Kennung: 5036

Berlin, 3. Juli 1889 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Berlin 3.VII 89.


Liebe Mama,

was ich so sehr gefürchtet seit ich hier bin ist nun doch eingetroffen. Bitte ärgere dich nicht darüber. Es ist nun einmal nichts dagegen zu machen. Die Polizei besteht auf einem StaatsangehörigkeitsatestSchreibversehen, statt: Staatsangehörigkeitsattest. Am 25.6.1889 notierte Wedekind im Tagebuch: „Wie ich am Nachmittag mein Zimmer für einen Augenblick verlasse, seh ich einen Polizisten in der Thür stehen und weiß sofort was die Stunde geschlagen. Er bittet mich auf die Polizei zu kommen, wo man einen Staatsangehörigkeitsausweis von mir fordert. Somit sind denn meine Tage in Berlin gezählt.“ im Original, was herbeizuschaffen mir bekanntermaßen unmöglich ist. So bleibt mir nun nichts übrig als fortzugehen. Morgen oder übermorgenAm 4. oder 5.7.1889. Wedekind notierte am 4.7.1889: „Von 11-2 Koffer gepackt. Dann zu Tisch, wo ich im Cursbuch den Expreßzug finde. […] Ich kauf mir Cigarren und Aufgeschnittenes und begebe mich auf den Bahnhof.“ [Tb] Abend verreis ich | nach München. Gelingt es mir dort mein Auskommen zu finden, so ist es gut. Wenn nicht so werd’ ich mich auf den Winter nach einer Redaktionsstelle in der Schweiz umsehen, wo ich dann per Gelegenheit Schweizer Bürger werden könnte, und damit wäre dem un an mißlichen Verhältniß dann abgeholfen. Also bitte liebe Mama, ärgere dich nicht darüber. Ich selber habe mich mit der Nothwendigkeit vollkommen abgefunden. Die Zeit die ich hier verlebt ist für mich keineswegs verloren. Ich habe das Leben, die Ansprüche die Geistesrichtung Berlins kennen gelernt, was immer für mich von Bedeutung sein wird. Was mir den Abschied von Berlin besonders empfindlich | macht ist der Berliner an sich mit seinem Witz und seiner Manierlichkeit, den ich ungemein liebgewonnen habe und dann meine ruhige behagliche Bude und meine Wirthin, ein Musterstück von einer Wirthin, die mir jeden Wunsch an den Augen absah. Dafür find’ ich in m/M/ünchen eine schönere Natur und einen unvergleichlich größeren Bekanntenkreis. Da ich wol nicht so bald nach Hause kommen werde so kann es mir gleichgiltig sein, ob die Lenzburger mein Pech erfahren oder nicht. Aber ich glaube, es wäre doch vortheilhaft wenn die Geschichte nicht S/s/tadtbekannt würde. In einiger Zeit mag man’s ja dann immerhin erfahren. Ich kann ja aus allen möglichen Ursachen nach München zurückgekehrt sein.

Das Paar Welti Herzog läßt sich dir bestens empfehlen. Sie werden | wahrscheinlich auf einen Tag von Aarburg aus kommen, hauptsächlich um deine Bekanntschaft zu machen, werden dich aber jedenfalls zuvor benachrichtigen, um dir nicht ungelegen zu sein. Vorgesternam 1.7.1889. Wedekind notierte: „Ich gehe auf den Bahnhof Friedrichstraße wo ich Welti und die Herzog bereits antreffe. Welti vertraut mir seine Braut an da er dritte Classe fährt. Ich bugsire sie in ein DamenCoupée und nehme Abschied. Muß aber noch verschiedentlich zwischen Beiden Botschaften hin und wieder tragen. Schließlich gucken beide zum Fenster hinaus, sie zweite er dritte Classe und nicken sich ein Wiedersehn zu.“ [Tb 1.7.1889] hab ich sie hier auf den Bahnhof geleitet und so bin ich nun mehr oder weniger einsam und da ich fortwährend das Damoclesschwerdt über meinem Haupte sehe und somit keine Minute Ruhe zur Arbeit finde, so reise nun auch ich möglichst unverzüglich. Gelegentlich ihrer Rückreise werden wir uns in München wiedersehn.

Es hat mich sehr überrascht zu hörenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.6.1889. daß ihr in Lenzburg so schlechtes Wetter hattet. Hier ist seit 6 Wochen kaum ein Tropfen Regen gefallen. Wegen deiner geschwollnen Füße würde ich aber doch auf jeden Fall einen Arzt consultiren, | der hoffentlich durch innere Mittel dagegen aufkommen kann. Es hängt das natürlich mit deinem Herzklopfen zusammen. Ich würde jedenfalls zu einem Specialisten in Zürich gehen, was sich ja bei Gelegenheit abmachen ließe.

Und nun leb wohl, liebe Mama. Die herzlichsten Grüße an Minna. Sobald ich ich in München bin werd’ ich dir meine Adresse zukommen lassen.

Dein treuer Sohn
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    3. Juli 1889 (Mittwoch)
    Unbekannt

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
194-195
Briefnummer:
69
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 230-232 (Nr. 103).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 3.7.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

23.01.2024 15:13