München 4 XII 89.
Liebe Mama,
eben erfahr ich durch einen Brief von Hammivgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889. zu meiner
unbändigen Freude, daß Donald zurückkommtDonald Wedekind war im Februar 1889 zu einer Reise in die USA aufgebrochen, fand dort aber keine dauerhafte Anstellung. Über seinen Reiseweg von Paris über New York, St. Louis, Kansas City und Santa Fé bis San Francisco berichtete er am 17.11.1889 in einem Brief an seine Schwester Emilie (Mati) [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138].. Bitte schreib mir doch oder laß mir
schreiben sobald es dir möglich wann wo und wie. und was er nunmehr zu thun gedenkt. Sollte er darüber
noch nicht im klaren | sein so wäre mein Vorschlag daß er zu mir nach München
kommt. Doda ist vielleicht der talentirsteste von uns so scheint mir sein
das Geld für ihn nicht
hinausgeworfen. Er könnte hier allenfalls die Schauspielschule besuchen und
sich mit der Kunst im Allgemeinen bekannt machen damit er später das Recht hat
mitzusprechen. Für einen andern Beruf scheint er eben doch verdorben zu sein.
Unter diesem Gesichtspunkt | wird auch seine amerikanische Reise nicht verloren
sein und unter Umständen erträgliche Zinsen tragenDonald Wedekind publizierte später einen Reisebericht seiner Amerikareise unter dem Titel „Eine Auswandererfahrt“ in mehreren Teilen in der Beilage der „Züricher Post“ im Februar 1894 [Nr. 29 vom 4.2.1894, Nr. 36 vom 13.2.1894, Nr. 41 vom 18.2.1894, Nr. 47 vom 25.2.1894 und Nr. 53 vom 4.3.1894].. Ich habe die Zeit über sehr viel an ihn denken
müssen und war entschlossen sobald ich selber erst festen Fuß gefaßt ihm diesen
Vorschlag von mir aus zu machen. Geschäftlich wird er
mit seinem GeldAus dem Erbe seines Vaters standen Donald Wedekind noch 28.000 Francs zu [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. doch schwerlich etwas anfangen können und so scheint es mir nicht
unverantwortlich wenn
man ihn einen Theil desselben in einen gewissen Grad von Bildung umsetzen |
läßt, der ihm an sich eine Stellung und Bedeutung in der Welt
verschafft. Wenn er übrigens kommt so würd ich ihm das alles nicht zu früh
mittheilen und
überhaupt nur dann wenn er selber nicht einen positiven Plan gefaßt hat. In
diesem Fall möcht auch ich nicht störend in seinen Wandel eingreifen, aber das
wird ja wol wahrscheinlich nicht der Fall sein.
Hammi setzt in seinem Brief die Eventualität, daß auch Doda „sein Vermögen in
irgend einen Dunkeln Erdtheil“ werde | mitnehmen wollenArmin Wedekind hatte vermutet, Donald werde „dann wohl als getreuer Nachfolger von Willy seinen Antheil am Vermögen ebenfalls in irgend einem schwarzen Erdtheil anlegen wollen“ [Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889]. William Wedekind war im September 1889 nach Südafrika ausgewandert.. Ich weiß nicht ob das
nur Hammis Voraussetzung ist oder ob Doda sich in dieser Hinsicht irgend wie
geäußert hat. Ihm
darin zu willfahren schiene mir aber mehr oder weniger unverantwortlich. Wenn
er kommen will so würd ich ihn baldmöglichst kommen lassen (versteht sich auf
seine Kosten) und mir im übrigen keine Sorge machen. Donald hat keine Anlage dazu,
moralisch zu verkommen.
Seit Menschengedenken bat ich Hammi, mir doch mal
ausführlich zu schreiben. Er antwortete | mir nur immer ganz lakonisch auf
abgerißnen Fetzen. Nun schüttet er mir endlich sein ganzes Herz aus, wobei er
so treu zu seiner Emma hält wie ein Märtyrer zum Kreuzesstamm. Wer hätte je
geglaubt daß eine solche Spannung gerade zwischen ihm und dir j/m/öglich
wäre. Er schreibt so treu, so ehrlich und zugleich so kindlich hülflos, daß es
einen Stein erweichen müßte. Er kommt sich nachgerade zwischen uns Anderen
ebenso verrathen und verkauft vor wie seine Emma als sie bei uns war. Auch mir traut er nur halb und
doch kann er nicht umhin mir alles zu klagen, | wiewol er voraussieht, ich
werde mich am Ende auch darüber lustig machen. Mehr als einmal macht er seinem
Groll über „die freie Individualität und den gesunden Egoismus“ Luft. Diese Ungeheuer müssen an allem Schuld sein.
Gegen dich findet er mit aller erdenklichen Anstrenk/g/ung doch kaum ein
bitteres Wort. Er erzählt mir in trauriger Resignation die verschiedenen
Hergänge, natürlich nach seiner Auffassung.
Der Grund des Zerwürfnisses wird eben im großen ganzen Emmas
Lenzburger Aufenthaltvgl. dazu Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889. sein. w/D/as wäre mir wenigstens | schon an sich
durchaus plausibel. Ich weiß zur Genüge, wie entsetzlich es ist, sie um sich zu
haben und wie sich das Entsetzen in dem Maße steigert wie sie bestrebt ist sich
angenehm zu machen. Daß sie wirklich auch falsch istIhrem Bruder Armin hatte Erika Wedekind gesagt, dass sie Emma „als eine rafinirte, kluge, berechnete Schlange ansehe“ [Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889]. wie Mieze mir schreibt
wäre ja möglich. Ich hätt es ohne weiteres nicht vorausgesetzt. Ich hielt sie
nur für grenzenlos dumm. Aber das findet sich ja manchmal beisammen. Um
ihretwillen kann mich
ja nun die Sachlage nur freuen, zum mindesten mehr freuen, als wenn du ihr
Zuge|ständnisse machen wolltest auf kosten der „freien Individualität und des
gesunden EgoismusZitat aus Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889, der dabei auf ein familienintern wiederkehrendes Thema rekurriert.“. Aber Hammi ist dabei doch in einer sehr traurigen Lage. Ich
bin zwar überzeugt daß er die Sache schlimmer ansieht als sie liegt, daß du
dich über die Situation stellst und den Riß nicht zu groß werden läßt. Solange die/seine/
Emma in Zürich und du in Lenzburg bist würd es dir ja auch schließlich nicht schwer in diesen oder
jenen kleinen Liebenswürdigkeiten wenigstens den guten Willen zu zeigen,
unbekümmert darum | wie es aufgenommen wird. Das beste wäre natürlich ein
SeparatfriedenFriedensschluss zwischen zwei verfeindeten Parteien ohne die jeweiligen Verbündeten miteinzubeziehen. mit Hammi auf Grund allzugroßer Charakterverschiedenheit
zwischen dir und D/s/einer L/F/rau. Ohne weiteres wird er das
allerdings unter seiner Würde Ehre e. ct. finden. Wenn ich nur an Ort und Stelle wäre.
Ich wollte die/en/ Karren schon in ein fahrbares Gleis bringen. Denn so
wie sie liegen sind die Verhältnisse doch bedenklich. Daß du den Locus renovirenNach dem Tod ihres Mannes vermietete Emilie Wedekind auf Schloss Lenzburg Zimmer an Pensionsgäste und nahm zahlreiche Renovierungen vor, darunter die die Wasserversorgung und die Toiletten. läßt
find ich lobenswerth, wiewol ich auch bei bei dieser NachrichSchreibversehen, statt: Nachricht. eine Thräne der
Wehmuth im Auge | zu zerdrücken mich nicht entbrechen konnte.
Und nun leb wol liebe Mama und bleib gesund und guten
Muthes. Meine herzlichsten Grüße an Mieze und sie soll es nicht übelnehmen daß
ich Mina zuerst geschriebenvgl. Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 16.11.1889.. Ich würde ihr antworten, sobald ich Zeit fände.
Mina schreibt mirvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 13.11.1889. drei Seiten Gutes und Schönes über sie. Sie solle sich ein
Beispiel dran nehmenErika Wedekind hatte sich zuletzt abfällig über Minna von Greyerz geäußert [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.10.1889].. Wenn Doda nach Lenzburg kommt und mit meinem Vorschlag einverstanden ist
so könnt ich ihn ja allenfalls abholen. Wenn du mit ihm allein bist würdet ihr
euch doch nur wieder die ganze Zeit über zanken, während | in meiner Gegenwart
ein jeder zum uneingeschränkten Genuß seiner selbst und der Andern käme. Gruß
an Mina, und meine Empfehlung an Frl. Minkein Pensionsgast auf Schloss Lenzburg..
Mit 1000 Grüßen dein
Franklin.
Akademiestraße 21.III