Berlin 22. April 1910.
Hochverehrter Herr Wedekind!
Der ‚Neue Club‘Der ‚Neue Club‘] Der Neue Club bestand von März 1909 bis Frühjahr 1914 als Vereinigung junger Berliner Intellektueller und Literaten, vorwiegend noch Studenten, und wollte laut seiner Satzung „seinen Mitgliedern einen regelmässigen Gedankenaustausch ermöglichen und ihnen Gelegenheit bieten, mit ihren Arbeiten an die Öffentlichkeit zu treten.“ [Sheppard 1980, S. 402]. Zu den Gründungsmitgliedern zählten Jakob van Hoddis, Franz Grüner, Kurt Hiller, Kurt Levy, Erwin Loewenson, Erich Unger, John Wolfsohn und Edgar Zacharias [vgl. Wülfing/Bruns/Parr 1998, S. 356], später stießen u. a. Georg Heym und Ernst Blass hinzu. Treffpunkt des Neuen Clubs war das Nollendorfkasino am Nollendorfplatz. An die Öffentlichkeit trat der Club ab Juli 1909 durch Diskussionsabende und Vorträge an unterschiedlichen Veranstaltungsorten [vgl. Wülfing/Bruns/Parr 1998, S. 350; 354]. Am Schwarzen Brett der Berliner Universität hängte der Neuen Club einen „Aufruf“ aus mit einer Reihe von Zitaten von Nietzsche, Spinoza, Oscar Wilde, Goethe und Hugo von Hofmannsthal. Wedekind war dabei vertreten mit einer Replik aus seinem Einakter „Die Zensur“ [vgl. KSA 6, S. 221]: „Welche Kurzweil bereitet uns denn das Leben, wenn wir es nicht ernst nehmen?“ [Sheppard 1980, S. 182] (eine Vereinigung von Studenten der
Philosophie und jungen Künstlern, die sich verschworen haben, den Blasphemieen„jede ehrenrührige Rede, insbes. Gotteslästerung“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 3. Leipzig, Wien 1903, S. 25]; gemeint sind hier wohl Angriffe auf Künstler und Literaten.
dieser Zeit nicht länger untätig zug/z/usehen und ihren Ekel vor allem
CommishaftenEin Commis war ein kaufmännischer Angestellter oder Büroangestellter. Ganz ähnlich formulierte Erwin Loewenson in einer auf Wedekind bezogenen Passage in seinem am 8.11.1909 in Neumanns Festsälen am Hackeschen Markt gehaltenen Vortrag „Die Décadence der Zeit und der ‚Aufruf‘ des ‚Neuen Clubs‘“: „Denken Sie in der Kunstbewertung an die Respektlosigkeit vor diesen heutigen Dingen! Mit welcher enthusiastischen Psychologielosigkeit und mit welcher commishaften Unsauberkeit wird heut einem Überwältiger begegnet, einem, der umstrahlt ist von dem Lachen der Welten: Frank Wedekind!“ [Sheppard 1980, S. 202] im Kunst- und Wissenschaftsbetrieb und ihre Bewunderung der
Einzelgeister öffentlich kundzutun)
richtet in Ergebenheit eine Bitte an Sie.
Es ist der Beschluß gefaßtDie Mitglieder des Neuen Clubs hatten am 4.4.1910, angesichts der öffentlich gewordenen Auseinandersetzungen zwischen Wedekind und seinem Verleger Bruno Cassirer [vgl. Wedekind im Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 157, 29.3.1910, Abend-Ausgabe, S. (3)], während eines Treffens „im Club-Montags-Stammtisch des Café des Westens beschlossen […] Ehrenhalber einen Demonstrations-Wedekind-Abend [zu] machen u zwar wahrscheinlich die Zeit (8–10 Mai sowas), wo er gerade in Berlin ist, (zur Aufführung zwei seiner Stücke von der Akademischen Bühne, wo er mitspielt).“ [Erwin Loewenson an Erich Unger, 5.4.1910. Zit. n. Sheppard 1980, S. 299] Den in der Presse angekündigten Gastauftritt in Berlin [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 133, 14.3.1910, Abend-Ausgabe, S. (2)] hatte Wedekind bereits öffentlich dementiert [vgl. Wedekind an B. Z. am Mittag, 18.3.1910]. worden, – wofern wir Ihre,
überaus gütige, Genehmigung dazu erhalten: und eben dahin geht unsere Bitte; –
daß Mitte Mai ein ‚Wedekind-Abend‘ stattfinde; in einem vornehmen Konzertsaal
und in größerem Stil. Der mit dem einleitenden Vortrag BetrauteDas war Erwin Loewenson selbst. Seinem Freund Erich Unger schrieb er am 5.4.1910 im Zusammenhang mit dem geplanten Wedekind-Abend: „Vortrag werde ich halten über Wedekind und Tragik.“ [Sheppard 1980, S. 300] Aus dem Plan ging der Vortrag „Das Thema von Wedekinds Theodizee“ hervor, in dessen Zentrum der Einakter „Die Zensur“ stand, den Erwin Loewenson unter seinem Pseudonym Golo Gangi bei einem internen Abend des Neuen Clubs am 16.11.1910 hielt [vgl. den Abdruck des Programms sowie der Reinschrift von Loewensons Manuskript in Sheppard 1980, S. 411-423]. (aus unserer
Mitte) meint, eine neue – undüstere – Definition der Tragik gefunden zu haben,
und sieht in Ihnen, verehrter Herr Wedekind, den einzigen wirklichen Tragiker,
der seit Hebbel über Europa gekommen ist. (Nach | dem Vortrag sollen erste
Künstler der Bühne aus Ihren Werken vorlesenFür den Wedekind-Abend war als Programm geplant, „1 bis 2 Vorträge (wahrscheinlich aber nur einer) und einiges von ihm selbst, vorzulesen – etwa von Tilla Durieux, Gertrud Eysoldt, Albert Bassermann, Albert Heine, zur Auswahl. Tilla Durieux ist bereits leidenschaftlich dafür, umsonst natürlich [...] Die Namen brauchen wir [...], weil sie 1) das Publicum anlocken sollen u weil es 2) eine Ehrung sein soll (dies dem Publicum unter die Nase zu reiben).“ [Erwin Loewenson an Erich Unger, 5.4.1910, in: Sheppard 1980, S. 299]. Frau Tilla Durieux hat sich uns
bereits hierfür in der liebenswürdigsten Weise zur Verfügung gestelltDie Schauspielerin Tilla Durieux las während des zweiten Neopathetischen Cabaret-Abends des Neuen Clubs am 6.7.1910 eine Szene aus Wedekinds Einakter „In allen Wassern gewaschen“ [vgl. Schneider/Burckhardt 1968, S. 403], der Mitte Juni 1910 erschien. [vgl. KSA 7/II, S. 690; 878-880]. Die Veranstaltung fand im „Papierhaus“ (Dessauer Straße 2) statt. Erwin Loewenson schrieb am 13.4.1910 an Erich Unger: „Die Tilla Durieux ist ebenfalls bereits fest; umsonst.“ [Sheppard 1980, S. 302]; doch
möchten wir uns an weitere Künstler nicht eher wenden, bevor wir nicht Ihren
freundlichen Rat hierüber gehört haben. Insbesondere jedoch bitten wir Sie für
die Auswahl der Werke um Ihren Rat und Wunsch.
Obgleich Sie nicht wissen können, Hochverehrter, wie sehr
die Ausstrahlungen Ihres Geistes zu einem der Elemente unserer Lebensatmosphäre
geworden sind, hoffen wir doch, Sie werden uns unsere Bitte nicht abschlagen.
Gestatten Sie, daß wir noch die hinzufügen, uns – wenn irgend möglich –
umgehend zu antworten, da wir an die Vorbereitungen nicht eher herangehen
können, als bis wir im Besitze Ihrer Zustimmung sind.
Empfangen Sie unsern ehrfurchtsvollen Gruß
Im
Namen des Neuen ClubIn Erwin Loewensons Nachlass überliefert ist ein Briefentwurf Kurt Hillers, des ersten „Präsidenten“ des Neuen Clubs, an Wedekind [vgl. Kurt Hiller an Wedekind, 21.4.1910], der sich im Namen des Neuen Clubs offenbar zunächst selbst an ihn wenden wollte, dies jedoch dann Erwin Loewenson überließ, dem er seinen durchgestrichenen Briefentwurf anscheinend übergab.,
sehr ergebenst:
Erwin Loewenson
(Berlin W. 57. Bülowstr. 6Erwin Loewenson studierte zunächst Jura, seit 1909 dann Philosophie in Berlin [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Studierenden der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Auf das Winterhalbjahr vom 19.10.1909 bis 15.3.1910. Berlin 1909, S. 171] und wohnte bei seinen Eltern; der Vater Alex Loewenson war unter dieser Adresse verzeichnet als „Dentist, Atelier für künstliche Zähne u. Plomben“ [Berliner Adreßbuch 1910, Teil I, S. 1703]. .)