Sieben Fragen
An den Münchner ZensurbeiratDas vorliegende Schreiben ist direkt auf den maschinschriftlichen Brief [vgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911] mit den „Sieben Fragen“ [KSA 5/II, S. 426f.] geschrieben, den Wedekind entsprechend vervielfältigt an die genannten Mitglieder des Münchner Zensurbeirats geschickt hat und zugleich als offenen Brief abdrucken ließ – zuerst am 29.12.1911 (im Vorabendblatt vordatiert) in den „Münchner Neuen Nachrichten“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 608, 30.12.1911, Vorabendblatt, S. 3].
von
Frank Wedekind.
An jedes einzelne Mitglied des Münchner Zensurbeirates, an
die Herren:
Hofschauspieler Basil, Geheimer Hofrat Crusius, Medizinalrat Dr. Gruber,
Schulrat Dr. Kerschensteiner, Hofrat Professor Dr. Kräpelin, Professor Graf Du
Moulin-Eckart, Professor Dr. Muncker, Intendant Ritter von Possart,
Oberregisseur Savits, Professor N/St/adler, Professor Dr. Sulger-Gebing,
Professor Dr. Voll
beehre ich mich, öffentlich folgende Fragen zu richten:
1. Frage:
Kennen Sie meinen Einakter „Die Zensur“ und wissen Sie, was
ich darin über die Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Schauspiel gesagt
habe? Nein!
Was haben Sie über die Beziehungen zwischen
Sittlichkeit und Schauspiel geschrieben oder veröffentlicht, woraus ich meine
Ansichten über diesen Gegenstand korrigieren könnte? Gar nichts!
2. Frage:
Wie vereinbaren Sie es mit dem Charakter des anständigen
Menschen, einen Kollegen oder gar Konkurrenten eventuell zu schädigen durch ein
Gutachten, das niemals zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangt, das vor Ihrem
Kollegen oder Konkurrenten aufs strengsteErgänzung von fremder Hand (ebenso wie oben die Korrektur im Namen „Stadler“) im Originalbrief, auf den Ernst von Possart seine Antworten schrieb. geheim
gehalten | wird, gegen das sich zu verteidigen Ihr Kollege oder Konkurrent
nicht die allergeringste Möglichkeit hat? Meine abgegebenen
Ansichten kann der Betreffende lesen! Man wird sie ihm, wenn er es wünscht,
auch nicht vorenthalten.
3. Frage:
Billigen Sie das Inquisitionsprinzip, das von der Münchner
Polizeibehörde in Zensurangelegenheiten insofern Anwendung findet, als die
Beweise nicht von dem zu Beurteilenden, sondern vom Richter aufgesucht und
beschafft werden, als die Gründe, die die Entscheidung bestimmen, vor dem
Verurteilten aufs strengste verheimlicht werden, als dem Beurteilten jede
Möglichkeit, sich zu erklären oder zu verteidigen, benommen ist?
Der Beurtheilte darf sich ja Aufschluß von der Zensurbehörde
erbitten! Er wird ihm nicht vorenthalten werden.
4. Frage:
Welcher wesentliche Unterschied besteht zwischen dem
Geheimverfahren eines Inquisitionsgerichtes und demjenigen des Münchner
Zensurbeirates? Daß sich hier der Beurtheilte ja die Gründe
angeben lassen kann! Und Änderungsvorschläge ihm gemacht werden.
5. Frage:
Welche Gründe haben Sie dafür anzuführen, daß ich, Frank
Wedekind, dem Münchner Zensurbeirat nicht angehöre, sondern für diese
Institution nur als Begutachteter, nur als Be- und Verurteilter in Betracht
komme? Darüber müssen Sie den Herrn Polizeipräsidenten
fragen, nicht mich! Ich habe ja den Zensurbeirath nicht ausgewählt, sondern er.
6. Frage:
Da das Verhältnis vom Gutachter zum Begutachteten zwischen
Ihnen und mir kein gegenseitiges, sondern ein durchaus einseitiges ist, wollen
Sie mir die Frage verzeihen, durch welches besondere Verdienst Ihrerseits und
durch welches besondere Verschulden meinerseits Sie diese für mich sehr
nachteilige Einseitigkeit für begründet und ge|rechtfertigt halten?
Wenn ich Ihre Stücke lobe, sind Sie doch nicht „benachtheiligt“.
– Über meine etwaigen Bedenken für die
öffentliche Aufführung gewisser Scenen oder Situationen
hat die Polizeibehörde zu entscheiden, nicht ich!
7. Frage:
Da ich in Ihren persönlichen Mut keinen Zweifel setze, frage
ich Sie, ob Sie mir die Ehre erweisen wollen, mir gegenüber für die Urteile
einzutreten, die Sie zu Handen der Münchner Polizeibehörde über meine
Theaterstücke gefällt haben. Natürlich! Jeden
Augenblick!
Wenn ja, wie lauteten Ihre Urteile?
Können Sie zu jeder Zeit auf dem Bureau ja einsehen!
Diese sieben Fragen wurden durch die beschimpfende,
menschenunwürdige Behandlungsweise veranlaßt, die ich mir seit drei Jahren von
der Münchner Zensurbehörde bieten lassen muß und die sich nach der Aussage des
Münchner Polizeipräsidenten auf die Urteile gründet, die der Zensurbeirat über
meine literarischen Arbeiten gefällt hat.
Erst die „Urtheile“ von mir lesen, − resp. meine geäußerten Ansichten,
− dann richten!
Mit Hochachtung und Ergebenheit
Ernst v. Possart.
München
29/12.1911. |
Nachträglich möchte ich im Allgemeinen hier wiederholen, was
ich der hohen Polizeibehörde als meinen prinzipiellen Standpunkt kundgegeben
habe:
„Über den aesthetischen Werth eines Dramas ein Urtheil abzugeben, ist nicht die Aufgabe der
Polizeibehörde noch des Zensurbeirathes; der letztere soll nur
darüber befinden, ob in den zur Prüfung ihm zugesandten Stücken Scenen oder
Stellen enthalten sind, die bei öffentlicher Aufführung anstößig wirken
und das Schamgefühl des
Publikums verletzen
dürften; und ob und wie solche Scenen oder Stellen im Interesse einer
öffentlichen Aufführung zu mildern sind?
Nach dieser Auffassung habe ich meine Ansichten der
königlichen Polizeibehörde von Fall zu Fall kundgegeben.
Ergebenst
Possart.
[Kuvert:]
Herrn
Frank Wedekind.
Hochwohlgeboren,
Hier.
Prinzregenten Str. 50/3.
fr.