Kennung: 5226

München, 7. Mai 1905 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Liebe Mama!

Zu Deinem heutigen GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1905 ihren 65. Geburtstag. bitte ich Dich meine allerherzlichsten Glückwünsche entgegenzunehmen. So sehr ich bedaure, an diesem Tage nicht in Lenzburg zu sein, wie ich ursprünglich gehofft hatte, so tröstet mich doch das | Bewußtsein, daß es Dir an Gratulanten jedenfalls nicht fehlen wird.

Was nun mich betrifft, liebe Mama, so habe ich ein ziemlich kurzweiliges Jahr hinter mir. Letzten Sommer gastierte ich hier in München an zwei Theaternam Intimen Theater und am Münchner Schauspielhaus. Wedekind trat im Juni und Juli 1904 beim Kabarett der Sieben Tantenmörder im Intimen Theater (Kaimsaal) mehrfach mit Gastspielen auf, zuerst vom 6.6.1904 bis 14.6.1904: „Heute Montag beginnt im Intimen Theater ein mehrtägiges Gastspiel Frank Wedekinds. Zur Aufführung gelangt u. a.: ‚Rabbi Esra‘, Dialog von Frank Wedekind, welcher die Titelrolle selbst spielen wird; ‚Im Frühling‘, ein Schäferspiel von Frank Wedekind, Musik von A. Bela Laszky“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 260, 7.6.1904, Vorabendblatt, S. 4]. Dann erneut ab dem 25.6.1904: „Mit dem Morgigen (25. Juni) beginnt ein achttägiges Gastspiel Frank Wedekinds (mit seinen Balladen und in seinem Dialog ‚Rabbi Esra‘ in der Titelrolle).“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 291, 24.6.1904, Morgen-Blatt, S. 4] Und obgleich die Presse meldete: „Das Gastspiel Wedekinds endigt mit dem 2. Juli.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 304, 2.7.1904, Vorabendblatt, S. 3] wurde er in der ersten Juliwoche weiterhin als Gast in der Titelrolle des „Rabbi Esra“ angekündigt und war bis zum 6.7.1904 bei den Sieben Tantenmördern zu sehen [vgl. Tb]. Danach trat Wedekind vom 25.7.1904 bis zum 9.8.1904 in der Titelrolle seines Einakters „Der Kammersänger“ am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) auf [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 342, 24.7.1904, S. 3], anschließend wurde die Rolle von Hans Schwartze gespielt. und außerdem in so und so viel BädernWedekind trat in seinem Einakter „Der Kammersänger“ in den Kurtheatern von Bad Tölz (15.7.1904) und Bad Reichenhall (1./3.9.1904) auf.. Der Winter begann mit einem großen Durchfall am Variété in BeslauSchreibversehen, statt: Breslau. Wedekinds Gastspiel als Bänkelsänger in Liebichs Etablissement (Direktion: Hugo Wandelt), einem bekannten Varieté-Theater in Breslau (Gartenstraße 53/55), begann am 1.11.1904. Er notierte im Tagebuch: „Durchgefallen.“ Das ursprünglich für einen Monat geplante Gastspiel endete vorzeitig am 6.11.1904, an dem Wedekind nochmals notierte: „Durchgefallen.“ Die Presse schrieb: „Aus Breslau wird gemeldet: Frank Wedekind hat mit seinem Versuch, sich dem Varieté zuzuwenden, Fiasko gemacht. Sein Auftreten in Liebichs Etablissement begegnete so entschiedener Opposition, daß er seinen Vertrag nach sechs Tagen lösen mußte und Breslau bereits verlassen hat.“ [Neue Freie Presse, Nr. 14444, 9.11.1904, Abendblatt, S. 1]. Im Dezember spielte ich mit der berühmten Schauspielerin | Gertrud Eysoldt in StraßburgDer Verein zur Pflege moderner dramatischer Literatur veranstaltete am 19.12.1904 am Stadttheater Straßburg einen Abend mit Wedekinds „Der Kammersänger“ und Hugo von Hofmannsthals „Elektra“ [vgl. Hamburger Fremdenblatt, Jg. 76, Nr. 301, 23.12.1904, 4. Beilage, S. (2)]. Wedekind, der die Titelrolle in seinem Stück spielte, war am 16.12.1903 angereist und traf am 18.12.1904 Gertrud Eysoldt vom Neuen und Kleinen Theater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 292], die die Titelrolle in Hofmannsthals Stück spielte: „Probe. Gertrud Eysoldt kommt an. [...] Hole mit Korge Gertrud ab. Thee bei Jerschke Abends Germania.“ [Tb 18.12.1904]. Tags darauf notierte er: „Strassburg. Kammersänger Eingenommen M. 200 Probe. Gang durch die Alte Stadt. Im kleinen Frankreich. Mühlstaden. Hole Gertrud von der Probe ab und diniere mit ihr. Abendspaziergang durchs Metzgerthor über die Wälle aufs freie Feld. Vorstellung“ [Tb 19.12.1904]. nachdem ich vorher schon am „Neuen Theaterbei den beiden Vorstellungen von „Erdgeist“ (Regie: Richard Vallentin) in Berlin am 23. und 25.9.1904 mit Gertrud Eysoldt als Lulu. Wedekind sprach den „Prolog zum Erdgeist“. Er notierte am 23.9.1904: „Probe. Abends Prolog gesprochen.“ [Tb]; tags darauf: „Ich diniere mit Gertrud Eisoldt im Kaiserkeller, fahre mit ihr durch den Thiergarten.“ [Tb 24.9.1904] Und am 25.9.1904: „Stehe um 2 Uhr auf gehe spazieren diniere mit Gertrud Eysold im Kaiserkeller. Abends Prolog. Eingenommen M. 150.“ Gertrud Eysoldts Darstellung der Lulu in der Inszenierung des Stücks am 17.12.1902 am Kleinen Theater in Berlin (Regie: Richard Vallentin) hatte maßgeblich zum Erfolg der Tragödie beigetragen (vgl. Seehaus 1973, S. 381). in Berlin mit ihr aufgetreten war. Dann kam hier in München HidallaDie Uraufführung von „Hidalla oder Sein und Haben“ (1904) im Münchner Schauspielhaus (Regie: Georg Stollberg) mit Wedekind in der Rolle des Karl Hetmann fand am 18.2.1905 statt. zu der Du und Mati mir die schöne Gratulation geschicktvgl. Emilie Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.2.1905. Die sehr erfolgreiche Uraufführung von Wedekinds Schauspiel hatte ein entsprechendes Presseecho [vgl. KSA 6, S. 536, 544-548], das die Gratulation von Mutter und Schwester veranlasst haben dürfte., für die ich herzlich danke. Entzückend finde ich übrigens die Karte vom Steinbrüchlinicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emile Wedekind an Frank Wedekind, 1.4.1905. in seiner ganzen üppigen Blüthenpracht. Ich habe diese lieben Karten in meinem Arbeitszimmer täglich vor Augen und denke an Euch, sooftSchreibversehen, statt: so oft. ich einen Blick darauf werfe. | Mit Hidalla habe ich dann auch in meiner getreuen Reichsstadt Nürnberg gastiertWedekind reiste am 23.3.1905 nach Nürnberg („Fahre nach Nürnberg. Probe.“ [Tb]), wo „Hidalla“ am 25.3.1905 Premiere am Intimen Theater (Regie: Emil Meßthaler) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 516] hatte und bis zum 30.3.1905 fünfmal mit Wedekind als Karl Hetmann aufgeführt wurde. Am nächsten Tag kehrte er nach München zurück: „Rückfahrt nach München“ [Tb 31.3.1905]. „Frank Wedekinds Schauspiel ‚Hidalla‘ mit Wedekind als Hetman wurde im Intimen Theater zu Nürnberg mit stürmischem Beifall aufgenommen.“ [Saale-Zeitung, Jg. 39, Nr. 146, 27.3.1905, 3. Beiblatt, S. (1)] Das Stück erlebte „einen durchschlagenden Erfolg. Dem Autor-Darsteller galten zahlreiche Hervorrufe.“ [Hamburger Fremdenblatt, Jg. 77, Nr. 74, 28.3.1905, 4. Beilage, S. (1)], wo mir das Publicum auch diesen WinterIm Jahr zuvor hatte am 1.2.1904 am Intimen Theater (Direktion: Emil Meßthaler) in Nürnberg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 453] die Uraufführung von „Die Büchse der Pandora“ unter der Regie von Egbert Soltau in einer Subskriptionsvorstellung stattgefunden. Die Presse berichtete von „lebhaftem Beifall […] Der Schlußakt fand starken Widerspruch; es wurde sogar gepfiffen. Doch zum Schluß überwog bedeutend der Beifall.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 54, 3.2.1904, Morgenblatt, S. 2] wieder sehr gewogen war. Dagegen haben die Stuttgarter meine Hidalla entschieden übel genommenWedekinds Gastspiel in „Hidalla“ hatte am 16.4.1905 am Residenztheater in Stuttgart (Direktion: Hans Zillich und Oskar Fuchs) Premiere und umfasste drei Aufführungen. Die Presse bezeichnete das Stück „als ein verfehltes Schauspiel. […] Hidalla ist ein peinliches Stück. Peinlich durch den Stoff, durch Unklarheit und durch Mangel an dramatischem Leben. […] Das Können entsprach freilich nicht immer dem Wollen. Die Hauptrolle spielte der Dichter selbst, der sich offenbar mit außerordentlichem Fleiß voller Hingabe in seine Aufgabe vertieft hat. Er bietet als der moderne Quasimodo ein interessantes, aufs subtilste ausgearbeitetes Charaktergemälde. […] Das Publikum nahm die Novität mit Beifall, Kopfschütteln und Widerspruch auf. Am Schlusse mischte sich in den Applaus starkes Zischen und aus den hinteren Reihen des Parketts ließ sich eine Stimme vernehmen: ‚Unsinn!‘“ [Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg, Jg. 62, Nr. 90, 17.4.1905, S. 2], während ich ihnen als Schauspieler dies mal besser gefiel. Trotzdem waren die Tage, die ich vor vier Wochen in Stuttgart zubrachte die herrlichstenWedekind traf am 13.4.1905 in Stuttgart ein und lernte dort Berthe Marie Denk kennen, mit der er seinen Aufenthalt verbringt. Im Tagebuch notierte er am 13.4.1905: „Packe meine Koffer. […] Fahre nach Stuttgart. Eine Dame lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Zimmer No 58.“ Tags darauf: „Finde im Hotel einen Brief von Berthe Marie Denk. Zimmer 58.“ Am 15.4.1905 heißt es: „Stehe um 8 Uhr auf und beantworte den Brief von Marie Denk. Probe. Ich treff sie im Theater. Wir diniren im Hotel. Sie ist zum Cafe geladen. Sie empfängt mich in Gesellschaftstoilette in ihrem Zimmer.“ Am Tag der „Hidalla“-Aufführung notierte Wedekind: „Gehe mit Anna Denk durch die Anlagen. Der König kommt. Wir diniren im Hotel. Ich lege mich schlafen. Sie weckt mich um 6 Uhr. […] Ich bleibe die Nacht bei ihr.“ [Tb 16.4.1905] Am 17.4.1905: „Um 11 Uhr kommt Marie Denk. Wir fahren auf die Solitude“; am 18.4.1905: „Um 10 Uhr kommt Marie Denk zu mir. Automobilfahrt über Ludwigsburg nach Mon Repos. Diner im Hotel Marquart. Nachmittag auf ihrem Zimmer. Café.“ Und schließlich am 19.4.1905. „Um 10 Uhr kommt Marie Denk und fordert mich zur Automobilfahrt auf. Ich lehne ab. Sie ist bis Sonnenaufgang gefahren. War in der Nähe von Ulm. Ich packe meinen Koffer. 4.40 nach München zurück. Marie Denk fährt mit. Wir zanken uns. Ich lasse sie alleine.“ [Tb] die ich seit langer Zeit erlebt habe. Es mag das auch damit zusammenhängen daß mir so viele Plätze wie | der Neunersche GartenFriedrich Neuner, Hofgärtner und Mitbegründer des Mineralbads Berg in Stuttgart, hatte für Kronprinz Karl den Park der Villa Berg sowie die Parkanlage seines Mineralbads angelegt., das Leuzesche Badvon Ludwig Leuze 1851 erworbene und 1854 neu eröffnete Mineralbadeanstalt am Neckarufer in Stuttgart, die nach seinem Tod von seinem Sohn und später seinem Enkel weiterbetrieben wurde., der Garten am Wilhelmatheaterdie Wilhelma, Stuttgarter Sehenswürdigkeit: „Von der Rückseite des Schlosses führen Promenadenwege durch die Anlagen hinab zur Wilhelma, einem malerischen Gebäudekomplex im maurischen Stil, inmitten schöner Gartenanlagen, 1842-51 von Zanth für König Wilhelm I. erbaut […] Auf den untern Terrassen innerhalb der Kolonnaden herrliche Blumengärten mit Springbrunnen und Tiergruppen in Marmor und Bronze von Güldenstein. Darin auch das […] Theater und ein Restaurant.“ [Karl Baedeker: Süddeutschland. Handbuch für Reisende. 29. Aufl. Leipzig 1906, S. 129] noch aus meinem dritten oder vierten JahrEmilie Wedekind war im Juni 1867 mit ihren beiden Söhnen William und Franklin zur Kur nach Stuttgart gefahren und logierte im Stadtteil Berg in Friedrich Neuners Badeanstalt. Sie berichtete ihrem Mann am 12.6.1867, am Tag nach ihrer Ankunft, in einem Brief: „[Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau] A: „Besonders die Kinder scheinen hier sehr zu profitiren, denn Baby hat noch nicht ein einzig mal das Bett naßgemacht, und Willy ist immer ganz ausgelassen […] Übrigens ist das Bad sehr schön u reinlich und wir brauchen nur die Treppe hinunter zu gehen, so sind wir im Bade-Hause. Dieses Frühjar hat Hr. Neuner ein römisch-irisches Bad erbauen lassen, welches sich sehr gut rentirt“ [Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau] Und am 24.6.1867 berichtete sie ihm über ihren Besuch in der Wilhelma: „Es war mir als sei ich in einen Zaubergarten versetzt, und ich müßte nur schauen und sehen u. bewundern. Überall Rosen, Rosengänge, Lauben, Heken, Hütten, Piramiden, goldene Kioske mit weißen u. rothen Rosen übersponnen, Stakete, Dächer, Fensterrahmen alles vergoldet, kurzum es muß etwas ähnliches sein wie s. Z die Alhambra.“ [Mü, Nachlass Frank Wedekind, Konvolut Burkhardt, Nidderau]. Am 2.7.1867 kam Friedrich Wilhelm Wedekind mit seinem Sohn Armin nach Berg nach. Die Familie reiste Mitte Juli über Schaffhausen nach Bendlikon und kehrte von dort vom 9. bis 30.8.1867 zu einem weiteren Kuraufenthalt nach Stuttgart zurück [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 223]. in Erinnerung sind. Auf der SolitudeHöhenrücken 12 Kilometer nordwestlich von Stuttgart, auf dem sich Schloss Solitude (1769; von frz. ‚solitude‘ = Einsamkeit) befindet; beliebtes Ausflugsziel seit dem 19. Jahrhundert. haben wirWedekind und Berthe Marie Denk am 17.4.1905 (s. o.). zu Mittag gegessen und fuhren am nächsten Ta/M/ittagam 18.4.1905 (s. o.). mit dem Automobil über Ludwigsburg nach MonreposSchlossbau (1804; von frz. ‚mon repos‘ = meine Ruhe) fünf Kilometer nördlich von Ludwigsburg, seit Ende des 19. Jahrhunderts beliebtes Ausflugsziel. im herrlichsten Sonnenschein immer bergauf, bergab am Fuß des hohen AsbergsErhebung vier Kilometer nordwestlich von Ludwigsburg, auf deren Gipfelplateau (356 m) sich die Festung Hohenasberg befindet, in der Wedekinds Großvater Jakob Friedrich Kammerer 1833 in Untersuchungshaft saß. vorbei. Ich glaube sogar beinah, daß ich mich verlobt habemit Berthe Marie Denk, die Wedekind in Stuttgart kennengelernt hatte (s. o.); vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 8.5.1905.; ich weiß | es aber noch nicht ganz bestimmt und bitte daher, mir vorderhand noch nicht zu gratulieren. Jedenfalls war das Hotel MarquartWedekind logierte in Stuttgart im Hotel Marquardt (Schloßstraße 4 und 6) [vgl. Adreß- und Geschäfts-Handbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Stuttgart für das Jahr 1905, Teil I, S. 300]. in eine Art von Zauberschloß verwandelt.

Am Ostermontagam 24.4.1905. Wedekind notierte im Tagebuch: „Ankunft in Berlin. Logiere Habsburger Hof. Gehe in den Zoologischen Garten. Abends Konzert in der Philharmonie mit Gabriele Reuter Max Möller, Hans von Kahlenberg und Lotte Klein. Mit Donald Max Möller und Frau Schmidt-Bürklin aus Zürich soupiert. Eingenommen. M. 300.“ si/a/ng in/c/h in einer Soiree in der PhilharmonieWedekind trat mit den Schriftstellerinnen Gabriele Reuter und Helene von Monbart (Pseudonym: Hans von Kahlenberg), dem Schriftsteller Max Möller und der Schauspielerin Lotte Klein in dem zur Berliner Philharmonie gehörenden Beethovensaal bei einem Lese- und Rezitationsabend auf. Die Presse berichtete: „Moderne Poeten. Etwas ganz Besonderes mußte es sein, womit man die festmüde, dinergesättigte Stimmung des Berliner Publikums am Ostermontag Abend aus dem behaglichen Ausruhen zu einem Soiréebesuch aufpeitschen wollte […] So füllte man denn ein Programm mit klingenden Namen und bot im Beethoven-Saal ein literarisches Feinschmeckergericht. […] Der Held des Abends aber war und blieb Frank Wedekind. Nicht der ganz unbestrittene. Wenn er mit dem spöttischen Mephistogesicht und dem Faunslächeln, das in so seltsamem Gegensatz zu der ehernen Stirn und den kalten stolzen Augen steht, seine freien, frechen Dichtungen und seine Zötchen vortrug, so mischte sich am Schlusse wie mitten drinnen gelegentliches Zischen in den rasenden Beifall. Aber der Beifall überwog, und nicht nur lebenslustige Männer, auch eine Anzahl junger, schöner Frauen und Mädchen klatschten wie wütend zu dem Liebesunterricht des ‚Rabbi Esra‘, dem Zötchen von Brigitte B., der geschlachteten Tante und der ‚Majestätsbeleidigung‘, die er zur Laute vortrug. […] Zum Schluß ließ sich Wedekind noch zu zwei Zugaben bewegen: ‚Die Heilsarmee‘ verlangte man stürmisch. ‚Erst‘, sagte er, ‚kommt das ‚Lied vom blinden Knaben‘!‘ und dann trug er dies Lied vor, das eine echte Dichtung ist und zeigt, daß Wedekind auch anderes bieten könnte, wenn man anderes von ihm verlangte.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 34, Nr. 209, Nr. 209, 25.4.1905, Abend-Ausgabe, S. (2)] in Berlin, war daraufhin mit Donald zum Su/o/uper geladen und freute mich darüber, ihn ziemlich vergnügt und zufrieden zu sehen. Vermutlich treffe ich ihn auch nächsten Freitagam 12.5.1905. Wedekind notierte im Tagebuch: „Abends mit Hauptmann Welti und Donald im Spatenbräu. Dann bis 4 Uhr mit Donald bei Wittwe Helmer.“ Wedekind war wegen einer Gerichtsverhandlung nach Berlin gereist, eine Anklage gegen ihn und seinen Verleger Bruno Cassirer aufgrund §184 (‚Verbreitung unzüchtiger Schriften‘) in der Buchausgabe „Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen“ (1903), die zu einem Freispruch führte [vgl. KSA 3/II, S. 1153-1161]. wieder in Berlin. Sonst habe ich in letzter Zeit | an Bekannten nur Professor Käslin aus Aarau getroffen, mit dem ich hier in München einen höchst amüsanten Abendam 9.4.1905; Wedekind notierte: „Totentanz gearbeitet im Hofbräu. Nachher Torggelstube. […] Dr. Käslin aus Aarau.“ [Tb] Wedekind kannte Hans Kaeslin, Lehrer für Deutsch und Französisch (seit 1901 an der Kantonsschule Aarau), noch aus Lenzburg (sein Vater war dort Musikdirektor) und hatte ihn 1894 und 1899 in Paris wiedergetroffen. verlebte und der sich Dir bestens empfehlen läßt. Das heißt Walter Laué läßt sich dir auch bestens empfehlen. Es war ein herrlicher Abend vor zwei Monaten, als ich in Cöln bei ihm zu Gast war und seine Frau ist ein so hübse/c/hes und liebes Geschöpf daß ich ihn aufrichtig darum beneidete.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Ich wünsche daß Du | diesen Tag in/m/ besten Wohlbefinden und in glänzendster Feststimmung verbringst. Grüße bitte Herrn und Frau Gustav Henkell, wenn Du sie siehst.

Grüße mir mein liebes Mati von Herzen und sei Du selber, liebe Mama aufs aller herzlichste i/g/egrüßt von deinem dich liebenden getreuen Sohn
Frank

München, den 7 Mai 1905.


[Kuvert:]


Frau Dr. Emilie Wedekind
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 23 cm. 8 Seiten beschrieben. Gelocht. Kuvert 13,5 x 10,5 cm. 1 Seite beschrieben. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit zwei, um 90 Grad gedreht aufgeklebten Briefmarken zu 10 Pfennig frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „1–2 N“ (= 13 bis 14 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Lenzburg: „IX“ (= 9 Uhr).

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

(Band 2)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
139-141
Briefnummer:
243
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 343-344 (Nr. 173).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

18.06.2024 16:36