Paris 13.IX.92.
Liebe Mama,
gesternam 12.9.1892. nach Paris zurückgekehrt beeile ich mich um dir
Nachrichten über unsern Genfer AufenthaltFrank und Donald Wedekind hatten ihre Schwester Emilie (Mati) in Genf besucht, wo sie seit Anfang Mai 1892 ein Mädchenpensionat besuchte. zu geben. Es ist geradezu unglaublich
was Mati für eine MethamorphoseSchreibversehen, statt: Metamorphose. durchgemacht hat. | Ich verließ sie letzten
HerbstWedekind war vermutlich ab dem 19.9.1891 zu Besuch auf Schloss Lenzburg [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 13.9.1891]. mit dem Eindruck eines im höchsten GeradeSchreibversehen, statt: Grade. Nervösen Wesns/en/s,
unzufrieden,
launenhaft, in fortwährender Aufregung und dabei gelangweilt. Ich fand sie in
Genf wieder mit ihrer ganzen Seele mit dem Hause in dem sie lebt verwachsen.
Zum voraus die Thatsache, daß von der bewußten Geschichtenicht ermittelt. auch nicht mit |
einer Sylbe zwischen uns die Rede war, aber auch nicht von irgend einer andern
Geschichte, die an deren Stelle getreten wäre, am allerwenigsten von Themata wie Küssen e. ct. in denen sie sich
letzten Herbst mit dem auf mich damals beängstigend wirkendem Feuerefifer
zu ergehen pflegte.
Da wir Mati von Bern ausIn Bern besuchte Wedekind den 4. Weltfriedenskongress (22. bis 27.8.1892). Zum Abschluss fand am 27.8.1892 abends eine „litterarisch-künstlerische Soiree“ statt, auf der nicht nur Bertha von Suttner las, sondern auch Wedekinds Freund Karl Henckell: „Der ebenfalls am Kongreß anwesende sehr junge und schon so berühmte Dichter Karl Henkell wird ein auf den Kongreß hin verfaßtes Friedenslied vortragen.“ [Weltfriedenskongreß. Samstag-Soirée. In: Intelligenzblatt und Berner Stadtblatt, Jg. 59, Nr. 203, 27.8.1892, Samstag Morgen, S. (3)] Wedekind sei „nach dem Vortragsabend“ so angetan gewesen, dass er Bertha von Suttners „Buch ‚Die Waffen nieder‘ der Schwester Mati schenkte, als er sie mit Donald zusammen in ihrer Genfer Pension besuchte.“ [Kutscher 1, S. 268] telegraphirt Das Telegramm ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank und Donald Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 28.8.1892.hatten wurden wir von
ihr und Frl.
HäuslerErzieherin am Mädchenpensionat „Les Violettes“ in Genf. am Bahnhof erwartet. Frl. Häusler | überließ sie uns und wir gingen mit
ihr in’s Hotel diniren. Was mir zuerst an bei ihr auffiel, war ihr
frisches G/g/esundes Aussehen. Die dicken rothen Backen stehen ihr nicht gerade vortheilhaft (ich
bitte ihr das aber nicht im nächsten Brief mitzutheilen) indessen kommt das
Aussehen ja gegenwärtig bei ihr thatsächlich nicht in Betracht. Schuld daran
trägt jedenfalls in
erster Linie ihre vollkommene innere Ruhe, die Harmonie in | ihrer
Empfindungswelt, die sich auf den denkbar engsten Kreis, nämlich auf Frl E Dürst
beschränkt, dort aber offenbar alles in reichstem Maße findet, was ihr
gegenwärtig seelisches Bedürfniß ist. Als uns Frl. DürstEmilie (Mati) Wedekind besuchte das von Emma und Helene Dürst geleitete Mädchenpensionat „Les Violettes“ in Genf. Über ihre Ankunft berichtete sie ihrem Bruder Armin am 6.5.1892 in einem Brief: „Um 6 Uhr kamen wir in Genf an und waren Frl. Hausler und Frl. Emma schon an dem Bahnhof. Es ist ein sehr weiter Weg bis in die Pension. Das Häuschen das wir bewohnen liegt ganz im Grünen. Man denkt absolut nicht, daß man in einer großen Stadt lebt. Ich habe mein Zimmer mit einer kleinen Engländerin zusammen. […] Ich fühle mich hier schon ganz behaglich.“ [AfM Zürich, PN 169.5:060] zwei Tage darauf zu Tisch begleitete
lernte ich Mati in dieser Hinsicht auch vollkommen begreifen. Das ruhige, etwas
reservirte durchaus vornehme Auf|treten von Frl. Dürst, ihre gleichmäßige innige
Liebenswürdigkeit, ihre feinfühlige Art auf die Menschen einzugehen, alles wol KenntzeichenSchreibversehen, statt: Kennzeichen. einer Natur,
die bei den mannigfachsten Erlebnissen den Schwerpunkt ihrer Entwicklung in
sich selber gefunden, werden bei Mati eben ähnliche Veranlagungen zu honoriren
verstehen. |
So lang wir in Genf waren aß Mati mit uns im Hotel den Abend
des zweiten Tages
ausgenommen, wo wir in der Pension eingeladen wo waren. Doda der sich
indessen nicht viel Unterhaltung davon versprach und überdies einem Bekanntennicht ermittelt.
begegnet war, hatte
sich entschuldigt. Bei Tisch unterhielt ich mich fast ausschließlich mit Frl Häusler über
allerhand | Sammlungen in München, Stuttgart e. ct. Ich war dabei sicher, es mit niemanden zu
verderben. Nach aufgehobener Tafel setzte sich Helene Dürst ans Piano und gab einige Reminiscenz/c/en
aus ihrem Aufenthalt in Portugal zum besten. Am andern Vormittag begleitete uns
Emma Dürst in’s Hotel. Gegen S Schlß Schluß des Dinner
war sie schon beinah so weit vollständig aufzuthauen, | i/I/ndessen gab
ihr der u/U/mstand daß sie am selben Abend zwei neue Engländerinnen
erwartete, bald ihre ganze Reservas/t/ion zurück. Wir gingen in’s Musee ArianaSchweizerisches Keramik- und Glasmuseum in der Avenue de la Paix in Genf. wo wir, da ich sehr viel
Sehenswürdiges fand bis zum Abend blieben. Leider war das Wetter nicht gerade
günstig und das
Theater geschlossen. So beschränkten wir uns denn darauf die Stadt zu
besichtigen, die | verschiedenen Confiserien zu inspizieren, nebenbei auch
einige Kunstläden, in denen sich Mati mit vielem Geschmack zurechtfand. Mit einem reizenden Ballet das
ich im Cursaal entdeckt hatte, hatte ich weniger Glück – offenbar
Zugeständnisse, die Mati, für das was ihr die Pension bietet, ihrerseits macht,
aber in aller Aufrichtigkeit macht, ohne eine Spur von Affectation(frz.) Geziertheit.. Ohne daß
sie ein Wort gesagt hätte merkte ich, daß ihr | nicht ganz behaglich dabei zu
Muth war, es paßte nicht recht in ihr Gefühlsleben. Letzten Herbst hätte sie
sichs jedenfalls mit
dem größten Genuß und Vergnügen angesehen und wird das auch später wieder thun.
In dieser Erwägung begleitete ich sie, ehe das schönste, nämlich ein
entzückendes Solo kam nach Hause. Es war übrigens auch schon zehn Uhr vorbei.
Doda reiste am | Freitag Abendden 9.9.1892. nach Turin ab. Ich blieb noch
einen Tag mit Mati zusammen, indem wir uns des guten Hotelessens und einiger gemüthlicher Cigaretten bei
schwarzen Café auf meiner Stube erfreuten, packte sie dann Sonnabend Abendden 10.9.1892. in eine Droschke nach Les Violettes, während ich selber in
Gesellschaft | einer Genfer Malerinnicht ermittelt., der ich ihren mächtigen Farbenkasten in’s
Coupée hatte tragen
helfen nach Paris abdampfte. Ich half ihr hier ein Zimmer suchen, gab ihr eine
Empfehlung an Frl. BreslauMit der Malerin Louise-Cathérine Breslau (Avenue des Terne 40) [vgl. Paris-Adresses 1893. S. 197] hatte Wedekind während seines Pariser Aufenthalts regelmäßig Kontakt [vgl. Tb]. und habe seither zwei Mal mit ihr soupirt. Sie will 24
Jahr alt sein, sieht aber noch beinah aus wie ein Backfisch. Von ihrer Malerei
habe ich noch nichts gesehen. | Paris ist um vieles belebter als ich es vor 4
Wochen verlassen. Meinen Freund Weinhöppel traf ich mit seinen beiden SchülerinnenFräulein von Sonnenburg und Fräulein Schedlbauer, zwei Gesangsschülerinnen, die Hans Richard Weinhöppel von München aus nachgereist waren: „Um 12 kommt Weinhöppel. Er liest mir einige Briefe vor von zwei Schülerinnen, die ihm nachreisen wollen.“ [Tb 21.5.1892] „Morgen langen seinen beiden Schülerinnen an.“ [Tb 13.6.1892] Über seine erste Begegnung notierte Wedekind: „Ich höre schon im Corridor den Gesang seiner Schülerinnen. […] Die angenehmere von ihnen, Frl. von Sonnenburg, ist weit über die Jahre hinaus und doch wol kaum je so recht mitten drin gewesen. Die andere Frl. Schedelbauer mit herunterhängender Nase und schiefen Augen ist geradezu gewöhnlich.“ [Tb 21.6.1892] In der Folge trifft Wedekind häufiger mit Weinhöppel und seinen Schülerinnen zusammen: „Nach dem Diner suche ich Weinhöppel auf, finde ihn bei seinen Damen. Er musicirt mir einiges vor. Darauf bitte ich Frl. Schedelbauer zu singen. Ihr Gesang versöhnt mich vollkommen mit ihrer | unglücklichen Erscheinung.“ [Tb 29.7.1892] in bestem
Wohlsein. Zur Feier des Wiedersehens führten wir sofort ein Violinconzert mit
Guitarrenbegleitung auf. Das Loblied der SyringeLiedkomposition von Hans Richard Weinhöppel nach dem Gedicht „Lob der Syringe“ von Karl Henckell [Aus meinem Liederbuch. München 1892, S. 175]. will er dir abschreiben. Ich werde es | dir dann
sofort zukommen lassen und hoffe daß du noch Gelegenheit hast, es Dir von Mieze
vortragen zu lassen.
Und nun leb wohl liebe Mama. Noch vielen herzlichen Dank für
die angenehmen schönen Stunden, die wir dieses Mal zu Hause zusammen verlebt.
In der Hoffnung dasSchreibversehen, statt: Hoffnung dass. Mieze noch recht lange bei dir bleibt um | dir das
bevorstehende Alleinsein möglichst abzukürzen, mit den besten Wünschen für
deine Gesundheit, mit vielen Grü/her/zlichen Grüßen an Mieze und an dich
selber dein treuer Sohn
Franklin.
4 rue
Crébillon.