Sehr
geehrter Herr Wedekind
Unser Abend war ein
Ich beeile mich Ihnen mitzuteilen, daß unser
Cabaret-Abend ein schöner Erfolg war, der Clou, wie sich von selbst versteht
Unser Cabaret-AbendDer zweite Vortragsabend des Neopathetischen Cabarets fand am 6.7.1910 um 20.30 Uhr im Papierhaus (Dessauer Str. 2) in Berlin statt. Auf dem Programm standen: Heinrich Eduard Jacob: Sommernacht; Georg Heym: Gedichte; Golo Gangi (d. i. Erwin Loewenson): „Von Rausch und Kunst“ (Vorlesung aus Nietzsche); Tilla Durieux: Vorlesung aus Frank Wedekinds Tragödie „In allen Wassern gewaschen“; Kurt Hiller: Gedichte von Max Brod und Kurt Hiller; Jakob van Hoddis: Gedichte und Armin Wassermann: „Geronimo de Aguilar“ (Novelle von Jakob Wassermann) [vgl. Programmzettel in: Schneider/Burckhardt 1968, S. 403]. war ein außerordentlicher Erfolg, u. der „Clou“Die gestrichene Formulierung so auch in verschiedenen Zeitungen: „Den Clou des Abends […] bildete eine von Frau Tilla Durieux meisterhaft vorgelesene Szene aus Frank Wedekinds neuester Tragödie ‚In allen Wasser gewaschen‘.“ [Berliner Lokal-Anzeiger, Jg. 48, Nr. 340, 8.7.1910]. „Der Clou des Abends jedoch war die Vorlesung von Frank Wedekinds ungedrucktem Einakter ‚In allen Wassern gewaschen‘ durch Reinhardts Heroine Frau Tilla Durieux“ [Bohemia, 9.7.1910; zit. nach Sheppard 1980, S. 398]. Höhepunkt, wie sich von selbst versteht:
die HauptszeneTilla Durieux las den Presseberichten zufolge den 7. Auftritt des von Wedekind als „Tragödie in einem Aufzuge“ überschriebenen Einakters „In allen Wassern gewaschen“ – später der dritte Akt von „Schloss Wetterstein“ – den Dialog zwischen Effie und Tschamper. „Der spleenige Amerikaner, der vorgibt, sich vergiften zu wollen, und das Weib in den Tod treibt, das ihm angeblich nur den Tod versüßen sollte“ [Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 339, 7.7.1910, Abend-Ausgabe, S. (3)]. Das Stück war Mitte Juni 1910 erschienen [vgl. KSA 7/II, S. 690]. Ihrer Tragödie, von Frau Durieux mit fast adaequater
Grandiosität gelesen vorgetragen. und höllenhafter starken
Freudigkeit höllenstrake Höllenfreudigkeit gelesen.
Haben Sie nochmals unsern herzlichen Dank dafür, die Ehredurch Unterpunktung wiederhergestellte Streichung. daß, die Sie uns damit erwiesen, daß wir Ihr
jüngstes Werk in u (wenigstens teilweise) zum ersten Mal lesen lassen
durften!
[Einweisungszeichen
für die auf Seite 4 und am Fuß der Seite notierte Passage:]
Die vorangegangene VorlesungÜber Erwin Loewensons Lesung „Von Rausch und Kunst“ aus Nietzches Aphorismen (zum Programm siehe unten) schrieb die Presse: „Herr Golo Gangi erklärt, er würde platzen, wenn er uns nicht gewisse Stellen aus Nietzsche vorlesen dürfte. Wir wollen nicht, daß er so grausam sterbe. Er liest aus Nietzsche vor. Schlecht übrigens, aber er ist wirklich begeistert. Die Lichter im Saal sind verlöscht, nur die Pultlampe zeigt das scharfe Profil eines jungen Kopfes, in dem es ehrlich wogt. Ver sacrum. So etwas ist wirklich schön.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 339, 7.7.1910, Abend-Ausgabe, S. (2)] aus Nietzsches ‚Willen zur
Macht‘ und der ‚Götzen-Dämmerung‘ hatte den Zweck, die/as/ Publikum auf
das höllenhaft Starke und ungeheuer Lebensfähige, auf das Siegreiche
Siegvolle Ihrer Visionen einzustellen: die Wirkung war denn auch um so
totaler: keine nicht depressiv, – keine Ibsenschen BeklemmungenZur Gegenüberstellung von Ibsen und Wedekind vgl. ausführlich Erwin Loewensons Brief an Erich Unger vom 15.4.1910: „Grade das, worüber Ibsen empört ist, das macht Wedekind Freude. Das was Ibsen das Leben unmöglich macht, das macht es Wedekind überhaupt erst möglich. Das, weswegen der Ibsen sich das Leben nimmt, darum allein lohnt es Wedekind, gerade, geboren zu sein. (Nietzsche nennt das den ‚Pessimismus der Stärke‘).“ [Sheppard 1980, S. 304f.]
(Gespenster!) – sondern sie b eine tragisches machtvolles Aufflac Auflebenatmen der ganzen Vitalität, eine tragischet/e/ tiefe
machtvolle Freudigkeit. (Eine Wirkung, die der Verstehende zur/vor/
allen Ihren enormen Stücken erlebt; am
intensivsten vor der
Büchse der Pan|dora „LuluDie siebte Auflage von Wedekinds „Erdgeist“ war 1910 bei Bruno Cassirer unter dem Titel „Lulu. Dramatische Dichtung in zwei Teilen. Erster Teil. Erdgeist“ erschienen. Zuvor hatte Cassirer die beiden Tragödien „Der Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ bereits als „Lulu I“ und „Lulu II“ beworben [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 76, Nr. 16, 21.1.1909, S. 881]. Der zweite Teil der Doppeltragödie erschien als zweite Auflage von „Die Büchse der Pandora“ im gleichen Jahr erst nach dem Verlagswechsel zu Georg Müller – nun jedoch ohne Nennung der gemeinsamen Hauptfigur im Titel. Namentlich dieses Stück hielt Erwin Loewenson „für das dramatisch Grandioseste Deutschlands“ [Erwin Loewenson an Erich Unger, 13.4.1910; in: Sheppard 1980, S. 302]. „Die Büchse der Pandora ist schwerer zu verstehen als Faust zweiter Teil und Also sprach Zarathustra, […] neben den 5 Büchern Moses das tiefste Stück Literatur bisher. […] Es ist das tiefste Stück Philosophie bisher.“ [Erwin Loewenson an Grete Tichauer, 22.5.1911; in: Sheppard 1980, S. 513]“ u. dem Marquis von Keith,
vor Frühlings Erwachen und Hidalla, |
Die Besprechung des AbendsUnter dem Kürzel „–al.“ mit dem Titel „Neopathetiker“ in: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 339, 7.7.1910, Abend-Ausgabe, S. (2-3). im „Berliner Tageblatt“ (die ich
mir mit dem Programm des Abends beizulegen gestatte) wird Ihnen nur | natürlich
ein schiefes Bild geben; aber trotz der obligaten Altersironie, sowie mancher
Verleumdung (zb/B/, daß wir eine Claque angestelltIn der Besprechung hieß es: „Keiner im Auditorium wurde warm. Aber einer war vom Klub dazu angestellt, immerzu zu klatschen.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 339, 7.7.1910, Abend-Ausgabe, S. (3)] hätten, daß wir
ernstlich glaubten, mit solchen Abenden Geld verdienen„Jede Woche kommen die Leute zusammen […] Ein bißchen jugendfrisch sind sie doch. Sie wollen nämlich ernstlich mit diesen Abenden viel Geld verdienen und dann davon eine Zeitschrift gründen, einen Verlag, ein neues Theater natürlich auch.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 339, 7.7.1910, Abend-Ausgabe, S. (2)] zu können u. a) u. trotz gewisser i schädlichen Indiskretionen hat ist uns diese Besprechung, wie
einige anderen. –
weniger wohlwollender –, im
Tag, LokalanzeigerIn der Berliner illustrierten Tageszeitung „Der Tag“ (unter dem Kürzel „A.“) und im „Berliner Lokal-Anzeiger“ (unter dem Kürzel „l.“) [abgedruckt in: Schneider/Burckhardt 1968, S. 415f.] erschienen die gleichlautenden Besprechungen [vgl. KSA 7/II, S. 879] jeweils am 8.7.1910. Über Wedekinds neues Werk hieß es: „Das Stück setzt die Richtung fort, die Wedekind mit der ‚Musik‘ eingeschlagen hat, scheinbar wenig geeignet, unserer literarischen Jugend zur Nachahmung zu dienen. Es gibt hoffentlich gesündere und lebenskräftigere Kost, für die man sich mit der Kraft des jugendlichen Idealismus einsetzen kann, als derartige ‚Neopathien‘.“ [Berliner Lokal-Anzeiger, Jg. 48, Nr. 340, 8.7.1910], u. in der Vossischen ZeitungDort hieß es: „Äußerlich wohlgepflegte Kinder aus Berlin W., die mit ihren 19 bis 20 Jahren das Weib ‚studiert‘ haben und in ihm ihren ‚Rausch‘ suchen. Andere Ideen und anderer Idealismus scheinen nicht vorhanden zu sein. Frau Tilla Durieux vom Deutschen Theater ließ sich herbei, den Jünglingen eine quälende Frank Wedekindsche Cochonnerie vorzulesen. Es ist trotz aller sexuellen Aufklärung noch immer undenkbar, daß, umgekehrt, ein reifer männlicher Künstler dergleichen Dinge in einem Kreise junger Mädchen zum besten gäbe.“ [Vossische Zeitung Nr. 314, 7.7.1910, Abend-Ausgabe, S. (10)]., sicherlich von großem
Nutzen. Aber die – wenn auch äußerlich
respektvolle – Artvon hier bis „Art“ zunächst gestrichen und dann durch Unterpunktung wiederhergestellt., wie das Wort wie mit in der
auf die Ihre Tragödie eingegangenÜber Tilla Durieux‘ Lesung hieß es: „Nach der Pause liest sie vor. So, wie nur sie lesen kann. Wedekinds Tragödie ‚In allen Wassern gewaschen“ ist einfach die Geschichte eines auf psychologischem Wege bewirkten Lustmordes. Das deutsche Wort fehlt, um auszudrücken, mit welch verstehender Reinheit die Durieux diese starken Dinge zu sagen weiß.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 339, 7.7.1910, Abend-Ausgabe, S. (3)] wird, wäredurch Unterpunktung wiederhergestellte Streichung. empörend, wenn esdurch Unterpunktung wiederhergestellte Streichung. eben nicht gewöhnlich noch widerwärtiger wa
so selbstverständlich wäre; das Wort „einfach“ ist einfach nicht mit
Backpfeifen zu bezahlen.
bei dem Stand der öffentlichen Gehirne
Ich habe Ihre die EmpfehlungHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Erwin Loewenson, 27.6.1910. an Frau Durieux
ausgerichtet Frau Durieux die sich sehr sichtlich darüber gefreut
hat. |
[Die vorgelesenen Stellen aus Nietzsche, – die
direkt eine Einleitung „EinführungDie genannten Aphorismen behandeln – dem Titel der Lesung entsprechend –die Themen Rausch und Sexualität, Kunstproduktion und Psychologie des Künstlers, Vitalität und Tragik. “ in Ihre Werke sein könnten –, sind
stehen übrigens „Wille zur Macht“ (TaschenausgabeVon Ende 1905 bis Ende 1906 erschienen die ersten zehn Bände der „Taschen-Ausgabe“ von Friedrich Nietzsche im C. G. Naumann Verlag in Leipzig. Die genannten Textstellen finden sich in Band 10 [vgl. Nietzsche’s Werke. Taschen-Ausgabe. Bd. X: Der Wille zur Macht. 1884/88. (Fortsetzung). Götzen-Dämmerung 1888. Der Antichrist 1888. Dionysos-Dithyramben 1888. Leipzig 1906].) Aphorisn/m/en. 800/802.
812 (stell streckenweise Anfang) (die ersten 12 Zeilen) 809 (6
Zeilen), 86/5/2 (die ersten 2 Abschnitte)
„Götzen-Dämmerung“: („Streifzüge eines Unzeitgemäßen“) No. 8. 9.
24. (Was ich den Alten verdanke) 5. (bis
auf den letzten Satz)
„Wille zur Macht“ 853. II.
Im übrigen Doch gibt es noch andre StellenAußer den hier genannten Stellen hat Erwin Loewenson für seine Lesung „Rausch und Kunst“ weitere Stellen auf einem im Nachlass überlieferten Zettel notiert [vgl. Sheppard 1980, S. 396, 449f.], von denen jedoch ungewiss ist, welche er davon vorgetragen hat.
noch, in denen Ihr Wesen noch deutlicher vorgeahnt wird, in denen Sie
beinahe herbeigerufen werden.] |
In dem ich Sie bitte, uns Ihr Wohlwollen auf das wir sehr stolz sind, dem
Neuen Club zu bewahren
Grüße ich Sie ergebenst
mit großer Hochachtung:
Ihr ergebenster
…