Kennung: 5115

Zürich, 29. Dezember 1895 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Zürich, Festgasse 21.I. – 29.12.95.


Liebe Mama

ich habe beinahe geweint vor Freude über deinen lieben warmen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 26.12.1895.. Mit gleicher Post erhältst du zwei Schriftstückenicht überliefert., die ich dich bitte Donald zu geben. Er wird darin aufgefordert am ersten deutschen belletristischen UnternehmenWie der weitere Brief deutlich macht, handelt es sich um die von Albert Langen herausgegebene und verlegte illustrierte Münchner Wochenschrift „Simplicissimus“. Das erste Heft – eröffnet mit Frank Wedekinds Erzählung „Die Fürstin Russalka“ [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 1, 4.4.1896, S. 1-3] – erschien im April 1896 und enthält Gedichte von Richard Dehmel, Theodor Wolff, Georg Herwegh, Carl Busse. Donald Wedekind publizierte in den ersten beiden Jahrgängen sieben Erzählungen im „Simplicissmus“, zum ersten Mal Ende Mai die Titelgeschichte „Bébé Rose oder Der verirrte Freier“ [vgl. Simplicissimus, Jg. 1, Nr. 9, 30.5.1896, S. 1-3]. mitzuarbeiten. Das Blatt bezahlt 20 pro Zeile. Das ist der größte Honorarsatz den man in Deutschland überhaupt bekommt. Außerdem stehen Donald eine Menge Zeitungen offen, die Zürcher Post die Basler Nachrichten, die schweizerische Rundschau, die allerdings weniger gut bezahlen. Das Anerbieten von Langen verdankt er lediglich seinem Roten Röckchen„Das rote Röckchen“ – Donald Wedekinds erste Novellensammlung – war 1895 bei Steinitz in Berlin erschienen.. Wenn er mit der Schriftstellerei weitermacht, kommt er vielleicht mit der Zeit am leichtesten zu irgend einer anderen einträglicheren Stellung. Ich halte es nicht für gerathen, ihn in diesem Augenblick einen anderen Beruf | beginnen zu lassen, da ich nicht glaube, daß er die nöthige Kraft dazu hat. Immerhin muß er Geld in der Hand haben und darnach werde ich mich in den nächsten Tagen auf dem Weg der AnnonceZusammenhang unklar. umsehen. In diesem Augenblick ist es mir nicht möglich da ich selber nur ein paar Pfennige habe, aber am 1. erhalte ich 200 frs.

Wenn ich bedenke, daß es in Deutschland 20000 Schriftsteller giebt und Donald mit seinen 24 Jahren es durch seine Arbeiten dahin gebracht, an den ersten Unternehmungen mitarbeiten zu können, so finde ich das allerehrenwerth. Ich wüßte unter all meinen Bekannten nicht Einen, der es dahin gebracht hätte. Hätte er irgend etwas anderes studirt so wäre er jetzt wol auch noch kaum in der Lage seinen Lebensunterhalt vollkommen verdienen zu können. Vielleicht hätte er dann noch Geld, vielleicht auch nicht. Ich werde Donald selber das nöthige über den Simplicissimus schreiben. Für ihn ist es jetzt das wichtigste, daß er seine eigene Arbeit liebgewinnt. Das wird ihn auch am ehesten aufrichten. ThomarDer Bakteriologe und Schriftsteller Elias Tomarkin war ein langjähriger gemeinsamer Freund von Armin, Frank und Donald Wedekind. dem ich Deinen lieben Brief vorlas, meinte | wir sollten ihn hierherkommen lassen, er wollte mit ihm zusammenwohnen. Aber jedenfalls hat er es bei euch in RomDonald Wedekind hielt sich wie seine Mutter und seine Schwester Emilie (Mati) in Rom auf. zehnmal besser als er es hier hätte. Ich arbeite hier an den/r/ Aufführung zweier meiner Stücke, in denen ich selber die TitelrollenDie Formulierung legt nahe, dass es sich bei den Stücken, nicht um die aktuelle Tragödie „Der Erdgeist“, sondern um den noch ungedruckten Schwank „Der Liebestrank“ (damals noch unter dem Titel „Fritz Schwigerling“) und die schon ältere Posse „Der Schnellmaler“ (1889) handelte, über den sich Wedekind zu der Zeit auch mit Franz Blei austauschte [vgl. Wedekind an Franz Blei, xx.12.1895]. Wedekinds Bemühungen blieben erfolglos. In der Uraufführung von „Der Liebestrank“ am 1.7.1898 in Leipzig spielte er den Fritz Schwigerling. spiele. Das kann mich noch zwei Monate in Anspruch nehmen. Sobald das vorüber ist, hoffe ich Donald herkommen lassen zu können.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Tausend Grüße an Mati und ebenso an Donald. Mit den herzlichsten Glückwünschen zum neuen Jahr dein dankbarer treuer Sohn
Frank. |

Privatim!!nicht öffentlich, vertraulich. Das so gekennzeichnete Blatt ist vermutlich nach dem Eintreffen von Donald Wedekinds nicht überliefertem Brief [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.12.1895] verfasst und von Wedekind dem zuvor bereits fertigen Brief beigefügt worden.

Liebe Mama, ich halte es für meine Pflicht, dir etwas mitzutheilen, was du zum Theil schon zu wissen oder doch zu ahnen scheinst. Donald ist krank.Wie der weitere Brief deutlich macht, hatte sich Donald Wedekind offenbar beim Besuch von Prostituierten mit Syphilis infiziert. Es handelt sich bei ihm thatsächlich um Leben und Tod. Daher hauptsächlich auch seine DepressionDer Zusammenhang zwischen der psychischen Erkrankung und der Syphiliserkrankung galt zeitgenössisch als belegt: „Aber auch die psychische Verfassung des Kranken ist zuweilen schon früh verändert, nicht sowohl durch den Gedanken, dass man sich etwa durch Unvorsichtigkeit, durch Leichtsinn eine ernste, langdauernde Krankheit zugezogen hat, als wie vielmehr durch Einwirkung des Infectionsstoffes auf die psychischen Centren. Mutlosigkeit, düstere Auffassung seines Leidens, verzweifelte Stimmung bis zu Selbstmordideen wird der Kranke trotz der ernstesten und noch so oft wiederholten Zusicherung seiner Heilung seitens des Arztes erst dann los, wenn die eingeleitete Behandlung die nachteilige Einwirkung des Krankheitsstoffes immer mehr vermindert hat.“ [Ludwig Schuster: Die Syphilis, deren Wesen, Verlauf und Behandlung. Berlin 1887, S. 13] . Er hat sich verdorben in der ersten Zeit als er in Berlin war. Er muß nothwendig unter ärztlicher Controlle stehen. Er muß wöchentlich einm/zwei/mal, mindestens einmal zum ArztSyphilis wurde zeitgenössisch durch die regelmäßige Verabreichung von Quecksilberpräparaten über einen längeren Zeitraum behandelt: „Zur symptomatischen Behandlung sind natürlich sämmtliche Quecksilberpräparate und alle diejenigen Applicationsmethoden geeignet, welche eine schnelle und gründliche Merkuralisirung des Körpers erreichen lassen. Man kann diesen Anforderungen gerecht werden durch Schmierkuren, durch innerliche Darreichung, durch hypodermatische Einspritzungen und durch Fumigationen.“ [Ferdinand Grimm: Die Behandlung der Syphilis nach den gegenwärtig üblichen Methoden. Berlin 1896, S. 84]. Als besonders erfolgversprechend galten dabei regelmäßige Injektionen von Quecksilberchlorid (Sublimat): „Georg Lewin, der Repräsentant der Berliner Schule, hat mit seinen Injectionen von Sublimat bei einem überwältigenden Materiale glänzende Erfolge zu verzeichnen.“ [Ebd.] gehen. Wenn er das thut kann er in einigen Monaten geheilt sein. Solange er Geld hatte war er gewissenhaft darin aber ich fürchte daß er sich jetzt vernachlässigt, und das wäre kurzweg das Verderben für ihn. Schicke ihn also bitte zum Arzt, unter irgend einem Vorwand, wenn er nicht selber hingeht. Deshalb meinte Thomar auch, er solle hierherkommen. Er schickt mirDer Brief Donald Wedekinds an Frank Wedekind sowie der beigelegte Brief an Erika Wedekind sind nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.12.1895. einen herzzerreißenden Brief an Mieze worin er ihr alles mittheilt und sie bittet ihm die Mittel zu gewähren, daß er sich behandeln lassen kann. Die Cur kann ihn monatlich immerhin 100 frs kosten, wenigstens wenn er sich an einen Specialisten wendet. Ich fürchte aber daß der Brief auf Mieze die entgegengesetzte Wirkung haben wird. Statt dessen giebt sie WohlthätigkeitsconcerteErika Wedekind hatte am 30.11.1895 „ihre magnetisch wirkende Kraft zu Aarau in den Dienst edler Wohltätigkeit [ge]stellt. Das Konzert, das hier zu Gunsten des chirurgischen Kinderpavillons in der Aarg. Krankenanstalt abgehalten wurde, gestaltete sich durch ihre Mitwirkung zu einem Tonfest auserlesener Art und verdankte derselben eine Reineinnahme von über 1500 Franken.“ [A. Niggli: Erika Wedekind, eine schweizerische Sängerin. In: Die Schweiz, Jg. 1, 1897, Bd. 1, S. 19]! | In BerlinWedekind war am 20.1.1895 nach Berlin gekommen und hielt sich dort die nächsten Monate auf. sprach ich mit seinem Arzt, als er an der BlindarmentzündungSchreibversehen, statt: Blinddarmentzündung. Der Zeitpunkt der Erkrankung ließ sich nicht bestimmen. niederlag und nichtSchreibversehen, statt: und ich nicht. zu ihm konnte, dem ersten dortigen Specialisten, Geheimrat LewinProf. Dr. med. Georg Lewin, Geheimer Medicinal-Rat, Spezialarzt für Syphilis und Hautkrankheiten und Direktor der Klinik für Syphilis in der Charité (Roonstr. 8) [vgl. Berliner Adreß-Buch 1895, Teil I, S. 790]. Von ihm stammt das Standardwerk „Die Behandlung der Syphilis mit subcutaner Sublimat-Injection“ (Berlin 1869).. Er sagte mir, es sei eine sehr leichte Attaque bei ihm und entließ ihn einige Monate darauf als geheilt. Er hat sich aber geirrt, da er in Lenzburg wieder einen Anfall hatte und auch jetzt wier er mir schreibt. Daher kommt vor allem seine absolute Muthlosigkeit. In Berlin habe ich in dieser Beziehung furchtbare Stunden mit ihm durchgemacht. Und jetzt trage ich schließlich die Schuldda Frank Wedekind die Schulden bei seinem Bruder, der offenbar um Geld gebeten hatte, nicht begleichen konnte (siehe die vorangegangene Korrespondenz mit der Mutter)., daß er seine Cur nicht fortsetzen kann. Wenn Mieze einen Funken Herz hätte, sie die ihr ganzes väterliches v/V/ermögen noch besitzt, so würde sie ihm das Nöthige zur Verfügung stellen, bis er geheilt wäre. Ich werde es noch einmal mit einem Brief an sie versuchen. Donald kann ihr durch sein Talent und seine Begabung nur Ehre in der Welt machen, sie kann nur stolz auf ihn sein. Aber auf solche Empfindungen versteht sie sich nicht. Er ist ihr höchstens im Wege, weil er kein gewöhnlicher Dutzendmensch ist. Übrigens schickst du ihr vielleicht diese Zeilen, nachdem du sie gelesen. Bis jetzt war ich der Einzige, der um die Sache wußte. Thomar hat es geahnt, so gut wie du es vielleicht geahnt hast. Aber der Brief von Donald an Mieze giebt mir wol das Recht zuerst dir davon zu sprechen. Ich werde ihn vorderhand noch nicht abschicken. Bitte, schreib mir, wenn auch nur mit ein PaarSchreibversehen, statt: paar. Worten. Seine Umgebung hat nicht das geringste zu fürchtenÜbertragungswege der Syphilis jenseits von Geschlechtsverkehr galten als sehr unwahrscheinlich., wenn er sich nur gewissenhaft behandeln läßt, aber ich glaube, daß er den letzten Rest von Un|befangenheit verlieren wird, wenn er erfährt, daß du genau um die Sache weißt.

Schreib mir bitte sofort per Carte, ob du Mieze diese Zeilen schicken willst oder nicht. Andernfalls schreibe ich noch einmal, sos/n/st schicke ich ihr nur den Brief von D.


[Kuvert:]


Madame Emilia Wedekind
5 Piazza di Spagna
Rome.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 13,5 x 21 cm. 5 Seiten beschrieben. Kuvert. 12 x 9,5 cm. 1 Seite beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das zweite Einzelblatt ist mit „2.“ überschrieben (hier nicht wiedergegeben). Den Schluss des mit „Privatim!!“ überschriebenen Blattes hat Wedekind um 90 Grad gedreht auf den linken Seitenrand der Rückseite, dann auf den linken Seitenrand der Vorderseite und schließlich um 180 Grad gedreht auf den Kopf der Seite geschrieben. Das Kuvert ist mit zwei um 90 Grad gedreht aufgeklebten Briefmarken zu je 25 Rappen frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel Zürich: „V“ (= 5 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Rom: „12 M“ (= 12 Uhr).

Erstdruck

Briefwechsel mit den Eltern 1868‒1915. Band 1: Briefe

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2021
Seitenangabe:
281-283
Briefnummer:
135
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Konvolut Burkhardt, Nidderau
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.12.1895. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

01.03.2024 12:21