München 34. Adalbertstraße. – 1. August 96.
Liebe Mama,
besten Dank für Deine herzlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 30.7.1896.. Sie enthalten nur einen
Irrthum. Du scheinst vorauszusetzen, daß ich mich jemals in einer nicht
ehrenvollen Stellung befunden habe. Das ist nicht wahr. Wenn ich zeitweise
nichts zu essen hatte, so ist das besseren Menschen als ich bin auch passirt
und giebt niemandem Grund, meine Ehre in Zweifel zu ziehen. Irgend ein f/F/remder
hat es auch noch nicht gethan.
Was Donald betrifft, so soll er wenn ihm die Mittel
ausgehen, nur | ganz ruhig hierherkommen. Ich glaube zwar nicht, daß sich
sofort etwas passendes für ihn finden wird. Aber das macht gar nichts. Ich
werde ihm meine Stellung hier, meine ArbeitWedekind arbeitete auf Honorarbasis in der Redaktion der neu gegründeten, im Albert Langen Verlag in München erscheinenden illustrierten Wochenschrift „Simplicissimus“ [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.5.1896]. e. ct., alles was ich mir in diesem halben Jahre
errungen, mit Vergnügen abtreten. Mir selber kann es Gott sei Dank nicht mehr
schlecht gehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich ziemlich viel erreichen
kann. Ich gehe einfach nach Dresden und schaffe mir dort einen anderen
Wirkungskreis. Ich wähle Dresden weil ich dort eine Menge persönliche Freunde
und Verehrer habe.
Daß Mieze Donald noch 600 frs geschickt hat ist sehr schön von ihr. Ich sprach
schon vor mehreren Wochenvermutlich bei einem gemeinsamen Anlass; nicht ermittelt. mit | Bjiörnsonder Schriftsteller Bjørnsterne Bjørnson, Schwiegervater von Albert Langen; dessen Sohn Bjørn Bjørnson wurde Wedekind erst 1898 vorgestellt [vgl. Wedekind an Beate Heine, 14.8.1898]., Hartleben und Max Halbe darüber, die
sich erkundigten, wie es Donald gehe. Ich sagte, soviel ich wisse erhalte er
Unterstützung von seiner Schwester, worüber man sich allgemein freute. Daß es
600frs. sind
wußte ich nicht, werde es ihnen aber das nächste Mal sagen. Es ist ungefähr
ebenso viel wie ich der Gräfin N.Wedekind kannte die in Paris lebende Schriftstellerin und Übersetzerin Emmy de Némethy seit Ende Mai 1893 [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 31.5.1893] und unterhielt mit ihr freundschaftliche Beziehungen. Emmy de Némethys Mutter war eine geborene Gräfin von Schärffenberg. schuldig bin Da ich aber weiß, daß die Dame nicht davon
spricht, fühl ich mich auch nicht verpflichtet es weiter zu erzählen. Apropos,
hat Donald Mieze denn auch einen Schuldschein ausgestellt? Sie soll doch ja
nicht vergessen, ihn daran zu erinnern. Daß ich Hartleben davon erzählt habe
war jedenfalls gut und Mieze wird mir dafür DankbarSchreibversehen, statt: dankbar. sein. Er verkehrt sehr viel
in Gesellschaft und ist nicht derjenige der so was für sich behält. Vielleicht
schreibt er auch eine Novelle darüber. Nun ich die Ziffer genau weiß, habe |
ich sie auch an Eisenschitz geschriebenDas Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Otto Eisenschitz, 31.7.1896. Frank Wedekind hatte den österreichischen Schriftsteller und Journalisten Otto Eisenschitz über seinen Bruder Donald kennengelernt, der mit ihm befreundet war., der vielleicht eine kleine Notiznicht nachweisbar. darüber
durch die Blätter gehen läßt.
Wenn du in deinen freundlichen Zeilen schreibst: „Wenn ich
fröhliche Mütter von ihren Söhnen erzählen höre, dann möchte ich am liebsten
tief unter dem Boden liegen“ so ist das nicht gerade sehr schmeichelhaft, hat
mich aber doch gefreut. Ich bin nämlich beauftragt einen Operntext zu
schreibenDas Projekt mit dem Titel „Nirwana“ hatte Otto von Grote, vermittelt durch den Schriftsteller Michael Georg Conrad, bei Wedekind in Auftrag gegeben (siehe dazu die Korrespondenz mit Otto von Grote). Den ersten Akt schickte Wedekind ihm Anfang August zu und rechnete mit einem Abschluss des Librettos innerhalb eines Monats. Als Komponisten für das „Musikdrama in fünf Aufzügen“ erwog er Hans Richard Weinhöppel oder Richard Strauss [vgl. Wedekind an Otto von Grote, 8.8.1896]. Das Projekt wurde nicht fertiggestellt [vgl. KSA 3/II, S. 1459-1461]., den Richard StraußAn Richard Strauss hatte sich Wedekind bereits Anfang des Jahres mit dem Vorschlag zur Bühnenbearbeitung und Vertonung eines (nicht näher ermittelten) Novellenstoffs sowie seiner beiden Tanzpantomien „Les Puces“ und „Der Mückenprinz“ [vgl. KSA 3/II, S. 765, 767] gewandt [vgl. Wedekind an Richard Strauss, 11.2.1896], jedoch ohne Erfolg. Richard Strauss, Kapellmeister am Münchner Hoftheater (Intendant: Ernst Possart) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1896, S. 436], war als Opernkomponist zu dieser Zeit noch nicht bekannt. oder HumpperdingEngelbert Humperdinck verzeichnete mit seiner Märchenoper „Hänsel und Gretel“ (1893) einen enormen Publikumserfolg. Vermutlich wollte Wedekind mit diesem bekannten Opern-Komponisten seine Mutter beeindrucken, seinem Auftraggeber gegenüber nannte er andere Namen (siehe oben). componiren soll. Da schrieb ich
denn vor drei Tagenam 29.7.1896. die Worte:Es folgt ein Zitat („Ich unglücksel’ge“ bis „gebeut“) aus dem 2. Auftritt des 1. Aufzugs (Figurenrede Richhilde) von „Nirwana“ [KSA 3/I, S. 725].
„Ich unglückselge, schwergeprüfte Mutter,
wodurch hab ich verschuldet diese Zücht’gung
Von dir, o Herr!
Die letzte Mutter unter dem Gesinde
Beneid’ ich um ihr Kind!
Das wählet ruhig den Pfad,
Sei er ihm nicht gewiesen,
Als wär’ es blind geboren,
Den ihm die Pflicht gebeut. e.ct“
Ich hatte schon gefürchtet, übertrieben zu | haben und sehe nun
mit Vergnügen, daß meine Zeichnung wahr ist. Deshalb ist mir dein Brief auch
sehr willkommen. Ich de werden den Charakter der Mutter im
weiteren Verlauf ganz nach dem Brief zeichnen. Eine hochstehende Mutter wird
freilich nicht daraus aber es giebt eben Mütter und Mütter. Welch blödsinniger Esel
ist doch, wenn man dein Urtheil hört, z. B. ein J. V. WidmannJoseph Victor Widmann war Feuilletonredakteur der Berner Zeitung „Der Bund“., der von uns, Mieze inbegriffen öffentlich als von Gotteskindern sprichtDie Formulierung ließ sich nicht belegen. Tatsächlich findet sich in Widmanns Blatt ein kritischer Beitrag gegen die „‘Von Gottesgnaden‘-Künstler“, also „gewisse Phrasen und Schlagwörter, bei denen man sich doch wundert, wie ein Journalist nicht schließlich rot wird, sie immer wieder anzuwenden. […] Aller Augenblicke liest man von einem ‚Dichter von Gottes Gnaden‘, von einem ‚gottbegnadeten Virtuosen‘, von einer ‚Sängerin von Gottes Gnaden‘. Wie oft z. B. die reizende Erika Wedekind so genannt worden ist, läßt sich nicht mehr zählen.“ [Der Bund, Jg. 47, Nr. 52, 22.2.1896, S. (2)]!
Und nun leb wohl, liebe Mama. Nochmals besten Dank. Auf
Wiedersehen in Dresden! Mit den herzlichsten Wünschen für Dein Wohlergehen dein
treuer Sohn
Frank.
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind