Paris, 21.1.92.
Liebe Mama,
ich habe dir die herzlichsten Grüße auszurichten von Mr. und Mm
PerréDie Familie des Champagner- und Weinhändlers Eugène Perré war wiederholt zu Besuch auf Schloss Lenzburg gewesen, der Sohn Eugène blieb von Sommer 1889 bis September 1890 auf Schloss Lenzburg, um Deutsch zu lernen [vgl. Miranda Ludwig-Zweifel: Freundschaft mit dem Familienkreis Wedekind. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 38, 1967, S. 20f.] und heiratete 1910 Emilie (Mati) Wedekind., von Eugène und der kleinen Mimi. Sonnabend vor acht Tagenam 9.1.1892. war
ich bei ihnenin Neuilly-sur-Seine, einem Vorort im Westen von Paris; der Firmensitz der Weinhandlung befand sich hingegen in Reims (Rue Coquebert 45). zum Déjeuner(frz.) Mittagessen. eingeladen. Wir tranken auf deine Gesundheit und auf
diejenige von Mieze, natürlich in Champagner Perré der zugleich den Stoff zur
Unterhaltung lieferte. Die Küche war delicieusSchreibversehen, statt: délicieuse, (frz.) köstlich.. Ein vorzüglicher SalmLachs. als
Entrée(frz.) Vorspeise. darauf
Beefsteaks wie man sie nur in Paris ißt, dann eine Schüssel gebratener SchwämmePilze.
mit Zwiebelsauce und schließlich Rebhühnerpastete mit | sehr großen Trüffeln. Jedes
Gericht wurde auf Mr Perrés Initiative hin eingehend
besprochen und in den Pausen trug immer wieder die Champagnerfabrication die
Kosten der Unterhaltung. Mr.
Perré der am nämlichen Tag
für einen Monat nach Havre verreiste, trug mir bei jedem Gang von neuem auf,
dich zu grüßen so daß ich nicht umhin kann zu vermuthen, er erwarte auch von
dir ein Echo seiner glänzenden Tafel zu hören. Eugène war seither verschiedene
Male bei mir. Wir besuchten zusammen einige der hervorragenstenSchreibversehen, statt: hervorragendsten.
Vergnügungslokale und
wollten letzten Sonntagam 17.1.1892. zusammen in die Oper besuchen gehn. Leider blieb | er aus und hat sich seitdem noch nicht
wieder sehen lassen. Über Mdm
Perré habe ich noch kein
Urtheil gewonnen, indem sie sich meistentheils schweigsam verhielt. Außer mir war noch ein sehr
jovialer netter Junggesellenicht identifiziert. in den besten Jahren zu Gast; natürlich gleichfalls
Champagnerhändler. Wir tranken im ganzen nur zwei Flaschen, sprachen aber
soviel darüber, daß wir schließlich ein vollständiges BacchanalTrinkgelage. gefeiert zu
haben glaubten.
Der hervorragendste Eindruck den ich bis jetzt von ParisWedekind war am 29.12.1891 gegen 8 Uhr morgens in Paris angekommen [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1891].
erhalten ist der, daß man sich hier so über die Maßen heimisch fühlt. Man
glaubt hier geboren zu sein, auch wenn man die Menschen noch kaum versteht. Wie du vielleicht von
Hami erfahrenvgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 1.1.1892. traf ich mit einem jungen Amerikaner, einem angehenden OperncomponistenLeo Rich Lewis aus Woodstock in Vermont studierte drei Jahre an der Königlichen Musikschule in München Komposition und schloss beim Prüfungskonzert am 30.6.1892 mit Auszeichnung ab [vgl. Jahresbericht der K. Musikschule in München. 16. 1889/90, S. 10; 17. 1890/91, S. 10; 18. 1891/92, S. 10, 12 u. 41]. Mit ihm hatte Wedekind während seines Pariser Aufenthalts regelmäßig Kontakt [vgl. Leo Rich Lewis an Wedekind, 19.7.1892 und Tb 11.12.1892].
hier ein, mit dem ich seither die vorzüglichsten Theater besuchte. Im übrigen
habe ich eigentlich noch so gut wie keinen | Umgang. Ich bin TagelangSchreibversehen, statt: tagelang. allein, was
hier nicht schwer zu ertragen und meiner Arbeit trefflich zustatten kommt. Frl. HünyDie Schweizer Journalistin Emilie Hüni lebte seit 1881 in Paris und berichtete von dort unter anderem regelmäßig unter dem Kürzel „E. H.“ für die „Neue Zürcher Zeitung“., die ich gleich
am ersten Tagden 29.12.1891. aufsuchte und die mir versprach mich mit den berühmten Zürcher MalerinnenWedekind lernte über Emilie Hüni u. a. die in Zürich aufgewachsene deutsche Malerin Louise-Cathérine Breslau kennen, die berühmteste Malerin ihrer Zeit in Paris. 1876 war sie zum Kunststudium an die Académie Julian nach Paris gegangen, stellte seit 1879 im Salon de Paris aus und hatte 1889 auf der Pariser Weltausstellung die Goldmedaille erhalten. Sie war eine Freundin Emilie Hünis, mit der sie sich auch über die Werke Wedekinds austauschte.
bekannt zu machen, hat seither noch nichts wieder von sich hören lassen. Einen
auch für die heutigen Verhältnisse beiläufig noch ganz praktikablen Führer besitze ich an Papa’s TagebuchDas Pariser Tagebuch von Friedrich Wilhelm Wedekind ist überliefert in dem Heft „Aufzeichnungen aus den Jahren 1854–1856“ [vgl. AfM Zürich, PN 169.1: 308]. Wedekinds Vater hielt sich vom 30.5.1854 bis 22.6.1854, vom 19.12.1854 bis 5.6.1855 und vom 19.8.1855 bis 31.10.1855 in Paris auf. In den kurzen Tagebucheinträgen notierte er die von ihm besuchten Theater, Lokale und Hotels..
Ich besuchte verschiedene darin namhaft gemachte Localitäten und fand das
denkbar höchste an Geschmack, Eleganz und Grazie. Es ist unglaublich wie
erfinderisch diese Pariser Kunsttempel darin sind sich selbst und ihre
Concurrenten in Kostümen zu überbieten. Ich habe diese Art Cultus von jeher sehr
hoch zu schätzen gewußt, ich habe auch in München nichts versäumt was in
Kostümkunde zu profitiren war und fühle mich demgemäß hier gewissermaßen an der
hohen Schule. Ich sah in den hervorragenstenSchreibversehen, statt: hervorragendsten. Theatern Stücke, deren einzige
Pointe in der glänzenden Steigerung der ToilettenefecteSchreibversehen, statt: Toiletteneffecte. der betreffenden Heldin
lag.
Was die Wohnung betrifft, so befinde ich mich gegenüber München,
wo ich 2 Jahre parterreWedekind war in der Akademiestraße 21 vom 3. Stock ins Parterre (links) gezogen und dort seit dem 11.5.1890 gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. wohnte, wieder in den höchsten Höhen, fühle mich
indessen sehr wohl in einem kleinen Zimmer mit großem Bett und knisterndem Kaminfeuer. Der Wirth, der
Kellner, das Zimmermädchennicht identifiziert. und meine Nachbarn sind alle gleich liebenswürdig
und wetteifern in Zuvorkommenheit. Morgens 9 Uhr bringt mir der Kellner | den Cafe,
gegen zehn stehe ich auf und arbeite bis eins. Danach gehe ich zum Frühstück
und dann in irgend ein Cafe, wo ich gewöhnlich auch schreibe wie z. B. jetzt an
dich, an einem der belebtesten Boulevards, wo eine dichte Menschenfluth an den Fenstern
vorbeiwogt und ununterbrochen fünf Reihen Fiaker und Omnibusse über das Pflaster traben. Abends komme
ich in der Regel gegen 2 nach Hause und lese noch einiges. Man schläft somit
sehr wenig und befindet sich doch außerordentlich wohl dabei.
Von Tante Plümacher erhielt ich einen äußerst lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Olga Plümacher an Wedekind, 1.1.1892.. Ich
hatte einige Tage vorher angefangen an sie zu schreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 21.1.1892. und schloß daher mit
meiner Antwort auf ihre Fragen. Über ihre Reisen nach Südamerika habe ich
seinerzeit einiges im GlobusPublikationen von Olga Plümacher in „Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde“ ließen sich nicht nachweisen. Artikel über Venezuela, wo ihr Mann Eugen Herrmann Plümacher US-amerikanischer Konsul war, publizierte sie aber in „Das Ausland. Wochenschrift für Länder- und Völkerkunde“; so die Artikel „Etwas über die Goajira-Indianer“ [vgl. Jg. 61, Nr. 3, 15.1.1888, S. 41-43] und „Maracaibo“ [vgl. Jg. 61, Nr. 40, 1.10.1888, S. 781-785; Nr. 41, 8.10.1888, S. 812-814; Nr. 42, 15.10.1888, S. 836-839]. gelesen. Da sie den Brief über Lenzburg geschickt setze
ich voraus, daß sie dir gleichfalls geschrieben hat. Ihre Schrift hat sich sehr
verändert, sie scheint nicht mehr ganz die fließende Hand von früher zu besitzen. Ihre
Ausdrucksweise ist etwas sentimental, was übrigens auch der Widerhall meines larmoyanten
Opusesgemeint ist vermutlich Wedekinds Kindertragödie „Frühlings Erwachen“, die im Oktober 1891 erschienen war [vgl. KSA 2, S. 771f.]. Olga Plümacher rezensierte das Stück unter dem Titel „Frühlings Erwachen. Für Väter und Erzieher“ [in: Sphinx. Monatsschrift für Seelen- und Geistesleben. 8. Jg. 1893. Bd. 16, S. 76-80; vgl. KSA 2, S. 866-868]. sein mag. Sie scheint in dieser Beziehung auch keinen Spaß zu verstehen.
Sie hat es ebenso tragisch | genommen wie Du, aber sie weiß wenigstens was
darüber zu sagen.
Und wie geht es Dir liebe Mama? Hami schrieb mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 13.1.1892. über vergnügt
verlebtes Neujahr bei euch und bei sich zu Hause. Schreibe mir gelegentlich
wenn du Zeit findest.
Der Winter bringt v/j/a nicht so viel geschäftliche Sorgen mit sich.
Grüße Mati von mir und sei selber aufs herzlichste gegrüßt von deinem treuen
Sohn
Franklin.
Hôtel Crébillon
4. RuSchreibversehen, statt: Rue. Crébillon
Paris.