Liebe Mama,
es thut mir herzlich leid, daß ich dir deinen WunschEmilie Wedekind dürfte ihren Sohn in einem nicht überlieferten Schreiben (siehe unten) um Gedichte gebeten haben, die sie gut besprochen gefunden hat (in einer nicht ermittelten Kritik). nicht
erfüllen kann; ich besitze weiter keine Gedichte, als die, die du kennst und
die ich zum größten Theil schon vor fünfzehn Jahren auf dem Gymnasium
geschrieben habe. Diese Gedichte sind sämmtlich in der „Fürstin Russalka“Gedichte Wedekinds in der Sammlung „Die Jahreszeiten“ (sie enthält insgesamt 84 Gedichte) im Band „Die Fürstin Russalka“ (1897) im Albert Langen Verlag [vgl. KSA 1/I, S. 808-810, 813], der im Sommer des Vorjahres erschienen ist [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 133, 12.6.1897, S. 4287]. „Mindestens ein Drittel der in den ‚Jahreszeiten‘ veröffentlichten Gedichte entstanden bereits in den 1880er Jahren“ [KSA 1/I, S. 809]. Die Gedichtsammlung wurde später unter dem Titel „Die vier Jahreszeiten“ (1905) als selbständiges Buch neu veröffentlicht.
erschienen. Ich kann wirklich nichts dafür daß das Urtheilnicht ermittelte Rezension, wahrscheinlich nach dem 24.1.1898 (siehe unten) in einer Zeitung erschienen, dem vorliegenden Brief zufolge eine lobende Besprechung von Gedichten Wedekinds (siehe unten). dieses Kritikersnicht identifiziert.
über diese Sachen so sehr von dem | Deinigen abweicht indem er, wie er
schreibt, prachtvolle Exemplare darunter findet. Der Geschmack ist eben
verschieden und wenn ich die Gedichte zufällig auch noch besser wären,
so würde das wol wenig an deinem Urtheil ändern. Ich bitte dich auch
aufrichtig, liebe Mama, lieber bei deiner bisherigen Überzeugung zu bleiben,
denn ich halte nicht viel von Menschen, die sich erst dann entschließen, sich
für etwas zu | erwärmen, wenn es in der Zeitung gestanden hat, daß man sich
dafür erwärmen darf. Ich danke dir bestens für die Übersendung des ArtikelsHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 29.1.1898. Beilage war eine Besprechung von Gedichten Wedekinds, vermutlich als Zeitungsausschnitt übersandt..
Man hatte mir schon von verschiedenen Seiten davon gesprochen aber ich hatte
ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Es ist mir auch wirklich eine große Freude,
mit Yvette GuilbertWedekind hat die berühmte Pariser Chansonsängerin, die in der nicht ermittelten Besprechung seiner Gedichte erwähnt sein dürfte (siehe oben), in seiner Zeit in Paris auf der Bühne gesehen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 188]. Yvette Guilbert gab gerade seit dem 24.1.1898 im Apollotheater in Berlin ein Gastspiel: „Apollo-Theater. [...] Montag, den 24. Januar: Debut der Mme. Yvette Guilbert.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 27. 18.1.1898, Morgen-Ausgabe, S. 18] Sie hatte großen Erfolg: „Yvette Guilbert hat gestern bei ihrem ersten öffentlichen Auftreten in Berlin das Publikum im Sturm erobert. [...] der Erfolg steigerte sich von Minute zu Minute, so daß die Hervorrufe kaum zu zählen waren, die Jubelrufe des Publikums durch den Saal tosten, und des Händeklatschens kein Ende werden wollte.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 27, Nr. 43, 25.1.1898, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (2)] Der 6. Gastspielauftritt fand am 29.1.1898 statt: „Apollo-Theater. [...] Heute 6. Abend: Yvette Guilbert.“ [Vorwärts, Jg. 15, Nr. 24, 29.1.1898, 2. Beiblatt, S. (2)] Die Presse erwähnte zum „Auftreten der gefeierten Pariser Sängerin: Madame Yvette Guilbert, der ‚grande Ivette‘, wie sie die Franzosen nennen, im Apollo-Theater“ auch die Höhe ihrer Gage: „Freilich hat es sich die Direktion des Apollo-Theaters auch eine Stange Gold kosten lassen, diese Künstlerin, die alle Welt entzückt, für ein auf zehn Tage berechnetes Gastspiel zu gewinnen, denn sie bezahlt ihr bare 30000 Mk. dafür, das macht pro Abend 3000 Mk.“ [Julius Pasig: Berliner Stimmungsbilder. In: Wittener Tageblatt, Jg. 39, Nr. 28, 29.1.1898, 2. Blatt, S. (2)] Wedekind hat sie Jahre später persönlich kennengelernt, bei einem gemeinsamen Bühnenabend am 3.9.1907 – „Wir treten mit Ivette Guilbert auf“ [Tb] – im Münchner Schauspielhaus [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 60, Nr. 411, 3.9.1907, General-Anzeiger, S. 2], der sich wiederholte, wie Wedekind am 8.3.1911 – „Erstes Auftreten mit Yvette Guilbert“ [Tb] – und 9.3.1911 – „Zweites Auftreten mit Yvette Guilbert“ [Tb] – notierte; am 19.7.1913 verbrachte er einen Abend mit ihr in kleinerer Runde im Münchner Hoftheater-Restaurant [vgl. Tb]. Korrespondenz ist überliefert [vgl. Yvette Guilbert an Wedekind, 26.3.1908]. öffentlich in einem Athemzug genannt zu sein. Eigentlich
bedaure ich dich nur, daß du an dieser Freude | nicht theilnehmen kannst, aber
es wird dir ja nicht viel ausmachen.
Ich bitte dich Mieze meinen herzlichen Dank für Übersendung
der 30 MkHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Geldsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 29.1.1898. Frank Wedekind hatte seine Schwester um 50 Mark gebeten [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 5.1.1898]. zu sagen. Ebenso danke ich euch beiden für eure
freundlichen Wünsche und bin mit besten Grüßen
dein
treuer Sohn
Frank.
Eben bin ich wieder auf dem Wege zu einem Gastmahl bei Dr.
Heinebei Dr. phil. Carl Heine, Privatgelehrter in Leipzig (Lampestraße 3) [Leipziger Adreß-Buch für 1898, Teil I, S. 312], Regisseur und Direktor des Theaters der Literarischen Gesellschaft (Ibsen-Theater) in Leipzig, wo Wedekind als Dramaturg und unter dem Pseudonym Heinrich Kammerer als Schauspieler engagiert war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408]. nachdem wir fast die ganze Woche Erdgeist geprobtProben für die Uraufführung der „Erdgeist“-Tragödie durch das Ibsen-Theater (Direktion: Carl Heine) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408] am 25.2.1898 im Kristallpalast in Leipzig unter der Regie von Carl Heine – die erste Bühneninszenierung eines Wedekind-Stücks überhaupt; angekündigt war als „fünfte[r] Theaterabend“ der Literarischen Gesellschaft „Der Erdgeist, eine Burleske von Frank Wedekind. Der Erdgeist, der an diesem Abend seine Première erlebt, stellt eine völlig neue Gattung der modernen Dramatik dar. Das Drama ist für seine hiesige Ausführung vom Dichter einer Umarbeitung unterworfen worden, die der Bühnenwirkung des Stückes zum Vortheil gereichen dürfte“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 96, 23.2.1898, Morgen-Ausgabe, 5. Beilage, S. 1415], dann nochmals: „Die Literarische Gesellschaft in Leipzig veranstaltet, wie schon gemeldet, Freitag, den 25. Februar im Theatersaale des Krystall-Palastes ihren letzten Theaterabend. Das zur Aufführung gelangende Stück ‚Der Erdgeist‘ von Frank Wedekind (Verlag von Albert Langen, München) giebt eine Mischung von schwerem Lebensernst und souveränem Humor. Die weibliche Hauptrolle liegt in den Händen von Leonie Taliansky. Die männliche Hauptrolle wird von Frank Wedekind gespielt, der längere Zeit hindurch in der Schweiz und in Paris an der Bühne thätig war und unter seinem Theaternamen Heinrich Kammerer in der Literarischen Gesellschaft in Leipzig gastirt. Die Aufführung beginnt pünctlich um 8 Uhr.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 100, 25.2.1898, Morgen-Ausgabe, 4. Beilage, S. 1470] Neben Leonie Taliansky als Lulu und Wedekind als Dr. Schön spielten in weiteren Rollen Eugen Albu (Maler Schwarz), Ferdinand Schindler (Dr. Goll), Franz Ferdinand (Alwa Schön), Marianne Knorr (Gräfin Geschwitz), Max Henze (Schigolch) und Eugen Kalkschmidt (Prinz Escerny) [vgl. Rudolf von Gottschall: Literarische Gesellschaft. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 92, Nr. 104, 27.2.1898, 3. Beilage, S. 1510]. haben.
[Kuvert:]
Frau
Dr. Emilie Wedekind
Struve Strasse 34.
Dresden.