Meine liebe Mama,
ich hoffe keinen TaktfehlerWedekind war wegen Majestätsbeleidigung verurteilter Häftling auf der Festung Königstein. oder eine sonstige Ungehörigkeit
zu begehen, wenn ich dem heißen Bedürfnis nachgebe Dir zu schreiben unter dem
noch heißeren, etwas von dir zu hören. Vor allen Dingen hoffe ich daß du gesund
und wohl bist, daß es dir auch sonst gut geht und du über nichts zu klagen
hast.
Was meine Wenigkeit betrifft, aber ich hatte gar nicht die
Absicht, so rasch von mir anzufangen. Wie geht es Mieze? In der Leipziger
ZeitungWedekind meinte vermutlich das „Leipziger Tageblatt“ (die relevanten Nummern sind online nicht verfügbar); in der „Leipziger Volkszeitung“ ist die Meldung nicht nachweisbar. las ich die NachrichtDie Presse berichtete: „In der Familie des gefeierten Mitgliedes unserer Hofbühne Frau Erika Wedekind ist die Freude eingezogen durch die Ankunft eines Töchterchens. Die ersten Stimmversuche der kleinen Weltbürgerin sollen unverkennbare Anklänge an Stellen in der ‚Nachtigall‘ von Alabieff geboten haben.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 44, Nr. 217, 7.8.1899, S. (1)] von der glücklichen Geburt ihres TöchterchensEva Erika Oschwald ist am 5.8.1899 geboren.. Ich
weiß und fühle es auch sehr schmerzlich, daß ich ihr viel Kummer bereitet habe.
Und als das UnglückDie Verfolgung Wedekinds wegen Majestätsbeleidigung nach dem Abdruck seines Gedichts „Im heiligen Land“ in der Zeitschrift „Simplicissimus“ und seine Flucht nach Zürich am 30.10.1899. letzten Herbst in München passierte | gab ich mir das Wort,
ihr nichts von mir hören zu lassen bis alles glücklich wieder vorüber
sei. Es war ja einzig und allein auch nur möglich, da ich in München in jener
Zeit über alle Maßen beschäftigt war in meiner Stellung als Dramaturg Sekretär
Schauspielerbei Theaterdirektor Georg Stollberg am Münchner Schauspielhaus seit Ende August 1898. Dramatischer Autor und Journalist. Wäre das Unglück nicht
hereingebrochen, dann säße ich jetzt mitten im Fett statt in der Tinte. Aber
diese Tinte verdient ihren Namen so wenig daß ich mir auf der Welt keinen
schöneren Aufenthalt wünschen könnte. Ich bin von früh bis spät im Freien,
alles erinnert mich an zu Haus, wiewol weder die architektonische noch die LandschaftlicheSchreibversehen, statt: landschaftliche. Schönheit an Lenzburg
heranreicht. Nicht einmal die Felsen sind so majestätisch. Aber nachdem ich |
zehn Jahre lang nur Stadtluft geatmet habe ist mir jeder Schritt ein Genuß.
Gleich in den ersten Tagen erhielt ich den Besuch meines ersten
Theaterdirectors Dr. Heine aus Hamburg. Wir sprachen
viel von unserer vorjährigen TourneeWedekind war als Ensemblemitglied mit Carl Heines Ibsen-Theater von März bis Juni 1898 auf Tournee gewesen.. Damals fuhr ich von Wien nach Leipzig in sehr fideler
Gesellschaft mit Frl TalianskyLeonie Taliansky spielte die Lulu in der Leipziger Uraufführung von „Erdgeist“ am 25.2.1898, die Katherina Alexandrowna in der Uraufführung von „Der Liebestrank“ am 1.7.1898 in Leipzig und die Miss Isabel Coeurne in der Uraufführung von „Der Kammersänger“ am 10.12.1899 in Berlin. Sie war Ensemble-Mitglied am Neuen Theater Berlin (Schiffbauerdamm 5) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 258]. die jetzt die erste Rolle bei Nuscha ButzeDie Schauspielerein war seit 1898 Direktorin des Neuen Theaters Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 257]. in
Berlin spielt, am Königstein vorbei und ließ mir nicht träumen daß ich eh ein
Jahr vergeht, hier obenDie Festung Königstein im Elbsandsteingebirge diente seit 1591 als sächsisches Staatsgefängnis. sitzen würde. Nicht daß ich mir etwas darauf einbilde,
um Gottes Willen. Ich bin auch sehr fleißig und werde bald mit einem neuen
StückWedekind nutzte die Haftzeit zur Umarbeitung seines Stücks „Der gefallene Teufel“ zum „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S.413]. vor die Öffentlichkeit treten daß hoffentlichSchreibversehen, statt: das hoffentlich. besser und aufführbarer ist als mein Erdgeist.
Ich habe es sehr bedauert, liebe Mama daß ich dich in Zürich
nicht mehr gesehen habe, aber so sehr ich es vermeiden wollte vor meinem
VortrageWedekind trat in Zürich am 12.12.1898 im Rahmen eines „Literarische[n] Abends des akademischen Lesevereins“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 119, Nr. 345, 13.12.1898, 1. Abendblatt, S. (2)] mit einer Lesung seines „Rabbi Esra“ auf. Das übrige Programm bestand aus Vorträgen, Gedichtrezitationen, Gesangseinlagen und Dialektdichtung: „Der große Saal im Hotel Bellevue vermochte die Personen kaum zu fassen, die gekommen, ‚das prächtig servierte Menü‘, wie Dr. Betz das Programm launig nannte, zu genießen. […] . Die leichtgeschürzte Muse Frank Wedekinds ist in ihrem Innersten eine Lebensphilosophin. Der anhaltende Beifall galt dem Dichter des ‚Rabbi Esra‘, aber auch dem Rezitatoren Frank Wedekind.“ [Ebd.] jemanden zu sprechen, da | ich eine Höllenangst hatte, so sehr hätte
ich mich gefreut, nachher mit dir zusammen zu bleiben aber da warst du
verschwunden. Übrigens ist mir die ganze Zürcher ZeitWedekind war am 30.10.1898 von München nach Zürich geflohen und reiste von dort Ende Jahres weiter nach Paris. dieses Schweinekerls von
Langen wegen in sehr düstrer Erinnerung.
Jetzt wirst du ja voraussichtlich wieder deines Erzieheramtesbei ihrer Enkelin Eva Oschwald (siehe oben) in Dresden.
walten; ich setze daher voraus daß du noch in Dresden bist. Grüße Mieze und
Walter herzlich von mir. Von Donald habe ich seit zwei Monaten keine Nachricht
mehr und von Mati weiß ich gar nichts.
Mit den besten Wünschen für dein Wohlergehen grüßt dich
herzlichst dein
gehorsamer Sohn
Frank.
Festung Königstein
5. Okt. 99.
[Kuvert:]
Frau
Emilie Wedekind.
pa. Frau
Erica Wedekind.
kgl. Sächs Hofopernsängerin
Dresden. StrehlenErika Wedekind und Walther Oschwald wohnten im Dresdner Stadtteil Strehlen in der Julius Ottostraße 9 [vgl. Adreßbuch für Dresden und seine Vororte 1900, Teil I, S. 453]. In der vormaligen Wohnung in der Struvestraße 34, 3. Stock war weiterhin Emilie Wedekind verzeichnet [vgl. ebd., S. 679].