München 18. Juli 1916Wedekind notierte am 18.7.1916: „Brief an Possart.“ [Tb].
Prinzregentenstraße 50.
Sehr geehrter Herr Generalintendant!
Hochverehrter Meister!
Wollen Euer Hochwohlgeboren gestatten, Sie um
eine kurze UnterredungWedekind notierte gleich am 19.7.1916 die im vorliegenden Brief erbetene Unterredung mit Ernst von Possart, als ehemaliger Hoftheaterintendant einflussreiches Mitglied des Münchner Zensurbeirats, der ein früheres Aufführungsverbot des „Simson“ in München befürwortet (siehe unten), inzwischen aber seine Ansicht geändert hatte und Wedekind zu unterstützen bereit war: „Besuch bei Possart wegen Simson 1½ stündige Unterredung. Er telephoniert an die Polizei“ [Tb]. Wedekind sprach daraufhin am 20.7.1916 und 31.7.1916 „in der Polizeidirektion München vor, um die Freigabe des Stückes in München zu erwirken“ [KSA 7/II, S. 1403]. Die Direktion des Münchner Schauspielhauses stellte am 1.8.1916 ein Gesuch um Freigabe des „Simson“ an die Kammer des Innern der Kreisregierung von Oberbayern [vgl. KSA 7/II, S. 1403-1405], was Wedekind im Tagebuch notierte („Nachmittag bei Rosenthal Beschwerde ans Kultusministerium“); seine Unterredung mit Ernst von Possart ist in diesem Schreiben erwähnt: „Herr Wedekind hat, wie er uns mitteilt, bereits mit Herrn Geheimrat Dr. von Possart, welcher seinerzeit Bedenken gegen das Stück geäußert hatte, Rücksprache genommen, um den etwa bestehenden Bedenken des Herrn von Possart Rechnung zu tragen; es hat sich hiebei auch gezeigt, daß eine Einigung des Standpunktes des Dichters und des Herrn Possart durchaus möglich ist“ [KSA 7/II, S. 1405]. Wedekind wurde schließlich am 7.9.1916 vormittags eine „Audienz beim Minister Soden“ [Tb] gewährt, nach der er Ernst von Possart aufsuchte („Nachmittag bei Possart“), der ihn am 8.9.1916 über die Aufrechterhaltung des Verbots informierte („Possart bringt Nachricht vom Minister“), woraufhin am 11.9.1916 eine erneute Eingabe gestellt wurde („Rosenthal sendet erneute Eingabe an Regierung wegen Simson“), die am 10.10.1916 wiederum keine Freigabe erbrachte („Audienz beim Minister. Simson verboten“). Die Presse meldete: „Unser Münchener Korrespondent telegraphiert: Das Drama ‚Simson‘ von Frank Wedekind, das hier im Schauspielhaus aufgeführt werden sollte, ist verboten worden, obgleich es in Berlin und Wien und anderen Orts unbeanstandet gespielt werden konnte. Das Verbot wurde, wie ich erfahre, trotz der Fürsprache des früheren Generalintendanten v. Possart, des Mitgliedes des Zensurbeirats beim Ministerium des Innern, und trotz des Ministers eigener Aufmerksamkeit für das Werk erlassen.“ [Frank Wedekinds „Simson“ verboten. In: Berliner Tageblatt, Jg. 45, Nr. 521, 11.10.1916, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Ernst von Possart gab daraufhin seine Mitgliedschaft im Münchner Zensurbeirat auf [vgl. Meyer 1982, S. 87], wie Josef M. Jurinek am 2.11.1916 im „Berliner Börsen-Courier“ berichtete: „Ernst v. Possart ist aus dem Zensurbeirat in München ausgetreten, weil gegen seine Fürsprache Wedekinds ‚Simson’ verboten wurde.“ [KSA 7/II, S. 1407] in einer literarischen Angelegenheit ehrerbietigst zu
ersuchen. Billigen Sie, verehrter Meister, mir die Freiheit zu, mich auf das in
großherziger Freigebigkeit von Ihnen abgelegte GelöbnisErnst von Possart dürfte Wedekind das im vorliegenden Brief Zitierte nach dem ersten Aufführungsverbot des „Simson“ in München am 12.6.1914 [vgl. KSA 7/II, S. 1331] in einer nicht dokumentierten Begegnung gelobt haben, nach Wedekinds Rückkehr von Berlin nach München am 16.6.1914 und vor seiner Abreise von München nach Florenz am 26.6.1914 [vgl. Tb]. Ernst von Possart hatte in seinem Gutachten vom 7.5.1914 zu „Simson“ erklärt: „Ich für meinen Teil, der ich ein halbes Jahrhundert hindurch [...] erhebendere dramatische Darbietungen auf den Münchener Bühnen vorüberziehen sah, würde es schmerzlich empfinden, wenn ich am Ende meiner Tage einen derartigen Missbrauch der kunstgeweihten und mir ehrwürdigen Bretter auch hier erleben müsste. Ich bin gegen die Aufführung des Stückes in der vorliegenden Form.“ [KSA 7/II, S. 1369] In der Presse war sein Votum als maßgeblich für das Verbot herausgestellt worden [vgl. KSA 7/II, S. 1374-1378, 1380-1385], wozu Ernst von Possart in einem zuerst am 22.6.1914 in der „Münchener Zeitung“ publizierten offenen Brief erklärte: „Ich muß [...] die mir zugeschriebene ‚Schuld‘ in jedem Sinne in Abrede stellen.“ [KSA 7/II, S. 1377] zu berufen: „Wenn ich
einmal ein echter Künstler geworden wäre, und es träte ein armer | Junge zu mir
ins Zimmer, und sähe er noch unbedeutender aus als ich, aber es lebte in ihm
der unwiderstehliche Drang zur Bühne, dann wollte ich ihn anhören mit aller
Geduld und nicht lachen…“ u.s.w.
Als ein wie „armer Junge“ ich künstlerisch vor
Ihnen, verehrter Herr Generalintendant, stehe, wurde mir mit beschämender
Schwere bewußt, als ich an Ihrer, gewaltigen Sonnenbahn, wie ich sie in Ihrem
herrlichen ErinnerungswerkErnst von Possarts Memoiren „Erstrebtes und Erlebtes. Erinnerungen aus meiner Bühnentätigkeit“ (1915) waren im Verlag Ernst Siegfried Mittler und Sohn in Berlin 1916 in 3. Auflage erschienen. von neuem überblicken durfte, die zwanzig Jahre maß,
in denen ich in aller Art Unwürdigkeit durch Dickicht | und Dornen mich wund
reißen mußte, ehe die Welt überhaupt etwas von mir wissen wollte.
Wieviel ich Ihrem Lebenswerk an künstlerischem
Gewinn verdanke, wie Ihre Erinnerungen die unauslöschliche Verehrung
bestärkten, die ich seit der Studentenzeit für Ihre große Kunst in mir
bewahrte, das, verehrter Meister, Ihnen selber aussprechen zu dürfen, würde ich
als eine Gnade schätzen, die ich Ihnen nie vergessen könnte. Sollten Sie solche
Gunst gewähren wollen, dann | bringe ich Ihnen bei so freundlicher Gewährung
die uneingeschränkte Bewunderung eines ganzen Menschenalters entgegen.
Euer Hochwohlgeboren
ehrerbietigst ergebener
Frank Wedekind.