Sehr verehrter Herr
Sternheim!
Nach Ihrer schönen VorlesungCarl Sternheim hatte am 6.2.1914 in der Galerie Caspari in München (Eichthal-Palais, Brienner Straße 52, gegenüber dem Café Luitpold) einen Vortrag gehalten, bei dem er einleitend drei Gedichte von Ernst Stadler und anschließend aus seinem Drama „Der Snob“ (1914) vorgelesen hatte. Der Vortrag fand im Rahmen der sogenannten Forum-Abende statt, die Wilhelm Herzog zur Popularisierung der von ihm gegründeten literarisch-politischen Zeitschrift „Das Forum“ veranstaltete [vgl. Müller-Stratmann 1994, S. 54]. Wedekind hatte Sternheim bereits vor dem Vortrag in der nahe gelegenen Buchhandlung Heinrich Jaffe (Brienner Straße 54) getroffen und kam anschließend erneut in größerer Runde mit ihm zusammen: „Treffe Sternheim bei Jaffé Sternheimvortrag bei Kaspari | Restaurant Schleich Sternheim die Damen [Emmy] de Vargas [Eveline] Landing und [Joachim] Friedenthal Marion [?] [Wilhelm] Herzog.“ [Tb, 6.2.1914] Über den Vortrag und das anschließende Treffen notierte Sternheims Frau Thea in ihrem Tagebuch unter dem 8.2.1914: „Nachmittags kommt Karl von München. Der Snob habe im gestrigen Vortrag grossen Erfolg gehabt. Die Stadlerschen Gedichte weniger. Hinterher sei er mit Wedekind, der sein Stück begeistert gelobt, zusammengewesen.“ [Tb Sternheim/CD]
in München versuchte ich Sie noch einmal im Hotel zu treffen, leider
vergeblich. Der spezielle Anlaß meines Besuches war der, daß ich es bei der
kurzen Dauer unseres Daseins es als eine Lücke empfinde, daß Sie
und Maximilian | Harden sich nicht kennenDer Anregung Wedekinds, sich mit dem einflussreichen Berliner Publizisten Maximilian Harden bekannt zu machen, der seit Ende 1904 zu Wedekinds engerem Bekanntenkreis zählte, ist Sternheim offenbar bald nachgekommen: Aus Berlin, wo er sich mit Unterbrechungen seit etwa Mitte Januar 1914 aufhielt, um den Proben bzw. Aufführungen seines Stückes „Der Snob“ am Deutschen Theater beizuwohnen, ließ er Thea Sternheim in einem Brief vom 3.4.1914 wissen: „Ich habe 48 prachtvolle Stunden hinter mir. Ich war mit [Max] Reinhardt, Harden und [Walther] Rathenau (mit jedem einzeln) zusammen und wie es das Schicksal will, alle waren auf der Höhe ihrer Menschlichkeit.“ [Sternheim-Br. 2, Nr. 644, S. 144] Wohl in Erinnerung an ihr erstes Zusammensein widmete Sternheim Harden wenige später Tage ein Exemplar seiner Novelle „Busekow“ (1914) [Zentral- und Landesbibliothek, Signatur Cm 6858 http://lootedculturalassets.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/1461; Widmung: „Maximilian Harden mit freundlichen Grüßen | Carl Sternheim | La Hulpe | Belgien | 6/4 1914.“]. In den kommenden Monaten intensivierte sich Sternheims Beziehung zu Harden, der ihm wiederholt bei öffentlichen Angriffen gegen sein Werk beistand [vgl. Martin 1996, S. 32f.].. Harden interessiert sich für Ihre
Kunst und ich habe ihm viel von Ihnen erzählt. Ich betreibe dies
Kupplergeschäft ohne irgend wie beauftragt zu sein./,/ nur im
Interesse daran, daß heute geschieht was morgen oder später doch geschehen
würde und meinem Empfinden | noch schöne Früchte tragen müßte. Vielleicht
nehmen Sie also, die Gelegenheit wahr, Harden anzurufen und zu besuchen. Zu dem
großen dauernden Erfolg Ihres „Snob“Sternheims Komödie „Der Snob“ (1914) wurde seit dem 2.2.1914 mit großem Erfolg am Deutschen Theater in Berlin gespielt [vgl. Wedekinds Telegramme an Sternheim vom 2.2.1914 und 4.2.1914]. aufrichtige Glückwünsche. Ich freue mich
ungeheuer über die Erfrischung, die Ihre Kunst in die Schlafmützenhaftigkeit
unserer LiteraturIn Wedekinds wiederholter Verwendung des Begriffs ‚Schlafmützenhaftigkeit‘ als Symbol für das ‚verschlafene‘ geistige und politische Leben seiner Zeit und ihrer Akteure ist die lange Tradition mitzudenken, welche die ‚Schlafmütze‘ in der politischen Ikonographie einnimmt, vor allem als Attribut zur Figur des ‚deutschen Michel‘ in der Karikatur des 19. und 20. Jahrhunderts.Wedekind dürfte bei dieser Wendung auch an sein Gedicht „In unserer Zeit […]“ gedacht haben, das 1912 im „Berliner Lokalanzeiger“ erschienen war: „In unserer Zeit, in der Schlafmützen | Weit fester auf dem Kopf als Kronen sitzen, | In unsrer satten, matten, dumpfen Zeit | Bin ich aufs tiefste von dem Wunsch beseelt, | Es möge uns, die geistige Not zu enden, | Ein gnädiger Himmel Männer senden, | Denen vor Größe, vor Erhabenheit | Es weder an Verstand noch Tatkraft fehlt.“ [KSA 1/I, S. 594] Im vorliegenden Zusammenhang ist wichtig, dass Wedekind eine spätere Fassung der Verse in den Gedichtentwurf „HARDEN“ [KSA 1/I, S. 761f.] integrierte, der vermutlich im Februar/März 1914 entstand und in welchem der von Wedekind bewunderte Maximilian Harden deutlich als Antipode der ‚Schlafmützen‘ in Politik und Dichtung herausgestellt wird. Der Entwurf gehört in den Kontext einer Reihe von Plänen zur öffentlichen Würdigung Hardens, die Wedekind in den Jahren 1913/14 verfolgte [vgl. auch die Kommentare zu dem Entwurf bzw. Gedicht in KSA 1/I, S. 1638f. und 1728f. sowie zum Kontext Martin 1996, S. 30–32]. bringt.
Mit herzlichen Empfehlungen |
an Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin von meiner Frau und mir
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 11.III.14.