Zürich, im März 86Schreibversehen, statt: März 87 (belegt durch den Briefkontext)..
Liebe Mama,
verzeih mir daß ich dir so lange nicht geschrieben habe.
Böser Wille war es gewiß nicht, aber auch nicht Nachlässigkeit. Seit ich von Zürich LeipzigWedekind hatte im Auftrag der Firma Julius Maggi vom 24.1. bis 7.2.1887 die I. internationalen Ausstellung für Kochkunst und Volksernährung zu Leipzig besucht und für seinen Arbeitgeber einen Bericht darüber verfasst [vgl. Vinçon 1992, S. 87-92]. zurück bin, ist meine Arbeit
Wedekind hatte im November 1886 durch Vermittlung von Karl Henckell [vgl. Kutscher 1, S. 144] bei der neu gegründeten Kommanditgesellschaft Julius Maggi und Co. in Kemptthal bei Zürich eine Stelle als „Vorsteher des Reclame- und Preßbureaus“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] angetreten und war unter anderem für das Verfassen von Reklametexten und Annoncen zuständig.ungemein angewachsen so daß mir während der Woche nur sehr selten eine frei
StundeSchreibversehen, statt: freie Stunde. bleibt. Deine NovelleEmilie Wedekinds Novelle ist nicht überliefert. Artur Kutscher berichtete, sie habe dazu „Aufzeichnungen über ihr Leben“, die sie „schon in ihrem 16. Jahre […] gemacht, […] teilweise benutzt“ und zu „einer fünfzig Seiten langen, 1886 auf Drängen ihres Sohnes Frank verfaßten autobiographischen Erzählung: ‚Bewährte Liebe‘“ verarbeitet; „diese vertuscht die Namen und malt die interessanten Erlebnisse romantisch sentimental aus. 1887 hat Emilie Wedekind ihr Werk Karl Henckell gegeben, der dafür einen Verleger suchen sollte und es heute noch besitzt.“ [Kutscher 1, S. 11, Anm.] „Eine Recherche nach dem Manuskript in allen Archiven, die einen Henckell-Nachlass aufbewahren, blieb ergebnislos.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 117] hab ich auf deine Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 1.3.1887. Die Karte enthielt offenbar die erneuerte Bitte der Mutter um eine Durchsicht ihrer Novelle, deren Manuskript Frank Wedekind wohl länger schon vorlag. Karl Henckell, an den Wedekind diese Aufgabe daraufhin delegierte, hatte die durchgesehene Novelle anscheinend schon an Emilie Wedekind zurückgeschickt und erwartete nun von ihr die endgültige Fassung, um dafür einen Publikationsort zu suchen. hin, allerdings nicht ohne
eine gewisse Beschämung an Henckell abgegeben; aber jetzt bin doch auch ich froh, daß das nothwendige
gethan ist und wünsche deinem Erstlings Werk vor allen Dingen viel Glück auf
seine ReiseSchreibversehen, statt: seiner Reise. in’s feindliche Leben. Henckell läßt dich ersuchen, ihm die/as/selbe
so schnell wie möglich zurückzusenden, indem er es dann sofort an „Vom Fels |
zum MeerEin Abdruck von Emilie Wedekinds Novelle in der von Wilhelm Spemann in Stuttgart herausgegebenen Zeitschrift „Vom Fels zum Meer. Spemann’s Illustrirte Zeitschrift für das Deutsche Haus“ ist nicht erfolgt.[“] schicken wird. Wird es dort acceptirt, so ist dein Ruf begründet.
Über zwei Dinge mögest du ihn gefälligst aufklären. Erstens, unter welchem
Namen du es gedruckt sehen willst. und zweitens, ob Du damit einverstanden
bist, wenn der Titel „Bewährte Liebe“, der ein wenig hausbacken klingt, ersetzt wird durch den kurzen Titel „Doctor Schmidt.“Im übrigen hat er mir einen
ergebenen Gruß an dich aufgetragen. –
Heute Abend war ich bei Hammi. Er ist fest entschlossen, das
VerfehlteArmin Wedekinds im ersten Versuch nicht bestandenes Abschlussexamen in Medizin. In einer seiner rückblickenden Jahresübersichten in den Notizbüchern notierte Wedekind 1910 zum Jahr 1887: „A. fällt durchs Examen. Zieht zu Dr. Frey. […] A’Verlobung“ [Nb 63, S. 72v]. Armin Wedekind bestand die Prüfung im zweiten Anlauf, verließ am 15.12.1887 die Universität Zürich mit Zeugnis [vgl. Matrikeledition der Universität Zürich, Nr. 6136; https://www.matrikel.uzh.ch] und promovierte am 20.12.1888 über „Die Pocken im Kanton Zürich während der Jahre 1873-87. Statistische und klinische Bearbeitung mit besonderer Berücksichtigung der Epidemie von 1885/86“. Im Oktober 1888 ließ er sich als Arzt in Riesbach bei Zürich nieder. gut zu machen, und arbeitet, soviel er arbeiten kann. Wenn sein Eifer
nicht nachläßt, so ist weiter nichts zu besorgen. Im übrigen kann ich dich
versichern, daß du auch nicht den geringsten Grund hast traurig zu z/s/ein, denn diese A/K/atastrophe
ist ihm von unberechenbarem Vortheil. Seit die Zofingia„Am 18.5.1881 trat Armin Wedekind in die nichtschlagende schweizerische Studentenverbindung Zofingia ein.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 118] aufgehört hat sein
Ideal zu sein, irrt er, wie er mir sagte, ohne Ziel und Richtschnur durch die
Welt. Jetzt bietet sich ihm die Gelegenheit, die Kinder|schuhe auszuziehen, und
sich mit dem Ernst zu befreunden. Aus der gethanen Arbeit wird ihm dann ein
Halt erwachsen, der gewiß um vieles solider ist, als ein mit Glück und Zufall
erlangtes Doctor-Patentdie Zulassung, als Arzt zu praktizieren (Approbation); sie setzte ein bestandenes Examen voraus.. S/D/ie Schande, von der du sprichst, kommt
meines Erachtens nicht in Betracht neben dem Glück deines Kindes. Aus dem Hirn
der Spießbürger verschwindet der Begriff in dem Augenblick, wo das Examen
abgelegt ist. Was die liebenswürdige Tochtergemeint ist vermutlich Emma Frey, spätere Ehefrau von Armin Wedekind (Heirat am 21.3.1889), Tochter des Amtsarztes Gottlieb Frey, bei dem er seinerzeit arbeitete und wohnte. betrifft, so glaub’ ich nicht daß
die Leute den Verdacht verdienen. Verdienen sie ihn doch, so ist das ja nichts
unrechtes, aber um so schlimmer für sie. Bei ihm verfängt es nicht mehr. Aber
kränken wir die Menschen nicht, bevor sie uns Grund dazu gegeben!
Darf ich dir nun einen Rath geben, so ist es folgender: Nimm
so bald als möglich wieder etwas unter die Feder, das dein Sinnen und Denken in
Anspruch nimmt Denn Deine Sorgen und S/s/chlaflosen Nächte nützen
nichts, sondern schaden nur dir | und Deiner Umgebung. Die ganze Begebenheit
birgt des dauernd Guten so vieles das/ß/ sich das Unangenehme, Peinliche
gewiß verschmerzen läßt. Hammi brauchte dank seiner ganzen Organisation eine
gewaltsame Concentrirung seines Wesens. Nun hat er sie erhalten, während er noch
inmitten von Menschen steht, die ihm allesamt wohlwollen. Was will man mehr? Also
freu dich doch und beherrsche Dich soweit, daß du in aller Ruhe und
Gemüthlichkeit die Zeit abwartest bis nicht nur der Schaden geheilt, sondern
überdieß ein Gewinn fürs ganze Leben eingeheimst ist. Hammi hat die edle
Jungfer Medicin malträtirt und jetzt rächt sie sich an ihm. Aber gerade dadurch
wird sie sein Herz gewinnen, was bis jetzt nicht der Fall war.
Ich bitte noch einmal um Verzeihung meines langen Schweigens
wegen. Grüße alle zusammen herzlich von mir. Dein dich liebender treuer Sohn
Franklin.
Vergiß nicht umgehend die Novelle an Henckell zu schicken.