Kennung: 4858

München, 1. Oktober 1911 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Leipziger Abendzeitung, (Zeitung)

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


Sehr verehrliche Redaktion

Empfangen Gestatten Sie mir Ihnen meinen aufrichtigen Dank für das große Wohlwollen auszudrücken, das Sie der Aufführung meiner B. d. Pan. entgegeg entgegenbrachten. Das größte Vergnügen bereitete mir die Leipziger Polizeibehörde, die die weiteren Aufführungen meines Stückes verbot. Muß mir doch ein klangvolles Eingreifen der Polizei von jedem Gesichtspunkt aus betrachtet sympatischerSchreibversehen, statt: sympathischer. sein als ein klar geräuschloses Ausbleiben des Publikums. Das Mißgeschick meines Stückes erinnerte mich einigermaßen an den weisen Sokrates, der im Alter von 72 zwei und siebzig Jahren den Märtyrertod starb.

In vorzüglichster Hochschätzung
Ihr ergebener
FrW.


[2. Abgesandter Brief:]


München, Prinzregentenstraße 50.

1. Oktober 1911.


An die tit. Redaktion der Leipziger AbendzeitungChefredakteur der 1886 gegründeten „Leipziger Abendzeitung“ (Inhaber: Waldemar Szpitter) in Leipzig (Windmühlenstraße 39) [vgl. Leipziger Adreßbuch 1912, Teil I, S. 506] war seinerzeit der Schriftsteller und Journalist Dr. Erhard Breitner [vgl. Leipziger Adreßbuch 1912, Teil I, S. 90]..
Leipzig.


Sehr verehrliche Redaktion!

Gestatten Sie mir, Ihnen meinen aufrichtigen Dank für das große Wohlwollensarkastisch gemeint. Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ war in Leipzig aufgeführt worden (siehe unten), „ein Teil der Leipziger Presse polemisierte gegen das Stück“ [KSA 3/II, S. 1206] und zu diesem Teil dürfte die „Leipziger Abendzeitung“ gehört haben (die entsprechenden Ausgaben der Zeitung sind archivalisch nicht verfügbar). auszudrücken, das Sie der Aufführung„Die Büchse der Pandora“ wurde am 24.9.1911 im Leipziger Schauspielhaus (Direktion: Anton Hartmann, stellvertretender Direktor: Fritz Viehweg) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 516] um 11.30 Uhr in einer geschlossenen Matinee-Vorstellung aufgeführt: „Sonntag, den 24. September, vormittags 11½ Uhr: Gastspiel Käte Franck-Witt. Einmalige Aufführung: Die Büchse der Pandora. Tragödie in 3 Aufzügen von Frank Wedekind. Regie: Fritz Viehweg. [...] Anfang 11½ Uhr. Ende gegen 2 Uhr.“ [Leipziger Volkszeitung, Jg. 18, Nr. 221, 23.9.1911, 1. Beilage, S. (4)] Die Presse hatte acht Tage zuvor gemeldet: „Die schon angekündigte einmalige Ausführung von Frank Wedekinds ‚Büchse der Pandora‘ soll bereits am Sonntag, den 24. September, als Matinee stattfinden, falls sie von der Zensur freigegeben wird.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 257, 16.9.1911, Morgen-Ausgabe, 2. Beilage, S. (2)] Die Freigabe erfolgte am 16.9.1911: „‚Die Büchse der Pandora‘ von Wedekind, das vielverbotene Stück, ist für Leipzig freigegeben und wird in der Jeßnerschen Inszenierung des Hamburger Thalia-Theaters am 24. September im Schauspielhaus seine Leipziger Erstaufführung erleben.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 257, 16.9.1911, Abend-Ausgabe, S. (3)] In den bis zur Premiere täglichen Pressenotizen war darauf hingewiesen, dass Wedekinds Stück „von der hiesigen Theaterzensur freigegeben worden ist“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 261, 20.9.1911, Morgen-Ausgabe, 3. Beilage, S. (2)], dass „Käthe Franck-Witt als Lulu in der von der hiesigen Theaterzensur inzwischen freigegebenen Tragödie ‚Die Büchse der Pandora‘ von Frank Wedekind“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 262, 21.9.1911, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. (3)] gastiere. meiner Büchse der Pandora entgegenbrachten. Das größte Vergnügen bereitete mir die Leipziger Polizeibehördedas Polizeiamt in Leipzig (Wächterstraße 5), Polizeidirektor war Dr. jur. Louis Wagler [vgl. Leipziger Adreßbuch 1912, Teil IV, S. 44]., die die weiteren AufführungenNach der als einmalige Vorstellung ausgewiesenen Premiere am 24.9.1911 (siehe oben) wurden zwei weitere Vorstellungen am 29.9.1911 und 1.10.1911 angekündigt: „Am Freitag und Sonntag gastiert Käthe Franck-Witt als Lulu in Frank Wedekinds ‚Die Büchse der Pandora‘, während am Sonnabend mit ihr als Gast in der Rolle der Lulu ‚Erdgeist‘ von Frank Wedekind auf dem Repertoir steht.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 267, 26.9.1911, Morgen-Ausgabe, 2. Beilage, S. (1)] „‚Die Büchse der Pandora‘ [...] gelangt am Freitag und Sonntag abend mit Käthe Franck-Witt als Gast in der Rolle der Lulu abermals zur Aufführung. [...] An diesen Vorstellungen zeigt sich bereits jetzt ein sehr reges Interesse“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 268, 27.9.1911, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. (3)]. „Morgen und Sonntag wird Frank Wedekinds ‚Die Büchse der Pandora‘ wiederholt.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 269, 28.9.1911, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. (4)] Diese Vorstellungen waren dann am 29.9.1911 verboten worden, für die Vorstellung am 29.9.1911 vom Theater ersatzweise „Erdgeist‘ angesetzt: „Da die hiesige Zensurbehörde heute die weiteren Aufführungen von Frank Wedekinds ‚Die Büchse der Pandora‘ verboten hat, geht heute Freitag und morgen Sonnabend mit Käthe Franck-Witt als Gast in der Rolle der Lulu Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ in Szene.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 270, 29.9.1911, Abend-Ausgabe, 1. Beilage, S. (2)] Für die Vorstellung am 1.10.1911 wurde ersatzweise ein Stück von Hermann Sudermann auf den Spielplan gesetzt: „Infolge des polizeilichen Verbotes der weiteren Aufführungen von Frank Wedekinds ‚Die Büchse der Pandora‘ wird morgen Sonntag Sudermanns Schauspiel ‚Heimat‘ mit Käthe Franck-Witt in der Rolle der Magda gegeben.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 271, 30.9.1911, Morgen-Ausgabe, 4. Beilage, S. (4)] meines Stückes verbot. Mußte mir doch ein klangvolles Eingreifen der Polizei von jedem Gesichtspunkt aus betrachtet sympathischer sein als ein geräuschloses Ausbleiben des PublikumsDie Besprechungen der Premiere von Wedekinds Tragödie am 24.9.1911 (siehe oben) in der Leipziger Presse geben kein eindeutiges Bild, was Premierenbesuch und Publikumsresonanz angeht. Die „Leipziger Volkszeitung“ machte dazu keine Angaben, bemerkte aber: „Da sind wir nun so weit, daß in Leipzig selbst Wedekinds Büchse der Pandora öffentlich gespielt werden kann, ohne daß es erst Kämpfe und Verbote gibt, zunächst in einer Sonntagsmatinee, späterhin wohl auch in öffentlichen Aufführungen.“ [gm.: Schauspielhaus (Die Büchse der Pandora). In: Leipziger Volkszeitung, Jg. 18, Nr. 222, 25.9.1911, Feuilleton-Beilage, S. (2)] Während die „Leipziger Zeitung“ am 25.9.1911 von einem guten Besuch sprach: „Das Haus war gut besucht, die Zahl der Zuschauer, die vorzeitig die Flucht ergriffen, verhältnismäßig nicht groß. Auch die Protestäußerungen nicht sonderlich energisch. Der Beifall ließ namentlich nach dem grauenhaften Schlusse den Vorhang mehrfach in die Höhe gehen“ [KSA 3/II, S. 1276], hat das „Leipziger Tageblatt“ das anders gesehen: „Vor mäßig besetztem Hause zog das Schauergemälde [...] vorüber, am Schlusse mit lautem Beifall bedacht, in den sich anfangs mäßiges Zischen mischte.“ [–th.: Leipziger Schauspielhaus. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 105, Nr. 266, 25.9.1911, Morgen-Ausgabe, S. (2)]. Das Schicksal meines Stückes erinnerte mich einigermaßen an den weisen Sokrates, der im Alter von zwei und siebenzig Jahren den Märtyrertod starbDer griechische Philosoph Sokrates wurde im Jahr 399 v. Chr. in Athen „wegen ‚Einführung neuer Götter‘ und ‚Verführung der Jugend‘ zum Tode verurteilt und durch den Schierlingsbecher hingerichtet.“ [Brodersen/Zimmermann 2006, S. 558] Wedekind hat sich mit dem Philosophen, der „die Auffassung“ vertrat, „daß das sittlich Richtige für jeden einzelnen erkennbar sei, sofern er zur Selbsterkenntnis und zur kritischen Überprüfung vermeintlichen Wissens bereit sei“ [KSA 2, S. 541], schon in seiner Schulzeit befasst, als er 1882 das allerdings humoristische Stück „Das Gastmahl bei Sokrates. Ein Schauspiel für die gebildete Welt, aus dem Griechischen übersetzt“ [KSA 2, S. 9-31] schrieb..

In vorzüglichster Hochschätzung
Ihr ergebener
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
1. Briefentwurf: Papier. 14,5 x 23 cm. Gelocht. 2. Abgesandter Brief: Papier. 13,5 x 22 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der im Münchner Nachlass Wedekinds auf einem Einzelblatt befindliche Briefentwurf [FW B 208] ist oben links mit lila Buntstift mit einer Ziffer („3.“) markiert – möglicherweise von Wedekind selbst. Der abgesandte Brief ist nach einer in der EFFW vorhandenen Fotokopie des Originals wiedergegeben, da sein Verbleib ‒ ehemals Privatbesitz – derzeit unbekannt ist.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    1. Oktober 1911 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Leipzig
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 208
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an (Zeitung) Leipziger Abendzeitung, 1.10.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

31.10.2023 13:23