Kennung: 5046

München, 8. Februar 1890 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

München 8.II 90.


Liebe Mama,

nachdem Donald das Resultat seines Examens in SolothurnFür die Rückkehr ans Gymnasium musste Donald Wedekind eine Prüfung ablegen, die seine Einstufung ermöglichte. Er trat im Frühjahr 1890 ins Gymnasium in Solothurn in die 5. Klasse ein, dies entsprach in der Zählweise der Kantonsschule Aarau, der 2. Gymnasialklasse [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 6.2.1890 und 7.2.1890]. erfahren bittet er mich wiederum inständig, ihm dazu zu verhelfen, daß er in Zürich die FremdenmaturitätZulassungsprüfung an der Universität Zürich für Nichtschweizer und Schweizer ohne schweizerische Matura. absolviren könne. Nachdem ich mir nun die Sache reiflich überlegt und sämmtliche Umstände in Erwägung gezogen, hab ich mich entschlossen, es zu thun. Ich habe dies bezüglich mit dir folgende fragliche Punkte zu erledigen:

1. was die Möglichkeit des Absolvirens anlangt, schreibst du mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 6.2.1890.: „wurde aber abgewiesen, weil er von zwei Schweizer Gymnasien fortgelaufen war“ – wogegen ich aus dem gedruckten ReglementeDonald Wedekind hatte ein mit Anstreichungen versehenes Exemplar (nicht überliefert) der Zulassungsregeln zur Fremdenmaturität einem Brief an seinen Bruder beigelegt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 6.2.1890]. ersehe daß er dessen unbeschadet im Frühling 91 zugelassen wird.

2. was Donald selber betrifft, so wärest du, falls ihm das Anerbieten von fremder Seite gemacht würde, nicht in der Lage in/h/n an dessen Annahme zu hindern, indem er in | dieser Hinsicht seit seinem 17. Jahr freies VerfügungsrechtDie Schulpflicht endete in Zürich mit dem vollendeten 16. Lebensjahr, in anderen Kantonen auch früher. besitzt.

3. was die Mittel meinerseits betrifft, so hab ich allerdings noch so wenig Reingewinn aufzuweisen wie Du, wie Hammi und wie Willy, habe aber auch noch nicht soviel verputzt wie Hammi und Willy, und stütze mich überdies auf die nämliche Berechtigung, mit der Du mir im Sommer 87Offenbar hatte Emilie Wedekind ihrem Sohn Geld angeboten, nachdem er im Juni 1887 seine Tätigkeit als Texter bei der Firma Maggi aufgegeben hatte. von Deinem Gelde zum Studium anbotest, indeß dasselbe gleichfalls nicht in Deinen Händen war. Wenn Hammi den G/g/rößten Theil seines Vermögens in der Zofingianichtschlagenden schweizerische Schüler- und Studentenverbindung, der Armin Wedekind am 18.5.1881 beigetreten war. und seinem neuen HeimArmin Wedekind hatte sich im Oktober 1888 im Zürcher Vorort Riesbach (Feldeggstraße 81) als praktischer Arzt niedergelassen [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 29.10.1888]. aufgehen läßt, wenn Willy seine ganze Baarschaft nach AfrikaWilliam Wedekind war im September 1889 nach Südafrika ausgewandert. schleppt, so werde ich wol das Recht haben von meinen frs 19000–Frank Wedekinds Anteil am Erbe seines Vaters belief sich auf rund 20.000 francs [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. frs 2000 auf das Studium eines jungen Menschen zu verwenh/d/en. Es existirt thatsächlich für dich nur ein Mittel mich daran zu hindern, nämlich das, mich unter Curatel stellenentmündigen. zu lassen, worauf ich selbstverständlich gefaßt bin.

4. bliebe noch zu erörtern, wie ich dazu komme, Deinen besten Bemühungen in dieser Weise entgegenzuarbeiten, was aber bei der | Grundverschiedenheit unserer Ansichten ziemlich erfolglos sein dürfte. Im Wesentlichen finde ich meine Rechtfertigung in der durchaus ungünstigen Auffassung die du von Dodas Wesen und Charakter hegst. Ohne dir damit im Geringsten einen Vorwurf machen zu wollen, da schließlich alles Geschmacksache ist, halt ich dich doch dieser ungünstigen Auffassung wegen nicht dafür geeignet, Dodas Erziehung zu leiten; schon deshalb nicht weil im Verkehr zwischen ihm und dir „Scheußlichkeiten, Niederträchtigkeiten, und Teufeleien“ seinerseits vorkommen von denen sonst kein Mensch was zu hören kriegt. Ich kenne ihn schließlich ebensogut wie Du und mir ist er unter meinen fünf Geschwistern der liebste. Die nämlichen Gefühle hegen Mieze und Mati ihm gegenüber. Das bei DirSchreibversehen, statt: Dass bei dir. nur die/er/ beste Wille vorherrscht und keine Geldrücksichten maßgebend sind, ersehe ich daraus daß du bereit bist ihn für 2 ¾ JahrDonald Wedekind schloss die Schule in Solothurn zum Ende des Schuljahres 1892 mit der Maturität ab. nach Solothurn zu schicken. Aber mit dem besten Willen ist noch nicht viel gethan. Der beste Wille hat auch zwischen dir und Papa fortwährend obgewaltet und dabei habt ihr es in 25 Jahren zu keinem einigermaßen erträglichen Modus vivendi(lat.) Art zu leben; Zusammenleben. gebracht. Ich meinerseits halte derartige auf Skandal gegrün|dete Verhältnisse für die schrecklichsten die es giebt, für Brutstätten des Verbrechens, und werde stets mein bestes thun um sie aufzulösen. Ich wiederhole daß ich dir damit keine Vorwürfe machen will, sowenig wie Papa. Ich selber habe auch schon Menschen genug angetroffen, mit denen ich mich in keiner Weise zu stellen weiß, z. B. Willy aber solchen Leuten soll man sich auch unter keiner Bedingung aufdrängen. Ich würde mich nie unterstehn, ein Wort zu sagen über deine Erziehung von Mieze und Mati, weil Mieze und Mati dich verstehn, so gut wie du sie verstehst, aber an Doda kannst du nur verderben, was gutes da ist. Wenn Einer ein Teufel ist, sollsSchreibversehen, statt: soll. man’s ihn, wenn man ihn bessern will nicht mes/r/ken lassen und du gehst bei ihm von vorn herein von der positiven Voraussetzung aus. So würden denn voraussichtlich auch deine besten Bemühungen ohne Segen sein.

Der zweite Grund weshalb ich dir O/o/pponire ist der, daß ich die Maßregel, ihn nach Solothurn zu schicken für unrichtig halte. Es kostete mich ein einziges Wort so gienge er hin aber er würde ebenso sicher in zwei drei Monaten wieder weglaufen. Und was dann? | Dann bliebe Dir nichts übrig als die Polizei. Und dann wäre er im Nu dasjenige wofür ihn jetzt schon allenfalls nur du halten kannst.

Ich begreife sehr wohl daß dir das Außergewöhnliche einer Vorbereitung auf die Fremdenmaturität nicht zusagt. Aber ist es zu verwundern, wenn ein Mensch, aus dem haarsträubendsten unmenschlichsten Zusammenleben hervorgegangen nicht in die alltäglichen Normen paßt. Deshalb muß er sich eben hineinfügen, wirst Du sagen. Natürlich, nachdem man ihn 18 Jahr lang hat thun lassen was ihm beliebte, du Dich immer wie ein Kind mit ihm herumgezankt und Papa nicht gewagt hat, ihm ein Wort zu sagen. Donald in seiner hülflosen inneren Zerissenheit ist gewissermaßen euer Beider Spiegelbild und daher auch Beiden gleich befremdend, unbehaglich. Es fehlte nun nur noch, daß er das, was er euch zu danken hat und bei sich allenfalls mit der Zeit überwinden könnte, daß er das an euch selber noch büßen müßte. Und er hat es schon zum großen Theil überwunden; AmerikaDonald Wedekind hatte von Februar bis Dezember 1889 eine Reise durch die USA unternommen. hat in dieser Beziehung den besten Einfluß auf ihn gehabt. Aber das siehst du natürlich nicht. Du siehst nur daß er kein | Geld gemacht hat, daß er „sich in jeder Beziehung blamirt hat“ wie du Dich ausdrückst. Wäre er wie WilliWilliam Wedekind hielt sich von April 1886 bis 1888 in den USA auf. Tüncher oder Schornsteinfeger geworden und spräche Mr. Fleck mit Anerkennung von ihm, so stände er in deinen Augen jedenfalls durchaus gerechtfertigt da. Daß er auf seinen mannigfachen Irrfahrten auch hundertmal hätte zu Grunde gehen, oder wie Willi in den Kneipen New-Yorks zum Schnapssäufer werden können, scheinst Du entweder nie gefürchtet oder dann längst vergessen zu haben. Du siehst in seiner Amerikanischen Reise eine Schlappe, ich sehe einen namhaften Gewinn darin. Das ist eben die Verschiedenheit unserer Ansichten. Ich zweifle nicht, daß sich genug Menschen finden, die ebenso denken wie du. Ich erwähne nur Mr FleckVermutlich der Ehemann einer Bekannten von Wedekinds Mutter aus New York, die Donald Wedekind bereits von ihrem Besuch im Sommer 1885 in Lenzburg her kannte und deren Familie er bei seiner Ankunft in New York im Februar 1889 besuchte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138]. . Aber mir fehlen eben die Autoritäten auch nicht. So sagte vor einigen Jahren ein Berliner Professornicht ermittelt. in einem Vortrag über moderne Gymnasien: Ich habe zwei Söhne, von denen der eine das Gymnasium absolvirt und der Andere, nachdem er durchgebrannt, eine Reise um die Welt gemacht hat. Letzterer spreche nun drei lebende Sprachen, wisse mit jedermann zu verkehren und habe ein offenes Auge für alles menschlich interessante während der andere nichts kenne als seine alten | Klassiker und der ganzen übrigen Welt wie ein blinder Gaul gegenüber stehe. Der Professor fragte welchen von Beiden man wol eher einen gebildeten Menschen nennen werde. Aber all das hab ich dir ja schon gesagt ohne daß es Eindruck gemacht zu haben scheint.

In letzter Linie wirst du dich natürlich auf Hammi berufen, der durchaus deine Ansichten theilt. Donald fürchtet Hammi nun allerdings nachgerade wie Gift ohne indeß R natürlich Respect vor diesem „Gemachten Mann“ von Dr. Frey’s GnadenArmin Wedekind hatte 1887/88 dem Bezirksarzt Gottlieb Frey in Zürich (Hottingerstraße 38) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1891, Teil I, S. 94] assistiert und heiratetet dessen Tochter Emma. zu hegen.

Zum Schluß einen Vorschlag zum Guten. Nimm die Dinge wie sie liegen. Laß Doda ziehen, natürlich unter Protest, und laß mich machen. In ein, zwei Jahren, wenn Du erst mit deiner eigenen Geschichte in’s Klare gekommen wirst du vielleicht auch über diese Dinge milder denken gelernt hatSchreibversehen, statt: gelernt haben. . Dann trifft man sich wieder, ohne sich indessen durch fortwährende Streitigkeiten unzugänglich geworden zu sein, und geht jeder seinen Weg weiter ohne den andern zu genirenhinderlich zu sein, stören.. Wie gesagt, ich würde an deiner Stelle gute Miene zum bösen Spiel machen. Man kann nicht alles sein. Überlaß Doda mir, so wirst du ihn nicht verlieren und mich auch nicht.

Dein treuer Sohn Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 23 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    8. Februar 1890 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
207-211
Briefnummer:
77
Kommentar:
Im Erstdruck unvollständig ediert; nur eine von mehreren Auslassung ist durch drei Punkte markiert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 241-245 (Nr. 111).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.2.1890. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

24.01.2024 14:44