FRANK WEDEKIND.
Meine liebe Mama,
herzlichsten Dank für Deine lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 19.1.1901.. Wenn es/e/s
Dir recht ist gehe ich gleich zum geschäftlichen Theil über. Nachdem ich Mieze
einmal den Vorschlag gemachtHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 20.1.1901. Nachdem Donald Wedekind bei mangelnder Unterstützung durch seine Familie mit Selbstmord gedroht hatte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.12.1900] und gedruckte Todesanzeigen von sich verschickte [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 9.1.1901], schlug Frank Wedekind seiner Schwester Erika vor, alle weiteren Briefe Donalds ungeöffnet an ihn weiterzuleiten und die gesamte Kommunikation mit dem Bruder ihm zu überlassen, wie sich aus späterer Korrespondenz ergibt [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 26.2.1901]., halte ich es für das beste, wenn auch Du mir jede weitere
Mittheilung, die Du von Donald erhältst, zukommen läßt. Ich mag Dir nicht
zumuten, mir die Briefe | uneröffnet zu schicken; dazu habe ich Dir gegenüber
kein Recht. Ich bitte Dich, das halten zu wollen, wie du willst.
Deine Annahme, daß ich Donald noch Geld schuldig sei, trifft
nicht zu. Er schreibt dasDonald Wedekind hatte seiner Mutter aus Mailand geschrieben: „Da […] ich am Äußersten bin, ich habe noch 10 Lire in der Tasche, möchte ich Dich bitten mir die Summe von 50 oder 60 M. telegraphisch zuzuschicken, da ich sonst nicht weiß, wo aus noch ein. Willst Du mir diesen Gefallen tun? […] Bebi läßt mich vollständig sitzen, was nicht schön ist, da ich ihm noch erst diesen Sommer wieder ausgeholfen. Aber so ist die Welt. Mieze verhält sich auch ablehnend, was ich ihr nicht verdenke, da sie schon viel für mich getan. Immerhin, wenn es Dir gelänge sie zu bewegen, mir doch wenigstens 100 M. zu schicken, telegraphisch (denn ich weiß wirklich übermorgen nicht mehr, wovon leben.) so wäre mir das lieber als Dir eine Ausgabe verursachen. Geht es aber nicht anders, so tuhe Du, was Du vermagst. […] Ihr wollt mich doch hier, wo mir alle Resourcen abgeschnitten sind, nicht Hungers sterben lassen.“ [Donald Wedekind an Emilie Wedekind, 14.1.1901; Mü FW B 304] Offenbar hatte Emilie Wedekind diesen Brief ihrem Schreiben an Frank Wedekind beigelegt. in seinem Brief an dich auch nicht. Er schreibt nur,
daß er mir verschiedentlich ausgeholfenDonald Wedekind hatte seinem Bruder im Sommer 1990 400 Mark geschickt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1900], wie aus späterer Korrespondenz hervorgeht [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 3.10.1900]. habe; aber diese Angelegenheiten sind
selbstverständlich s/l/ängst beglichen.
Als er vor zwei MonatenDonald Wedekind kündigte im Oktober aus Dresden an, er werde auf seiner geplanten Rückkehr nach Italien seinen Bruder Frank in München besuchen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 3.10.1900], was vermutlich Mitte November geschah. hier war, forderte ich ihn | auf, hier
in München zu bleiben und hier hie/sic/h nach Gesellschaft und Arbeit
umzusehen. Das war ihm
aber zu unbequem, da er an gesellschaftlichen Verkehr gar nicht mehr gewöhnt
ist; er zog es vor sich wieder nach Mailand in seine Einsamkeit zu begeben.
Donald weiß nun recht gut, daß er das nötige Geld zur Reise nach München, wenn
er mich darum bittet, sofort bekommt. Aber dazu kann er sich bis jetzt noch
nicht ent|schließen; meine Gesellschaft ist ihm vorderhand noch viel zu unbequem.
Deshalb warte ich eben ruhig ab, bis ihn die Verhältnisse dazu zwingen, auf
meine Vorschläge einzugehen und meinem Rat zu folgen. Deshalb bitte ich dich
auch, ihm vorderhand unter keinen Umständen mehr Geld zu schicken, weil seine
Bekehrung nur dadurch verzögert wird.
Mir geht es soweit gut. Mein Marquis von Keith wird zu Ende
dieser SaisonWedekind ging von einer Aufführung des „Marquis von Keith“ durch Emil Meßthaler im Juni in Berlin und durch Josef Jarno im Herbst in Wien aus [vgl. Wedekind an Carl Meinhard, 15.4.1901]. Die Uraufführung des „Marquis von Keith“ (Regie: Martin Zickel) fand erst zu Beginn der folgenden Saison am 11.10.1901 am Berliner Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) statt. in | Berlin und zu Beginn der nächstenDie Wiener Premiere des „Marquis von Keith“ am Theater in der Josefstadt (Direktion: Josef Jarno) fand erst am 30.4.1903 statt, war aber im September noch von der Presse unter der Überschrift „Frank Wedekind im Josephstädter Theater“ angekündigt worden: „Eine interessante Nachricht kommt aus dem Theater in der Josephstadt. Frank Wedekind, der Führer der Naturalisten in München, wird sich im Laufe des nächsten Monats im Theater der Josephstadt als Dichter und Schauspieler vorstellen. Er wird in seinem modernen Drama ‚Der Marquis von Keith‘ die Rolle des Scholz geben. Die Titelrolle wird Director Jarno spielen.“ [Illustrirtes Wiener Extrablatt, Jg. 30 Nr. 242, 4.9.1901, Abend-Ausgabe, S. 3] in Wien gegeben. Hier in München steht für die
nächsten Wochen mein KammersängerNach dem Gastspiel von Carl Heines Ibsen-Theater am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) vom 24. bis 27.7.1900, kam „Der Kammersänger“ dort erneut am 16.2.1901 für fünf Wochen (zusammen mit zwei Stücken anderer Autoren) auf die Bühne [vgl. KSA 4, S. 392]. Wedekind gab die Titelrolle ab dem 8.3.1901 an Hans Schwartze ab [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 26.2.1901]. wieder in Aussicht und zwar mit mir selber in
der Titelrolle. Augenblicklich bin ich damit beschäftigt, einen Dramatischen
Prolog zur EröffnungAm 19.4.1901 wurde das neu gebaute Münchner Schauspielhauses in der Maximilianstraße 26 und 28 eröffnet. Ein Prolog von Wedekind zu diesem Ereignis ist nicht überliefert. Gespielt wurde die Tragödie „Johannes“ von Hermann Sudermann [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 186, 21.4.1901, S. 1f.]. des neuen hiesigen Schauspielhauses zu schreiben.
Im Lauf der nächsten Wochen | kommt mein lieber Freund Max
Halbe auf einige Zeit nach Dresden um am dortigen Hoftheater Inscenierung und Proben seines neuen Dramas „Haus
Rosenhagen“Die Presse berichtete: „Max Halbe hat sein neuestes dramatisches Werk, das dreiaktige Drama ‚Haus Rosenhagen‘ der Generaldirektion der Königl. Hoftheater zur ersten Aufführung überlassen. ‚Haus Rosenhagen‘ wird nach den vorläufigen Dispositionen in der ersten Hälfte des Monats Februar am Königl. Schauspielhause zum ersten Male in Scene gehen.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 45, Nr. 15, 15.1.1901, S. (3)] Die erfolgreiche Premiere von Halbes Stück am Dresdner Hoftheater fand am 14.2.1901 statt [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 45, Nr. 45, 14.2.1901, S. (3)]: „Daß für den Erfolg des gestrigen Abends die ausgezeichnete Aufführung der Novität zum großen Theil mit verantwortlich zu machen ist, wird der Dichter selbst am besten wissen, der aufrichtig beglückt über die ehrenvolle Aufnahme seines Dramas schein. […] Für eine stimmungsvolle Inscenirung des Dramas, die keine Anweisung des Regiebuches unbeachtet gelassen, hatte Herr Oberregisseur Lewinger Sorge getragen, so daß auch nach dieser Hinsicht kein berechtigter Wunsch unerfüllt blieb.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 45, Nr. 47, 16.2.1901, Abend-Ausgabe, S. (2)] zu leiten. Er freut sich sehr darauf bei dieser Gelegenheit Mieze
und auch Dich kennen zu lernen. Er ist ein Mensch von hoher Intelligenz,
unantastbar was Charakter betrifft und in Bezug auf Energie und Vitalität ein
leuchtendes | Beispiel für mich. Ich habe Weihnachten und Neujahr in seiner
Familie gefeiertMax und Luise Halbe wohnten mit ihren Kindern in der Wilhelmstraße 6, 2. Stock [vgl. Adressbuch von München 1910, Teil I, S. 212]. und bin glücklich, einen so werthvollen Verkehr hier in
München gefunden zu haben. Wenn nichts dazwischen kommt werden wir im Frühjahr
zusammen eine Radpartie durch NiederöstreichSchreibversehen, statt: Niederösterreich. und Ungarn machen.
Und nun leb WohlSchreibversehen, statt: leb wohl., liebe Mama. Es ist gar nicht
ausgeschlossen, daß ich im Lauf der nächsten Zeit auch | wieder einmal über
Dresden komme. Mit den herzlichsten Grüßen und den aufrichtigsten besten
Wünschen für Dich bin ich Dein treuer Sohn
Frank.
München, FranzJosefstraße 42.II.
21.I.1901.
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind
Dresden-Strehlen
9. Julius Otto Strasse 9.