Sehr verehrter Herr Kraus!
Empfangen Sie meinen herzlichen DankWedekind bedankte sich für die Gedenkrede „Nestroy und die Nachwelt“, die Karl Kraus „am 2.5.1912 im Rahmen einer vom Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien veranstalteten Nestroy-Feier gehalten“ [Nottscheid 2008, S. 213] hatte und in der „Fackel“ veröffentlichte [vgl. Karl Kraus: Nestroy und die Nachwelt. Zum 50. Todestage. In: Die Fackel, Jg. 14, Nr. 349/350, 13.5.1912, S. 1-23], aber zugleich auch als „broschierten Sonderdruck“ [Nottscheid 2008, S. 214], den er Wedekind am 7. oder 8.6.1913 (siehe unten) in Wien überreicht haben dürfte. für „Nestroy und die
Nachwelt“, das ich am Tag der letzten Vorstellungam 12.6.1913, an dem Wedekind die letzte Vorstellung seines „Franziska“-Gastspiels am Deutschen Volkstheater in Wien (6. bis 12.6.1913) vermerkte: „3. Vorstellung Franziska.“ [Tb] Er notierte dann am 13.6.1913 seine Reise zurück nach München, wo er abends eintraf: „Abfahrt von Wien. Abendessen zu Haus.“ [Tb] morgens im Bett mit größtem
Genuß verschlang. Abgesehen von dem höchst ehrenvollen PlatzEine Passage in „Nestroy und die Nachwelt“ (siehe oben) ist Wedekind gewidmet, in der es heißt: „In Nestroy ist so viel Literatur, daß sich das Theater sträubt, und er muß für den Schauspieler einspringen. Er kann es, denn es ist geschriebene Schauspielkunst. In dieser Stellvertretung für den Schauspieler, in dieser Verkörperung dessen, was sich den eigentlichen Ansprüchen des Theaters leicht entzieht, lebt ihm heute eine Verwandschaft, die schon in den geistigen Umrissen der Persönlichkeit hin und wieder erkennbar wird: Frank Wedekind. Auch hier ist ein Überproduktives, das dem organischen Mangel der Figur durch die Identität nachhilft und zwischen Bekenntnis und Glaubhaftigkeit persönlich vermittelt. Der Schauspieler hat eine Rolle für einen Dichter geschrieben, die der Dichter einem Schauspieler nicht anvertrauen würde. In Wedekind stellt sich [...] ein Monologist vor uns, dem gleichfalls eine scheinbare Herkömmlichkeit und Beiläufigkeit der szenischen Form genügt, um das wahrhaft Neue und Wesentliche an ihr vorbeizusprechen und vorbeizusingen. [...] die Analogie im Tonfall witzig eingestellter Erkenntnisse [...]. Der Tonfall ist jene Äußerlichkeit, auf die es dem Gedanken hauptsächlich ankommt, und es muß irgendwo einen gemeinsamen Standpunkt der Weltbetrachtung geben, wenn Sätze gesprochen werden, die Nestroy so gut gesprochen haben konnte wie Wedekind.“ [Die Fackel, Jg. 14, Nr. 349/350, 13.5.1912, S. 8f.] den Sie mir in der
Abhandlung | anweisen, finde ich die Schrift prachtvoll, voll von Gedanken, die
ebenso schön sind wie der von dem bis zur Schönheit veränderlichen GesichtIn „Nestroy und die Nachwelt“ (siehe oben) heißt es: „Bei Nestroy [...] lassen sich in jeder Posse Stellen nachweisen, wo die rein dichterische Führung des Gedankens durch den dicksten Stoff, wo mehr als der Geist: die Vergeistigung sichtbar wird. Es ist der Vorzug, den vor der Schönheit jenes Gesicht hat, das veränderlich ist bis zur Schönheit. [...] die Lyrik [...] ist nie polemisch, immer schöpferisch [...]. Wie ist sie die wahre Symbolik, die aus den Zeichen einer gefundenen Häßlichkeit auf eine verlorene Schönheit schließt und kleine Sinnbilder für den Begriff der Welt setzt!“ [Die Fackel, Jg. 14, Nr. 349/350, 13.5.1912, S. 10f.]. Von
Herzen beglückwünsche ich Sie zu diesem Werk. Sie kämpfen für den Geist, der
Ernst und Komik von mit gleicher Meisterschaft
beherrscht, den Geist in dem „Faust“ und „Kabale und Liebe“ sich decken und der in unserer schulmeisterlich |
pedantischen engherzigen Zeit der tiefsten Verachtung preisgegeben ist.
Leider ergab es sich, daß wir nach der letzten Vorstellung
sofort abreisen mußten, sonst wäre ich sicher noch zu Ihrer TafelrundeKarl Kraus dürfte Wedekind eingeladen haben, den Abend des 12.6.1913 nach der letzten „Franziska“-Vorstellung (siehe oben) mit ihm im Bekanntenkreis zu verbringen.
gekommen. Für die liebenswürdige GastlichkeitKarl Kraus war mit Wedekind während dessen Aufenthalt in Wien vom 4. bis 13.6.1913 Wedekinds Tagebuch zufolge an zwei Tagen zusammen, am 7.6.1913 („Fahrt mit Kraus per Auto auf den Kobenzl“) und am 8.61913 mit Franz Werfel, Walter Hasenclever und Adolf Loos („Café Imperial Kraus Werfel Hasenklever Loos e.ct.“). mit der Sie mich empfingen sage
ich Ihnen herzlichsten Dank
Mit schönsten Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
[Kuvert:]
Herrn
Karl Kraus
Wien
Lothringerstrasse 7irrtümliche Hausnummer. Karl Kraus, Schriftsteller und Herausgeber der „Fackel“, wohnte seit 1912 im I. Bezirk Wiens in der Lothringerstraße 6 [vgl. Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Wien 1913, Teil VII, S. 680]. Den Postzustellvermerken auf dem Kuvert zufolge konnte der Brief in Wien nicht zugestellt werden und wurde nach München zurückgeschickt..