München, Adalbertstraße 34. – 10 Mai 96.
Liebe Mama,
heute sehe ich auf einmal mit Schrecken daß schon der 10.
ist. Ich habe mich seit 8 Tagen nicht mehr um das Datum gekümmert. Das kann
dich bei JemandenSchreibversehen, statt: Jemandem. der in seinen Gedanken lebt, nicht Wunder nehmen. Ich bitte
dich, nachträglich noch meine herzlichsten Wünsche zu Deinem GeburtstagEmilie Wedekind hatte am 8.5.1896 ihren 56. Geburtstag. e/h/inzunehmen
und noch einmal meinen Dank für deine Güte, der ich mein jetziges relatives
Wohlbefinden verdanke. Ich habe nur noch Dich, du bist die Einzige, der ich zum
Geburtstag gratuliere. Donald und Mati, die ich nicht weniger liebe, habe ich
es nie gethan. Du wirst es mir also nicht zu schwer verdenken, wenn ich zwei
Tage zu spät komme.
Da ich seit meinem HierseinWedekind war seit dem 21.3.1896 in München (Adalbertstraße 34, Parterre) bei der Bankbeamtenwitwe Anna Flohr gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. von Niemanden, außer Donald,
etwas gehört habe, so hoffe ich annehmen zu dürfen, daß es dir gut geht, daß du
dich in DresdenEmilie Wedekind besuchte gemeinsam mit ihrer Tochter Emilie (Mati) bis Ende des Jahres ihre Tochter Erika in Dresden (Struvestraße 34, 3. Stock) [vgl. Adreßbuch Dresden 1896, 1. Teil, S. 850]. | wieder vollkommen eingewöhnt hast und dich des Aufenthaltes
von Herzen erfreuen kannst. An Gesellschaft wird es dir jedenfalls nicht
fehlen, vielleicht auch nicht an Sorgen, an Anregung und das ist meiner
unmaßgeblichen Ansicht nach das allerbeste für deine Gesundheit, denn deine
schwere Krankheit war doch nichts als die Folge von Mangel an Lebensmuth, als
die Folge der Einsamkeit. Daß man sich geistig wohlfühlt ist für die
körperliche Gesundheit vortheilhafter als alle Ärzte, Medicinen und Kuren.
Was mich betrifft, so geht es mir gut, jedenfalls bin ich im
besten Fahrwasser. Ich habe die Möglichkeit an meinen eigenen Sachen zu
arbeiten, solang ich Geld in der Tasche habe und wenn ich welches brauche,
schreibe ich eine Novelle oder ein GedichtNach der Publikation der Erzählung „Die Fürstin Russalka“ in der ersten Nummer des „Simplicissimus“ [vgl. Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 1-3] erschienen von Wedekind dort im Jahr 1896 noch die Erzählungen „Der greise Freier“ und „Die Liebe auf den ersten Blick“ sowie zehn Gedichte und sieben fiktive Interviews., das mir augenblicklich honorirt
wird. Vier Stunden arbeite ich täglich auf der RedactionDie Redaktion der von Albert Langen verlegten und herausgegebenen Münchner illustrierten Wochenschrift „Simplicissimus“ hatte 1896 ihren Sitz zunächst in den Verlagsräumen des Albert Langen Verlags in der Kaulbachstraße 51a [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1896, Teil I, S. 267]. ohne fest engagirt zu
sein, Das wird mir gleichfalls anständig bezahlt. Außerdem gelingt es mir hie
und da eine | Zeichnung zu verkaufen, Sachen die ich vor fünf Jahren in München
erworben und die seither bedeutend im Preise gestiegen sind.
Daß Donald mit seinen 24 Jahren noch nicht so weit ist, kann
keinen vernünftigen Menschen wundern. Seine Bébé RoseDonald Wedekinds Erzählung „Bébé Rose oder Der verirrte Freier“ erschien Ende des Monats [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 9, 30.5.1896, S. 1-3].
ist gedruckt, ich habe heute die Correctur besorgt. Erscheinen wird sie aber
erst in 3 Wochen; in der 9. Nummer des S. Donald schrieb mir verschiedentlichDie Briefe Donald Wedekinds aus Paris sind nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 16.4.1896 (und mindestens ein weiteres verschollenes Schreiben). von
Paris. Daß er mit seinen 150frs nicht ganz auskommt, besonders bei seinem Unwohlseinaufgrund seiner Syphiliserkrankung und ihrer Behandlung [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1895]. wundert mich
durchaus nicht. Ich habe ihm dreimal hintereinanderDie Begleitschreiben zu den Geldsendungen sind nicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 4.4.1896, 11.4.1896 und 18.4.1896. An diesen Tagen erschienen die ersten drei Nummern des „Simplicissimus“, in denen Texte von Frank Wedekind publiziert wurden, für die er Honorar erhalten haben dürfte. Der nächste Beitrag von ihm erschien am 9.5.1896. die Hälfte von dem „sauerverdienten
Geld“ geschickt, das ich gerade als Honorar erhalten. Ich bitte dich jetzt nur
um das Eine, und das wäre ja eigentlich Mati’s Sache, nämlich mit ihm in
Correspondenz zu bleiben und ihm hin und wieder kleine Summen, 30 oder 40 Mk. zu schicken, wie ich es
gethan habe und auch fernerhin thun werde, wenn es mir irgendwie möglich ist.
Ich hals/t/e es für eine heilige Pflicht desjenigen der sich in
glücklichen Verhältnissen befindet, mit dem Andern wenigstens in Beziehungen
| zu bleiben. Das Elend entschuldigt manche Taktlosigkeit, manche
Vernachlässigung. Das Glück entschuldigt nichts. Leute wie Mieze, die immer den
Tisch voll Essen vor sich gehabt haben, können das nicht begreifen. Sie würde
einem, der am Galgen hängt, noch allerhand übelnehmen, sonst wäre ich wol auch
schwerlich jemals mit ihr in Streit geraten. Mieze weiß nicht, wieviel ein
knurrender Magen sogar vor Gericht entschuldigt.
Ich sage das alles jetzt nicht für mich, sondern für Donald,
als Beweis dafür, daß es an uns ist, mit ihm in Beziehung zu bleiben.
Ich hoffe sehr liebe Mama, daß Du mich auf deiner Rückreise,
besuchen wirst. und hoffe auch, daß es noch eine geraume Zeit ist bis s/d/ahin,
erstens weil ich glaube daß dir der Aufenthalt in Dresden um vieles
vortheilhafter ist als der in Lenzburg und zweitens, damit ich dich um so
besser empfangen kann.
Noch einmal meine herzlichsten Glückwünsche und die besten
Grüße von deinem DankbarenSchreibversehen, statt: dankbaren. treuen Frank.
Mati magst du auch grüßen, wiewol sie mich in Zürich nicht
besucht und Mieze meinetwegen auch.
[Kuvert:]
Madame
Emilie Wedekind
Struve Strasse 34.
Dresden.