Kennung: 5072

Paris, 14. November 1892 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Paris 14.XI.92.


Liebe Mama,

herzlichen Dank für deine SendungDas Begleitschreiben zu der Geldsendung ist nicht überliefert: erschlossenes Korrespondenzstück: Emile Wedekind an Frank Wedekind, 12.11.1892. mit der ich bis März jedenfalls auszukommen hoffe; zumal ich noch eine Quelle in meinen eigenen Finanzen entdeckte, die ich bereits erschöpft glaubte und auf Neujahr einige kleine EinkünfteVermutlich hoffte Wedekind auf die Annahme seines Schwanks „Der Liebestrank“ („Fritz Schwigerling“), den er am 11.7.1892 beendet [vgl. KSA 2, S. 997] und das Manuskript an den Berliner Bühnenverlag A. Entsch geschickt hatte [vgl. Wedekind an Theodor Entsch, 3.8.1892]. Außerdem erwartete er zum Jahreswechsel Einkünfte vom Verleger Jean Groß in Zürich für „Frühlings Erwachen“ (1891) [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.1.1893]. erwarte. Es freut mich herzlich, daß du die Wohnung | im SteinbrüchliWegen des bevorstehenden Verkaufs von Schloss Lenzburg im Frühjahr 1893 plante Emilie Wedekind ihren Umzug in das Haus Steinbrüchli (mit seinen zahlreichen Nebengebäuden), das Friedrich Wilhelm Wedekind 1875 gekauft hatte [vgl. AfM Zürich, PN 169.1: 316]. für dich zu reserviren gedenkst und ich hoffe zuversichtlich, daß du sie nicht mit den Überbleibseln der Liquidationhier: der Verkauf des Inventars von Schloss Lenzburg. ausstattest, sondern mit allem demjenigen was dir am liebsten ist. Ebenso zuversichtlich hoffe ich, daß du trotz dieses Buon RetiroSchreibversehen, statt: Buen Retiro (span.) Zufluchtsort, Ruheort. deine Dresdner ReiseEmilie Wedekind reiste Ende des Jahres zu ihrer Tochter Erika nach Dresden, die am dortigen Konservatorium eine Ausbildung zur Opernsängerin absolvierte. nicht aufgiebst, auch wenn sich die Geschäfte in LenzburgEmilie Wedekind war nach dem Tod ihres Gatten in Lenzburg mit „der Abwicklung [...] der Erbteilung einschließlich des Verkaufs von Schloss Lenzburg [...] beschäftigt“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 161]. etwas in die Länge ziehen sollten. Du bist diese Erholung, dir/e/ | dir vielleicht vorderhand nicht als Erholung erscheint, in erster Linie dir selber schuldig, in zweiter Linie dem aufsteigenden Gestirn unserer Mieze, und in dritter Linie uns Übrigen. Darin liegt keine Anzüglichkeit, aber wenn deine energische Thätigkeit auf dem eng begrenzten Raum demnächst erlischt, so kannst du wol keine bessere Entschädigung dar/f/ür finden, als wenn du deinen Wirkungskreis, die Domäne deiner Interessen, so weit wie möglich erweiterst. Es wird | das das beste Mittel dagegen sein, dich nach der plötzlichen Beendigung einer so schweren Arbeit unglücklich zu fühlen, dich enervirt zu fühlen, und unter dem zwingenden Impuls eines unruhigen Drängens nach Thätigkeit irgend etwas anzufangen, was die Fühlung zwischen dir und dem was dir das liebste auf der Welt ist, aufs Spiel setzen möchte. Du hast von jeher deine größte Stärke darin bewiesen, muthig an Sachen heranzutreten, die dir am schwersten wurden. | Wenn du deine Reise nach Dresden von diesem Standpunkt aus betrachtest, so wird sie dich am wenigsten Überwindung kosten. Und wenn es dir in Dresden thatsächlich so wenig gefällt wie du fürchtest, so hast du dann ja immer den Trost, im Sommer wieder Lenzburger Luft zu athmen, Mieze bei dir zu haben die in die Ferien komms/t/, und wenn es dir in Lenzburg zu eintönig wird, so fühlst Du dich vielleicht wieder stärker nach Dresden hingezogen, als du jetzt noch | ermessen kannst. Es giebt wol kein größeres Glück als jemanden, zumal eine Künstlerin, die das Jahr durch arbeitet, in den Ferien bei sich zu haben, sie körperlich und geistig neue Kräfte sammeln zu sehen, und ich hege die feste Zuversicht, daß du den Muth in dir fühlst, ruhig an das Glück heranzutreten, und innere Größe und Selbstschätzung genug um dich des Glückes würdig zu erachten. Im Familienkreise mit Kind und Kegel, mit den täglichen kleinen Sorgen und | dem möglichst engen Horizont mag man sich behaglicher fühlen. Aber die Menschen, und vor allem Naturen wie du, haben ihre Gaben doch nicht vom Himmel h erhalten, um sich behaglich zu fühlen.

Verzeih mir liebe Mama, daß ich zum Dank für deine große Hülfe, schulmeistere. Du weißt daß ich es nicht lassen kann. Du wirst den Brief mit einem Achselzucken, das ich dir nicht verdenke, bei Seite legen. Aber wenn alle Geschäfte abgeschlossen, nimmst du ihn vielleicht wieder zur Hand, | und verzeihst mir eher als als du es jetzt kannst.

Vor vierzehn Tagen schrieb ichDer Brief ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Olga Plümacher, 1.11.1892. an Tante Plümacher und wagte, in der Voraussetzung daß du ihr noch nicht geantwortetDie Korrespondenz zwischen Olga Plümacher und Emilie Wedekind ist nicht überliefert., dich zu entschuldigen;/./ Sollte ich dir Unrecht gethan haben, so bitte ich mir das nicht zu schwer anzurechnen.

Und nun leb wohl, liebe Mama! Nochmals herzlichen Dank! Hier ist das herrlichste Frühlingswetter. Dessen ungeachtet habe ich Paris endlich überwunden. Ich bin wieder ganz keusch geworden. – Mit den besten Grüßen dein treuer Sohn
Franklin

4 rue Crébillon.


[Kuvert:]


Suisse

Madame
Emilie Wedekind
Schloss Lenzburg
(Aargau)

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 9 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. 8 Seiten beschrieben. Kuvert 12 x 9,5 cm. 1 Seite beschrieben. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit einer aufgeklebten Briefmarke zu 25 Centimes frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Posteingangsstempel Lenzburg: „X“ (= 10 Uhr).

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
237-239
Briefnummer:
96
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 262-264 (Nr. 122).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 14.11.1892. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

29.02.2024 10:51