22.7.95.
21,
BOULED BERTHIERWilly Gretor (Pseudonym von Wilhelm Petersen), Maler, Kunsthändler, Kunstfälscher und Spekulant, außerdem Mentor Albert Langens und Mäzen Wedekinds, war in den Pariser Adressbüchern anfangs am Boulevard Malesherbes 112 (8. Arrondissement) gemeinsam mit Albert Langen – „Gretor, peintre“ und „Langen, rentier“ [Paris-Adresses 1894, S. 2085] – verzeichnet (das war zugleich die Adresse des 1893 gegründeten Albert Langen Verlags), nie aber offiziell am Boulevard Berthier 21 (17. Arrondissement), wo der Maler („artiste peintre“) Stephen Jacob gemeldet war [vgl. Paris-Adresses 1894, S. 1770; Paris-Adresses 1896, S. 1415], wo er gleichwohl seinen Sitz hatte. Willy Gretor „führte [...] in Paris am Boulevard Berthier ein großes Haus, reiste kreuz und quer durch Europa und [...] betrieb [...] einen lukrativen europäischen Kunsthandel, nicht nur mit echten, sondern, das bestätigte sich später, mit gefälschten Gemälden.“ [Abret 2005, S. 9]
Lieber
Hrr Wedekind, erst heute habe ich eine ruhige stunde in
der ich Ihnen auf ihr schreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Willy Gretor, 11.7.1895. In diesem verschollenen Brief dürfte vom „Erdgeist“-Drama mitsamt der anstehenden Drucklegung im Albert Langen Verlag, von Max Liebermann (siehe unten) und vom Verhältnis Wedekinds zu Willy Gretor die Rede gewesen sein. „Wedekind, dessen Mittel aus der Erbschaft bereits erschöpft waren und der von seiner Schriftstellerei nicht leben konnte, wurde im September 1894 von Grétor als ‚Sekretär‘ engagiert“ – nach einem nur im Entwurf überlieferten „Bittbrief“ [Vinçon 1987, S. 47], in dem Wedekind seine finanzielle Misere darlegte [vgl. Wedekind an Willy Gretor, 1.9.1894]. Inzwischen dürfte es eine Auseinandersetzung Wedekinds mit seinem Mäzen gegeben haben, wie der vorliegende Brief andeutet. antworten kan. Entweder hat hrr Langen mich,
oder Sie ihn misverstanden. Nicht von einem stücke dass Sie beabsichtigen zu
schreiben war die rede, sondern eins dass ich im begriffe bin zu schreiben, und wozu ich ihre erfahrene hand wünschte, da
ich mich zu schwach fuhle es allein durchzufuhren. |
Bezüglich „Lulu“, ist es Ihnen bekand, dass ich
eine bearbeitung des stoffes habe. Als Hrr Langen mir mittheilteAlbert Langens Mitteilung an Willy Gretor über Wedekinds „Erdgeist“ erfolgte nach dem 10.7.1895 (siehe unten), wann genau, ist unklar. „Albert Langens Vertrauter Willy Grétor“ hat sich jedenfalls mit dem vorliegenden Brief „in die Debatte über das Schicksal des Werkes eingeschaltet, [...] nachdem es bereits zum Bruch zwischen Langen und Grétor gekommen war“, und er machte in diesem Brief „Ansprüche Wedekind gegenüber geltend“ [KSA 3/II, S. 835], die erfolglos blieben., dass Sie ihm das stück eingereichtWedekind hatte Albert Langen nach einer Unterredung mit dem Verleger am 9.7.1894 in Leipzig sein Drama „Der Erdgeist“ am darauf folgenden Tag für die Veröffentlichung im Albert Langen Verlag übergeben und bereits diesen Titel genannt [vgl. Wedekind an Albert Langen, 10.7.1895], der noch unsicher war. Das vieraktige Stück, eine seit Spätsommer 1894 entstandene Umarbeitung der ersten drei Akte aus der fünfaktigen Monstretragödie „Die Büchse der Pandora“ (1894) mit einem neu geschrieben 3. Akt (der ursprüngliche 3. Akt wurde zum 4. Akt“) [vgl. KSA 3/II, S. 833f.], im sogenannten Stollberg-Manuskript noch unter dem Titel „STAUB. Eine Tragödie“ [KSA 3/II, S. 857], hatte zwischenzeitlich auch den Arbeitstitel „Irrlicht“ [vgl. Wedekind an Otto Brahm, Deutsches Theater zu Berlin, 17.8.1895], der verworfen wurde. „Der Erdgeist. Eine Tragödie“ erschien 1895 im Verlag von Albert Langen noch mit der Verlagsadresse „Paris und Leipzig. (Paris 112, Bd Malesherbes)“ [KSA 3/II, S. 858]. Die Erstausgabe lag „Ende September 1895“ [KSA 3/II, S. 835] gedruckt vor. Die zweite Auflage „Lulu. Dramatische Dichtung in zwei Teilen. Erster Teil: Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen“ erschien 1903 im Albert Langen Verlag für Literatur und Kunst in München [vgl. KSA 3/II, S. 861] mit einer Widmung, um die Willy Gretor gebeten hatte [vgl. Wedekind an Korfiz Holm, 12.4.1903] und die 1913 in die „Ausgabe letzter Hand“ [auch KSA 3/II, S. 868] übernommen wurde: „Willy Grétor gewidmet“ [KSA 3/I, S. 401]. hatten, sagte ich ihnen, dass ich
ebenfalls eine bearbeitung des stoffes stückes habe, und bat ihn Sie
darüber zu benachrichen, falls Sie noch geneigt wären aus den beiden bearbeitungen ein stück zu machen.
Sie wissen wie heufig | Sie mir die
mitarbeiterschaft anboten, und als Sie sich mit mir erzürnten war die
konstrution des stückes die die ich angegeben hatte, Sie können es mir deshalb
nicht übel nehmen, das ich mit liebe ein sache weiter gearbeitet habe, die ich
durch Sie habe lieb gewonnen. Vor einigen monaten wollte ich Ihnen schon bezuglich
dieser sachen sprechen, verschafte mir deswegen ihre adresse durch die gräfin
NémethyWedekind kannte die in Paris lebende Schriftstellerin und Übersetzerin Gräfin Emmy de Némethy „seit Mai 1893“ [Vinçon 1987, S. 47] und unterhielt mit ihr freundschaftliche Beziehungen. | t/m/eine vielseitigen beschäftigungen und reisenUmstellung (markiert durch die Ziffer „2“ über „reisen“, die Ziffer „1“ über „beschäftigungen“), zuerst: reisen und beschäftigungen. haben mich
jedoch in meinem vorhaben verhindert und so habe ich meinen freundnicht identifiziert. gebeten Ihnen davon zu benachrichten.
Dies über die literanen fragen ihres briefes.
Ihr brief ist voll von spitzen bemerkungen, „(will
der herr GrafZitat aus Wedekinds nicht überliefertem Brief (siehe oben); Wedekind hat Heinrich Heine zitiert (mit allen damit gegebenen Anspielungen), der wiederum aus Lorenzo da Pontes Libretto zu Mozarts Opera buffa „Die Hochzeit des Figaro“ („Le Nozze di Figaro“, 1790) zitierte, als er als zweites Motto seines italienischen Reisebilds „Die Bäder von Lukka“ (1830) gegen Graf August von Platen gerichtet (das erste Motto ist einem Gedicht Platens entnommen: „Ich bin wie Weib dem Manne – –“) an die Gedichtzeile Platens die Verse des „Figaro“ anfügte: „Will der Herr Graf ein Tänzchen wagen, / So mag ers sagen, / Ich spiel ihm auf.“ [H. Heine: Reisebilder. Dritter Theil. Hamburg 1830, S. (216)] ein tänzchen wagen)“, sind sind gegen mich gereitz, aber den teufel auch, wehr hätte anderst an meinem
gehandelt an meiner stellen, als Sie mich des nachts wäcken | kamenWedekind konnte Willy Gretor nachts wecken, denn in „den letzten Pariser Monaten wohnt er in Grétors Haus“ [Abret 2005, S. 12] am Boulevard Berthier 21 (siehe oben).. Sie
sprechen von Max Liebermann, ja aber der Hrr kennt mich ja nicht, er hat mich
zwei mal gesehen, und unsere gemeinsamen bekanntenWilly Gretor war mit Dr. Wilhelm Bode, Kunsthistoriker und Direktor der Königlichen Gemäldegalerie in Berlin [vgl. Adreßbuch für Berlin 1896, Teil I, S. 21], schon einige Jahre bekannt und wurde spätestens 1896 mit Auftakt des Briefwechsels dessen Kunstagent [vgl. Wolff-Thomsen 2006, S. 232-296]; er dürfte Wedekind mit ihm bekannt gemacht haben. Willy Gretor war mit Theodor Wolff, seinerzeit Korrespondent des „Berliner Tageblatt“ in Paris, gut bekannt, wie seine Briefe an ihn aus dem Jahr 1894 dokumentieren [vgl. Wolff-Thomsen 2006, S. 219f.]. Wedekind hat den späteren Chefredakteur des „Berliner Tageblatt“ durch Willy Gretor in Paris kennengelernt, was Theodor Wolff unmittelbar nach Wedekinds Tod an versteckter Stelle – ein Nachruf ohne entsprechende Überschrift (unter der Verfassersigle „T.W.“ bildet er den Rahmen eines ansonsten zeitpolitischen Leitartikels) – publik machte: „Ich ging [...] auf einer Strecke seines Lebens mit ihm [...]. Er gehörte in Paris zum Hofstaat eines merkwürdigen, abenteuerlichen Dänen, der Maler, Mäcen, schrankenloser Gelegenheitssucher, verführerisch geistvoller Lebemann und sonst noch vielerlei war.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 47, Nr. 128, 11.3.1918, Montags-Ausgabe, S. (1); vgl. Martin 2017, S. 157] Bode und Theodor Wolff sind
mir beide wenig gut gesonnen.
kennen Sie Max LiebermannWedekind hatte Max Liebermann im Zusammenhang mit der für den 16.12.1896 in dessen Berliner Wohnung (Pariser Platz 7) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1896, Teil II, S. 625] anberaumten Vorlesung seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) kennengelernt, wie dieser sich erinnerte: „Es mögen zwanzig Jahre her sein, daß ich Wedekind zum ersten Male sah [...]. Er wollte nämlich sein Drama ‚Der Erdgeist‘ in meinem Atelier vorlesen. [...] Auf meine Entgegnung, daß ich weder ihn noch sein Stück kenne, überreichte er mir ein in Zürich gedrucktes Exemplar von ‚Frühlings Erwachen‘ [...]. Lag es am Vorleser oder am Stücke, jedenfalls machte ‚Der Erdgeist‘ gerade die entgegengesetzte Wirkung, die sich Wedekind versprochen hatte: die tragischen Stellen hatten einen starken Heiterkeitserfolg [...]. Darin waren alle einig [...], daß eine Aufführung unmöglich sei, ein kolossaler Theaterskandal wäre sonst unvermeidlich.“ [Max Liebermann: Wie ich Wedekind kennen lernte. In: Friedenthal 1914, S. 312f.] ..? ...?
Mit beste Grüsse
Ihr ergebener
Willy Grètor.
[Emendierter
Text:]
22.7.95.
21,
BOULED BERTHIER
Lieber Herr Wedekind, erst heute habe ich eine
ruhige Stunde, in der ich Ihnen auf Ihr Schreiben antworten kann. Entweder hat Herr
Langen mich, oder Sie ihn missverstanden. Nicht von einem Stücke, das Sie
beabsichtigen zu schreiben, war die Rede, sondern eins das ich im Begriffe bin
zu schreiben, und wozu ich Ihre erfahrene Hand wünschte, da ich mich zu schwach
fühle, es allein durchzuführen.
Bezüglich „Lulu“ ist es Ihnen bekannt, dass ich
eine Bearbeitung des Stoffes habe. Als Herr Langen mir mittheilte, dass Sie ihm
das Stück eingereicht hatten, sagte ich Ihnen, dass ich ebenfalls eine Bearbeitung
des Stoffes Stückes habe, und bat ihn Sie darüber zu benachrichtigen,
falls Sie noch geneigt wären, aus den beiden Bearbeitungen ein Stück zu machen.
Sie wissen wie häufig Sie mir die Mitarbeiterschaft
anboten, und als Sie sich mit mir erzürnten war die Konstruktion des Stückes
die, die ich angegeben hatte, Sie können es mir deshalb nicht übel nehmen, das
ich mit Liebe ein Sache weiter gearbeitet habe, die ich durch Sie habe lieb
gewonnen. Vor einigen Monaten wollte ich Ihnen schon bezüglich dieser Sachen
sprechen, verschaffte mir deswegen ihre Adresse durch die Gräfin Némethy, meine
vielseitigen Beschäftigungen und Reisen haben mich jedoch in meinem Vorhaben
verhindert, und so habe ich meinen Freund gebeten, Ihnen davon zu benachrichtigen.
Dies über die literarischen Fragen ihres Briefes.
Ihr Brief ist voll von spitzen Bemerkungen, „(will
der Herr Graf ein Tänzchen wagen)“, sie sind gegen mich gereizt, aber den Teufel
auch, wer hätte anders an meinem gehandelt an meiner Stelle, als
Sie mich des Nachts wecken kamen. Sie sprechen von Max Liebermann, ja aber der
Herr kennt mich ja nicht, er hat mich zweimal gesehen, und unsere gemeinsamen Bekannten
Bode und Theodor Wolff sind mir beide wenig gut gesonnen.
Kennen Sie Max Liebermann??
Mit beste Grüßen
Ihr ergebener
Willy Grètor.