Schloss
Lenzburg 31 JanZu dem Brief notierte Frank im Tagebuch: „Ich bleibe liegen bis mir meine Wirthin gegen zwölf die Monatsrechnung bringt, die ich nicht bezahlen kann nebst einem Brief von Donald. Donald hat vergeblich beim Gymnasium in Zürich anzukommen versucht, worauf man dahin übereingekommen sei, er solle die Fremdenmaturität machen. Am anderen Morgen widerrufe Mama telegraphisch ihre Einwilligung, kommt dann um zwölf persönlich und stellt ihm die Alternative, Buchdrucker zu werden oder ans Gymnasium in Aarau zurückzukehren. Mit freundlicher Miene praktiziert sie ihm seine Uhr weg und nimmt ihn mit nach Lenzburg zurück von wo er mir am nämlichen Abend schreibt, ich möge ihm Geld schicken daß er hierher kommen könne.“ [Tb, 1.2.1890]
Lieber
Bebi!
Soeben
bin ich in Begleitschaft von Mamma hier obenauf Schloss Lenzburg. angekommen, ohne etwas in Zürich
ausgerichtetDonald Wedekind besaß nach den abgebrochenen Schulbesuchen in Aarau (1887) und Burgdorf (1889) und nach seiner Rückkehr aus Amerika keinen Schulabschluss, so dass sich seine Mutter, um eine Fortsetzung seines Schulbesuchs bemühte. zu haben. Dienstagden 28.1.1890. war der Rector der Kantonsschuledie 1833 gegründete Kantonsschule Zürich (Rämistrasse 21) [vgl. Adressbuch für Zürich 1890, Teil I. S. 171] beherbergte ein Gymnasium und eine Industrieschule und befand sich am unteren Teil des Zürichbergs. nicht zu
sprechen. Mittwochden 29.1.1890. morgen kam Mamma mit dem 10 Uhr Zug auf dem Bahnhof in
Zürich an, wo ich sie abholte. Nachdem ich vielleicht eine halbe Stunde mit ihr
spaziren gegangen war, wanderte ich zum Gymnasium hinauf. Rector WirzDer Altphilologe Dr. Hans Wirz (Plattenstraße 26, Fluntern) [vgl. Adressbuch für Zürich 1890, Teil III, S. 25] war von 1883 bis 1899 Rektor der Kantonsschule Zürich.
behauptete, er nähme nie Schüler inmitten des Quartals auf, noch sei es für
mich möglich im Frühjahr aufgenommen zu werden, wenn | ich nicht ganz auf der
Höhe der Klasse sei, ferner sei ja in solchen Fällen die FremdenmaturitätZulassungsprüfung an der Universität Zürich für Nichtschweizer und Schweizer ohne schweizerische Matura. [„]viel
angenehmer.“
Ich
stattete diesen Bericht um zwei Uhr bei HamiDonald Wedekinds Bruder Armin wohnte im Zürcher Vorort Riesbach (Seefeldstraße 81) [vgl. Adressbuch für Zürich 1890, Teil I, S. 356], wo er eine Arztpraxis hatte. in Beisein von Mamma und Emma ab,
worauf beschlossen wurde, daß ich mich in bi in der Zeit von
jetzt zum Frühjahr solle vorbereiten, entweder um die Fremdenmaturität zu machen, oder das Aufnahmeexamen in
die 4.te Klasse der Kantonsschule. Nachher kam noch die alte Frau FreyArmin Wedekinds Schwiegermutter Elise Frey. und muß
sich jedenfalls bei Hami über mich aufgehalten haben, denn heute machte er mir
heftige Vorwürfe. Die ganze Bande LeemanEmilie Leemann (geb. Kammerer) in Riesbach (Feldeggstraße 52) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1890, Teil I, S. 199], Witwe von Gustav Leemann, war eine Cousine der Mutter Emilie Wedekind (geb. Kammerer) und wohnte in unmittelbarer Nähe von Armin Wedekind. Sie hatte drei Töchter: Elisabeth, Emilie und Helene [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 146, 254]. und ich rannten mit Mamma | auf den Bahnhof, wo ich mich
unglücklicherweise in einen Streit mit Mamma einließ, der damit endete, daß sie
mir schnell adieu sagte. Heute morgen, nachdem ich von Prof. BlümnerHugo Blümner, Professor für Archäologe und Altphilologie an der Universität Zürich, wohnte im Zürcher Vorort Hottingen (Klosbach 65) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1890, Teil I, S. 43]. Er war im Wintersemester 1889/90 Rektor der Universität Zürich [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 70, Nr. 17, 17.1.1890, S. (4)]., bei dem
ich mich der nach der Fremdenmaturität erkundigt hatte, zu Hami
zurückkam, erfuhr ich, daß Mamma telegraphirtDas Telegramm von Emilie Wedekind an Armin Wedekind vom 31.1.1890 ist nicht überliefert. hatte, ich solle doch keine
Wohnung mieten, sie komme um 12 Uhr. Frau Leemann hatte indessen Hami den
Vorgang erzählt und letzterer empfieng mich mit einer Moralpredigt, die ich
geduldig anhörte. Als Mama endlich kam, sagte sie kurzweg, sie habe jetzt nur
zwei Wege für mich, entweder ich wür|de Buchdrucker oder sie gäbe kein Geld
mehr her. Als ich sagte, Buchdrucker wolle ich nicht werden, rief sie mir zu,
dann hätten wir nichts mehr miteinader zu tuhnSchreibversehen, statt: miteinander zu thun.. Ich war schon im Begriff mich
zu empfelenSchreibversehen, statt: empfehlen., als sie mit der falschesten Miene der Welt auf mich zukommt und
mir meine Uhr aus der
Tasche reißt und sie mit triumphirender Bewegung Hami übergiebt, der als
Schutztruppe hinter ihm/r/ stand. Ich Mich entsetzte dieses
abgemachte, falsche Benehmen der beiden derart, daß ich ohne ein Wort zu sagen,
das Zimmer verließ. Bei der ganzen Scene war Frau LehmannSchreibversehen, statt: Leemann. natürlich auch
gegenwärtig. Ich spazirte eine | Zeit lang dem QuaiArmin Wedekinds Wohnung in der Seefeldstraße 81 lag nur 350 Meter entfernt vom Ufer des Zürichsees. entlang und gieng dann
wieder hinauf und sagte Mamma das, was ich ihr schon lang zu sagen gewillt war,
daß ich gern bereit sei, an einem andern Gymnasium das Examen zu machen, hieß
es, dazu sei weder Zeit noch Geld, entweder ich müßte mich für Aarau
entschließenDonald Wedekind hatte 1888 die Kantonsschule Aarau nach der 1. Klasse verlassen. und dann jeden Tag heimkommen, oder Buchdrucker werden, vor
welchen beiden Sachen ich einen solchen Ekel habe, daß ich gar nicht daran
denken mochte. Um aber der Sache ein Ende zu machen, sagte ich für ArauSchreibversehen, statt: Aarau. zu und
fuhr um 7 mit Mama heim, ohne 1 Franken in der Tasche. Mama und | Hami scheinen
die strengsten Maßregeln bei allfälliger WiedersetzungSchreibversehen, statt: Widersetzung. in And/w/endung
bringen zu wollen. Da ich mich aber eher meiner lieben Mutter unter der
Zimmertühre am StrickAnspielung auf einen Selbstmord durch Erhängen. verreckeSchreibversehen; der Satzanfang erfordert ein anderes Prädikat, etwa: opfere., als daß mich Polizei anrührt, so werden
jedenfalls die nächsten Tage laut werden. Daß die ganze Sache Complottgeheime Absprache, Verschwörung. ist,
geht schon daraus hervor, daß sie erst jetzt, da du fort bist, so mit aller
Macht gegen mich losziehn. Hami will mich nicht in Zürich, und Mamma will mich
zu Hause, obschon sie weiß, daß ich nicht mit ihr auskomme.
Ich
bitte dich nun inständigst, an Mamma zu | schreibenvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 1.2.1890. und ihr zu sagen, solche
wiedrigeSchreibversehen, statt: widrige., knechtische Rohheiten sein zu lassen und mich nicht so fürchterlich
zu tyrannisiren. Ich bin bereit, auf irgend ein Gymnasium zu gehen, nur nicht
nach Aarau und nicht dahin, wo ich zwei Jahre nachzuholen habe. Das beste wäre,
du würdest mir Geld senden, daß ich zu dir kommen könnte, aber jedenfalls so,
daß das wi/m/ir nicht vornweg genommen werden kann. Also in Banknoten oder
mit der besonde und poste restantefrz.) postlagernd.. Schreibe mir jedenfalls sofortvgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 1.2.1890. Zu dem nicht überlieferten Schreiben notierte Frank Wedekind: „Ich schreibe ihm sowohl wie Mama, ich werde ihn auf meine Kosten die Fremdenmaturität absolviren lassen und erwärme mich noch bis Nachts zwölf Uhr an meiner Großmuth ohne etwas zu arbeiten.“ [Tb, 1.2.1890] was
du tuhn willst und kannst, denn viel Geduld wird weder Hami noch Mamma haben
und dann | hieß es für mich einfach, aus der Welt, denn noch einmal solch eine hündisches Befragen/handl/ung wie heute
könnte ich nicht ertragen. Also, bitte, tuh etwas, du bist gerade so gut mein
VormundBis zu Donald Wedekinds Volljährigkeit am 4.11.1891 bzw. der Benennung eines Vormunds entschieden die erwachsenen Geschwister über seinen Zugriff auf das väterliche Erbe. wie die andern und hast auch ein Wort dazu zu sagen. Oh, es ist
fürchterlich.
Wenn
ich je in die freien
Jahre komme, werde ich mit Schauder an diesen Tag zurückdenken, und wenn ich
vorher abfahre, werde ich mit Fluchen zur Hölle fahren. Also bitte sofort.
Dein
treuer Bruder
Donald.
Schicke
den Brief ja so, daß ich ihn aus erster Hand erhalte