereichtWedekind hatte seine Novelle „Marianne. Eine Lebensgeschichte“ bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ eingereicht, erhielt aber eine Absage [vgl. Neue Zürcher Zeitung an Wedekind, 17.6.1887]., und wird
sie nicht würdig befunden, so reich ich sie wo andersNach der Absage der „Neuen Zürcher Zeitung“ reichte Wedekind seine Novelle bei der „Thurgauer Zeitung“ ein, von der er ebenfalls eine Absage erhielt [Thurgauer Zeitung an Wedekind, 20.6.1887]. ein. Etwas Geld muß sich
schließlich doch heraus schlagen lassen und das ist ja alles was ich damit bezweckt
habe. Du schreibst an CarlDie Korrespondenz zwischen Karl Henckell und Emilie Wedekind ist nicht überliefert., ich werde keine Ehre damit einlegen. Mag sein, aber
das genirt mich gar nicht, weil ich noch Zeit genug habe um Ehre einzulegen,
und geringer als die Ehre einer guten ReclameUm seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitete Wedekind seit November 1886 als Werbetexter für die Firma Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich. ist die Ehre einer schlechten
Erzählung gewiß nicht. Du siehst daraus, daß ich trotz allen Mißerfolgen an
meinem Können noch nicht verzweifle; wenn du mir nun darin nichts zu folgen
vermagst, was kann ich dir andres rathen als abzuwarten. Bist du aber auch dazu
zu kleinmüthig, so muß ich | dich bitten, die ganze Sache ein wenig leichter
aufzufassen. Du hast ja gesehen, daß ich mein Geld verdienen kann; ich habe mit
M. gebrochenWedekind hatte seine feste Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] der Firma Maggi und Co. im April gekündigt, arbeitete aber bis Juli noch auf Honorarbasis als Werbetexter für das Unternehmen. [vgl. Vinçon 1992, 121]., nicht
er mit mir und eine
Stelle wie jene oder an einer Redaction bleibt mir ja schließlich doch noch
übrig.
Elend und muthlos, wie du schreibstvgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1887., bin ich nicht. Ich habe
die Sache vom Halse und wandle erleichtert weiter. Das MauthierSchreibversehen, statt: Maulthier. sucht im Nebel
seinen WegZitat aus Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Mignon“ (1795): „Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg“.; bei GegenwindZitat aus dem Ersten Buch von Jean-Jacques Rousseaus „Emil oder Über die Erziehung“ (1762): „Bei Gegenwind muß man lavieren“ muß man laviren und lernen kann man dabei so gut wie auf directer Fahrt. So kommt
es nun doch wieder darauf hinaus, daß ich dich über mein eigenes Pech trösten
soll. Und ich thäte es ja gerne, wenn ich nur wüßte, daß es hilft. Immerhin
glaube ich aus meiner Erfahrung | schließen zu dürfen, daß ich einiges Talent
zu trösten besitze, und so wag ich auch in diesem Falle auf Erfolg zu hoffen.
Denke dir zum Exempel, wie wenig besorgt du um Willi bist, der doch gewiß schon kritischere Lagen in AmerikaWilliam Wedekind war am 24.4.1886 nach Amerika aufgebrochen [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.4.1886] und blieb dort bis 1888.
durchgemacht hat und jeden Augenblick wieder durchmachen kann. Und warum das?
Weil es der Zufall will daß du nun gerade meine Nöthen kennst und seine nicht. Denke
dir, wie du mich beurtheilen würdest, wenn ich mit etwas mehr Arroganz
auftreten würde und mir von niemandem ein Wort dreinreden ließe. Du würdest sagen, der wird seinen Weg schon
machen. Und doch ist es gewiß ja zu meinem Vortheil daß ich auf das Urtheil
anderer hof höre Und denke doch nur auch ein wenig daran, als was ihr
alle zusammen | mich früher betrachtet habt, als einen stinkfaulen Kerl, als
einen Achselträger„heuchler, der auf beiden achseln trägt“ [DWB 1, Sp. 164]., Lügner, kurz als ein ganz hoffnungsloses Subject. Liebe
Mama, ich sage dir das alles nicht aus Rancune(frz.) Groll, Feindschaft., denn ich weiß ja auch wiederum daß es nicht bös
geworden war gemeint war und ich das/ß/ ich das
alles in der That war oder schien. Ich sag es dir nur, um dir daran die
Hinfälligkeit menschlicher Beurtheilung zu demonstriren, und wenn ich dich
dadurch vielleicht auch ärgere, so weiß ich doch wiederum, daß eben der Ärger
dich anderseits
wieder beruhigt. Wenn dir das auch selbst nicht ganz klar ist, so bin ich
meinerseits doch des EfektesSchreibversehen, statt: Effektes. gewiß. Sieh, damals hätt’ ichAuf welchen Misserfolg Wedekind sich hier bezieht, ist unklar. auch Grund genug
gehabt zu verzweifeln, wenn ich das alles hätte glauben wollen; | aber ich war
eingebildet genug, mir zu sagen, ihr versteht das nicht besser und später wird
sichs schon zeigen. So sag ich mir nun auch jetzt noch, denn ich kann mir nicht
verhehlen, daß ich seither viel erreicht habe; und wenn du das nicht einsiehst,
so thust du mir zwar leid, aber im übrigen ist es mir ganz egal. Ich stehe
jetzt auf eigenen Füßen und muß Egoist sein, um auf eigenen Füßen vorwärts zu
kommen. Der Erreichung meines Zieles bin ich gewiß, denn ich trage mein Ziel in
mir, und das ist mehr als Novellen schreiben.
Ich bleibe in Zürich. Mit Anwendung einiger Vernunft müßtest du dir selber gesagt haben,
daß ein Aufenthalt zu Hause mir durchaus nicht zuträglich wäre. Da käm’ ich ja
erst recht | nicht aus der ewigen Quakelei„unnützes leeres geschwätz […] leichtsinnige tändelei“ [DWB 13, Sp. 2290]. heraus. Für die Zusendung jenes GrundrissesEmilie Wedekind hatte zuletzt ausführlich ein alternatives Handlungsgerüst für Wedekinds Novelle „Marianne“ entworfen [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1887], das Wedekind jedoch nicht aufgriff.
bin ich Dir sehr verbunden; er scheint mir so übel nicht. Ich zweifle nicht,
daß ich ihn später
benützen werde, aber fürs erste hab’ ich un/Die/ Geschichte gründlich
satt.
Und nun leb wohl, liebe Mama,/./ Meine Pläne kann ich dir leider
auch jetzt nicht auseinandersetzen; das bräuchte zu viel Zeit und zudem sprech
ich nicht gern davon. Mit vielen herzlichen Grüßen an Frl. Henckell, an Doda, an
Mati und vor allem an dich dein treuer Sohn und Pechvogel
Franklin.
P. S. Der Kaffee schmeckt delicat.