Kennung: 4831

Zürich, 19. April 1900 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Zürich, Bahnhofplatz 1.


Lieber Frank!

Auf meinen letzten Briefvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 24.3.1900. habe ich keine Antwort erhalten, was mich nicht wundert, da er auch weiter keine erwartete. Um so mehr hoffe ich, wirst du diese meine Zeilen mit einigen Nachrichten beantworten, wovon vielleicht mehr abhängt | als du glauben magst. Seit ich im Herbst die Redaktion der „Fremdenblätterwohl das saisonal wochenweise erscheinende „Zürcher Fremdenblatt“ (seit 1906: „Zürcher Theater-, Konzert- und Fremdenblatt“), herausgegeben von der offiziellen Verkehrs-Kommission in Zürich. verloren, war meine journ. Arbeit (von schriftstell. gar nicht zu sprechen) sozusagen Null. Es wiederstrebtSchreibversehen, statt: widerstrebt. mir überhaupt die Feder in die Hand zu nehmen, die Kraft fehlt mir, aus eigener Initiative zu arbeiten und unselig der Moment, da mir solches vor zehn Jahre beim | Aufsetzen meiner ersten FeuilletonnovelleDonald Wedekinds Erzählung „Der Gang nach der Teufelsbrücke“ war in der Berner Tageszeitung „Der Bund“ erschienen [vgl. Der Bund, Jg. 40, Nr. 148, 28.5.1889, S. (1-3), Nr. 149, 29.5.1889, S. (1)]. einmal gelungen. Dagegen habe ich das, was man von mir zu tun verlangte, wenn Zeit und Ort gezwungen war, immer zur Zufriedenheit meiner Mitmenschen gemacht, es sollte mich deshalb verwundern ob ich nicht irgendeine Stelle, sei sie von dieser oder jener Art, auszufüllen im Stande wäre. | Du hast dich vor einem Jahr dazu herbeigelassen mir deine Empfehlungen zu geben. Du hattest aber selber UnglückFrank Wedekind war seit Ende Juni 1899 in Untersuchungshaft in Leipzig und nach seiner Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung bis zum 3.2.1900 inhaftiert., warst fern und vielleicht allzusehr im Optimismus befangen was dein und mein Verhältniß zu gewissen Leuten, deinen und meinen Einfluß auf dieselben anbetrifft. Deswegen schlug die Sache fehl ohne daß ich mir die/en/ Sache/Vor/wurf des Fehlens der besten | und ernsthaftesten Absicht zu machen hätte. Stehen heute die Sachen anders? Bist du in deiner Stellung sicherer geworden, so sicher, daß ein Schlag ins Wasser ausgeschlossen ist. Wenn die/das/ der Fall ist, dann bitte suche mir irgend welche Stellung mit mechanisch regelmäßiger Arbeit zu bekommen, ist die Stellung so, daß sich mehr als eine einfache Versorgung dabei erreichen | läßt, so werde ich die Arme nicht sinken lassen. Aber die Versorgung ist augenblicklich die Hauptsache und zwar von dem Standpunkt aus, daß ich durch die daraus erfolgende Regelmäßigkeit auch mein GeistigesSchreibversehen, statt: geistiges. Leben wieder ins Geleise bringen.

Ich habe seit der Nachricht von Tante Auguster/n/s AblebenWedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben und „hinterließ ein reiches Erbe, das an ihre Nichten und Neffen fiel, pro Erbe und Erbin eine Summe von 5000 bis 6000 Mark“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199]. 1200 frs. Schulden gemacht, das heißt in drei Mona|ten 1200 frs. gebraucht. Wäre das in irgendeiner andern Stadt als Zürich, würde ich mich über die Tatsache freuen, so aber muß ich mir selber gestehen, daß das, was man hier für sein Geld erhält, solches nicht wert ist, denn ob man trinkt, spielt oder liebt, immer ist/si/nd es und/d/ie gröbsten, unfeinsten Umstände, unter denen man genießt. Das Baccarat Karten-Glücksspiel.ist vielleicht noch der | annehmbarste Zerstreuung die man sich hier schaffen kann, deshalb habe ich mich auch nicht gescheut, Abend für Abend mit einer gewissen clubartigen Regelmäßigkeit dieses Spiel zu pflegen. Ich hatte jedoch, wie die meisten Spielenden mit beschränkten Mitteln, kein Glück verliere im Ganzen vielleicht 200 frs. was bei der langen und/Dauer und den häufigen, ge|nußreichen Abenden immerhin nicht zu teuer bezahlt war. Daß jedoch ein geistiges Leben bei f/d/er Art des abwechselnd aufgeregten und apathischen Dahinvegetirens nicht existiren kann, wirst du verstehen.

Wenn du also irgend jemand kennst, der Leute braucht, Leute anstellt, sei es zu dieser oder jener Beschäftigung, und du glaubst ein Wort | sicher einlegen zu dürfen, so tue es – du würdest mir einen Dienst erweisen. Für den Augenblick würdest du mich verpflichten, wenn du mir eine solche Summe wie du Sie entbehren kannst, zuschicken würdest, denn ich werde morgen oder übermorgen ohne Geld sein und mein Credit auf die Erbschaft ist erschöpft.

Ich las kürzlich, | daß dein Kammersänger in WienÜber das geplante Gastspiel der Berliner Secessionsbühne in Wien mit Wedekinds Stück „Der Kammersänger“ berichtete die Presse seit Mitte April: „Nach dem Deutschen Theater wird auch ein zweites Berliner Theater in Wien gastieren, eines das in Berlin selbst – noch wenig bekannt ist. Die ‚Secessionsbühne‘ hat im Neuen Theater nur zwei Vorstellungen als Sonntags-Matinéen gegeben. Beide hatten freilich ausgesprochenen und vielversprechenden Erfolg. Im Juli d. J. will die Secessionsbühne ein Gastspiel in Wien veranstalten, und hat dafür unter anderen ‚An des Reiches Pforten‘ von Knut Hamsun und die von ihr in Berlin bereits aufgeführte Komödie ‚Der Kammersänger‘ von Frank Wedekind von Albert Langens Bühnenverlag in München erworben.“ [Grazer Tagblatt, Jg. 10, Nr. 102, 12.4.1900, S. 16] Die Gastspielpremiere der Berliner Secessionsbühne (Leitung: Paul Martin) am Theater in der Josephstadt mit Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ fand am 21.7.1900 statt [vgl. Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 6710, 21.7.1900, 6 Uhr-Blatt, S. 3; 8]. aufgeführt werden soll. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich dich wieder einen Schritt vorwärts machen sehe und weiß, daß du sicher ans Ziel gelangen wirst. Ob ich es erleben werde? –

Damit bin ich, in Erwartung deiner sofortigen Antwort, dein dich liebender Bruder
Donald


19. April 1900
Zürich Bahnhofplatz 1

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 11 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 1 ist von fremder Hand mit rotem Buntstift oben rechts eine Raute (#) notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    19. April 1900 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Deutsches Literaturarchiv Marbach/KH

Schillerhöhe 8-10
71672 Marbach am Neckar
Bundesrepublik Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
A: Klement, Alfred von
Signatur des Dokuments:
A: Klement, Alfred von, Otto-Erich-Hartleben-Sammlung
Standort:
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Marbach am Neckar)

Danksagung

Wir danken dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Kurt Hiller Gesellschaft e. V. für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 19.4.1900. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

20.12.2023 15:15