Solothurn 10. October 1890
Lieber Bebi!
Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 3.10.1890. erhielt ich erst hier in Solothurn. Ich
wartete bei ThomarWie Donald Wedekind in seinem letzten Brief mitteilte, war er nach einem Streit mit seiner Mutter und seinem Bruder Armin über den Schulbesuch in Solothurn zu seinem Freund, dem Zürcher Medizinstudenten Elias Tomarkin, nach Riesbach gefahren. in Zürich bis Montag Abendden 29.9.1890. An diesem Tag endeten die Sommerferien [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 5.8.1890]., immer in der Hoffnung auf
Nachrichten von dir. Als aber nichts kam, reiste ich hierher um mit dem
Rectorat die Sache zu besprechen. So trat ich zwei Tage späteram Mittwoch, den 1.10.1890. in das
Kantonsschulenkosthaus ein und lebe nun das ausgebildetste ConvictlebenInternatsleben.. Es
freut mich, auch diese Klippe wieder umschifft zu haben, nur ärgert es mich,
daß ich dir die Sache so furchtbar in die Ohren legte, da ich weiß, wie
unangenehm sie dir ist. Ich werde natürlich so lang hier bleiben, wie möglich,
suchen im Frühjahr die Fremdenmaturität zu machen; sollte das unmöglich sein,
so soll es mein Bestreben sein, sie in Solothurn zu absolviren. Immerhin möchte
ich dich innigst um ein’s
bitten. Das ist, wenn du nach Zürich kommst, dich mit Hami und Mama betreffs
meiner Vormundschaft vollkommen zu verständigen, da ich weiß, daß wenn du meine
Sachen führst | die ewigen Reibereien ein Ende nehmen werden an denen meine
Studien hier noch am ehestens scheitern können. Ich habe auch in diesem Sinn
heute an Hami geschriebenDas Schreiben Donald Wedekinds an Armin Wedekind ist nicht überliefert., mit dem es mir furchtbar unangenehm ist, zu verge/k/ehren,
eben seiner rohen Lebensart wegen. So bin ich überzeugt, daß wenn du meine
Vormundschaft, die ich dir ja im vorigen Briefe förmlich übergeben habe,
geltend machst, alles ohne viel Geräusch vor sich gehen wird. Also bitte, nimm
dich meiner Sache an und ich werde deinem MajoratÄltestenrecht; hier für Vormundschaft. gewiß Ehre machen, zumal wir
uns ja nun kennen, verstehen und ich meinesteils meine Stellung hier wieder
sehr befestigt habe, die allerdings Hami in den letzten Tagen durch einen
plumpen BriefArmin Wedekinds Brief an das Rektorat der Kantonsschule Solothurn ist nicht überliefert., worin er mich allem Anschein nach nicht im besten Brie
Lichte hat erscheinen lassen, fast wieder erschüttert hätte. Mi Da das
Essen hier sehr spärlich und primitiv zubereitet ist, (50 frs per Monat Kost &
Logis) so kann ich deine monatliche Pension von 10 Mk sehr, sehr gut brauchen, um einen fortwährenden
Hunger zu stillen und wäre dir sehr dankbar, wenn dieselbe für Monat | October
bald einträfe. Ich habe sehr viel an Selbstvertrauen gewonnen, seitdem ich
meine Reisen auf PapierDonald Wedekinds Reisebeschreibung „Eine Auswandererfahrt“ über seine Reise nach San Francisco im Jahr 1889, die in Fortsetzungen vom 4.2.1894 bis 4.3.1894 in der Beilage der „Züricher Post“ erschien. zu bringen angefangen habe, die einen guten Erfolge
versprechen. Mit Thomar und John Henry Mackay verlebte ich einige sehr
angenehme Tage, und letzterer, mit dem ich regelmäßig im Pfauen zum Mittagessen
zusammenkam, gewann immer mehr meine Zuneigung. Zwischen Thomar und mir haben
wir das Verhältniß des Onkel zum Neffen begründet, unter welcher Form wir auch
correspondiren. Für seinen Romander Fragment gebliebene Roman „Der rote Heinrich“; der erste Teil erschien unter dem Pseudonym Ernst Thoma mit dem Titel „Eine Lebensgeschichte“ Ende 1897 im Verlag von Karl Henckell in Zürich mit einem Umfang von 379 Seiten [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 64, Nr. 297, 22.12.1897, S. 9611]. Das Buch war unter diesem Titel erst kurz zuvor angekündigt worden [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 64, Nr. 276, 27.11.1897, S. 8894], in Ankündigungen in anderen Publikationen des Verlags firmierte es auch unter dem Titel „Morgengluten“. Franz Blei, der den Namen des Verfassers nicht nannte, erinnerte sich an „einen, der [...] ein ewiger Student war und unter seinem Bett ein dickes Bündel vollgeschriebener Seiten verbarg, einen Roman ‚Der rote Heinrich‘.“ [Franz Blei: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930, S. 196] Karl Henckell beschrieb Elias Tomarkin rückblickend als „Königsberger stud. med.“, der „auf der heimlichen Traumeswiese am Zürichberg lustwandelte und an seiner üppig phantasiereichen ‚Lebensgeschichte‘, dem ‚Roten Heinrich‘, seinem ewigen Schmerzenskinde, herumsinnierte und skizzierte, sofern er nicht als klug vermittelnder Weltversöhnungsagent irgendeinen kleinen Stimmungskrach zwischen gemeinsamen Freunden mit väterlicher Überredung würdig auszugleichen suchte.“ [Henckell 1923, S. 272] In den Romantext sind Elias Tomarkins „politische Anliegen eingeflochten: der Sieg der Sozialisten, die Emanzipation der Frauen und der Kampf gegen den Antisemitismus.“ [Rogger/Herren 2012, S. 194; ebd. das Faksimile des Titelblatts] glaubt er 800 Mk zu bekommen. Also verzeihe die große Störung, die
mein Brief vielleicht in deiner regelmäßigkeit Schreibversehen, statt: Regelmäßigkeit.der Lebensweise verursacht hat,
grüße mir alle meine Bekannten und sei selbst innigst gegrüßt von deinem treuen
Bruder
Donald
Ein Brief wird mich immer sehr freuen. Vielleicht
kannst du mir auch ein paar Nummern der „Münchener Kunst“die von Frank Wedekinds Bekannten Julius Schaumberger herausgegebene illustrierte Wochenschrift „Münchner Kunst“ (erschienen 1889 bis 1891), in der er demnächst Gedichte veröffentlichte [vgl. KSA 1/II, S. 1891f.; 1963f.], worüber Donald Wedekind informiert gewesen sein dürfte. zusenden.
Grüße namentlich Herrn PohlAnton Pohl, Kunstmaler in München (Theresienstraße 65, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch für München 1890, Teil I, S. 264] war Student an der Münchner Kunstakademie [https://matrikel.adbk.de/matrikel/mb_1884-1920/jahr_1887/matrikel-00392]. Wedekind listete ihn im Tagebuch unter seinen Bekannten auf („Pohl Maler“) und datierte die Bekanntschaft auf das Jahr 1890 [vgl. Tb, S. 53 und S. 115]. Donald Wedekind hatte den aktuellen Freundeskreis Frank Wedekinds, der aus zahlreichen Malern bestand, während seines Aufenthalts in München im Spätsommer 1890 kennengelernt. und MelchersHeinrich Melchers (Louisenstraße 40a, 2. Stock) [vgl. Tb, S. 51], Bekannter Frank Wedekinds aus Amerika: „Heinrich Melchers lerne ich eines Abends im Kletzengarten kennen. […] Er kommt mit einem andern jungen Amerikaner.“ [Tb, S. 47] In der Namensliste am Ende des Tagebuchs heißt: „Heinrich Melchers aus Saginav U.S. Polytechniker, Großneffe des Cardinal Melchers in Rom.“ [Tb, S. 55] Dort findet sich auch der Entwurf oder die Abschrift eines Briefes von Marie Kling an Heinrich Melchers..
Adresse: Studentenpensionat
Solothurn