[1. Abgesandter Brief:]
HOTEL TEGETTHOFF, I.
JOHANNESGASSE 23, WIEN
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An die Wiener KritikAdressaten des offenen Briefes waren Theaterkritiker Wiener Zeitungen, die die Premiere von Wedekinds „Franziska“ am 6.6.1913 im Rahmen des Gastspiels der Münchener Kammerspiele am Deutschen Volkstheater in Wien wohlwollend besprochen haben (siehe unten). Wedekind notierte am 7.6.1913: „Lese zu meiner Überraschung gute Kritiken. Schreibe Dank an Kritik“ [Tb]. Adressat dürfte in jedem Fall Robert Hirschfeld gewesen sein (seine Kritik war mit dem Verfasserkürzel „Rob. H.“ gezeichnet), der Theaterreferent des „Neuen Wiener Tagblatt“, das Wedekinds offenen Brief druckte, außerdem wohl Leo Feld (er schrieb die Rezension in der Wiener Tageszeitung „Die Zeit“), Leopold Jacobson (Chefredakteur des „Neuen Wiener Journal“, dessen Besprechung mit dem Kürzel „‒bs‒“ gezeichnet ist) und David Josef Bach (Redakteur der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“, er schrieb unter der Verfassersigle „D.B.“). Eine Reihe von Rezensionen der Wiener „Franziska“-Premiere sind allerdings unsigniert oder die Verfasserkürzel nicht aufzulösen..
Meine hochverehrten Herren!
Als sich nach dem Schlußbild von „Franziska“ der
Vorhang schloß, hatte ich den Eindruck eines verfehlten Spieles, einer
verstimmten Zuhörerschaft, die übermüdet die Ausgänge suchte. Erst am Abend zu
vorherdas wäre der 5.6.1913 gewesen, an dem „Das Mahl der Spötter“ allerdings nicht auf dem Spielplan stand (siehe unten). hatte in den gleichen Räumen der ausgezeichnete Gianetto der Frau
RolandIda Roland, Schauspielerin im Ensemble der Münchner Kammerspiele (Direktion: Eugen Robert) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1913, S. 554], seinerzeit in 3. Ehe verheiratet mit Eugen Robert, spielte im Rahmen des Wiener Gastspiels in „Das Mahl der Spötter“ (siehe unten) die in vielen Verkleidungs- und Maskenszenen agierende männliche Hauptfigur Gianetto Malespini (in Paris war die Rolle bereits von Sarah Bernhardt gespielt worden). Wedekind war spätestens seit 1911 näher mit ihr bekannt., zum vierten Mal wiederholtPremiere, zugleich die deutsche Uraufführung, hatte „Das Mahl der Spötter. Dramatisches Gedicht in vier Akten von Sem Benelli. Deutsch von Hans Barth“ [Neues Wiener Tagblatt, Jg. 47, Nr. 148, 1.6.1913, S. 63] im Rahmen des Gastspiels der Münchner Kammerspiele am Deutschen Volkstheater in Wien am 1.6.1913. Die nächsten Vorstellungen fanden statt am 3.6.1913 und 4.6.1913 – das war die dritte Vorstellung vor der Premiere von „Franziska“ (6.6.1913); die vierte Vorstellung war erst am 7.6.1913 zu sehen (die fünfte und letzte dann am 8.6.1913)., einen unvergleichlich wärmeren Widerhall
gefunden. Um so größer war meine die
Überraschung, die mir heute früh die Berichte der Wiener ZeitungenIn Rezensionen der Wiener Premiere von „Franziska“ (siehe oben), die am 7.6.1913 in Wiener Zeitungen erschienen sind, heißt es, man sei „nicht allein dem Dichter Wedekind, sondern auch dem Darsteller Wedekind, dessen Technik in Wahrheit und voller Menschlichkeit aufgeht, liebreich entgegengekommen. Man folgte dem Künstler, welcher der beste Führer durch die eigenen labyrinthischen Seelengänge ist, und seiner Gattin, die sich als Franziska in allen Phasen des faustischen Frauendaseins durch schöne Haltung und sinnige Behandlung des Wortes auszeichnet, mit reger Teilnahme.“ [Rob. H.: Deutsches Volkstheater. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 47, Nr. 154, 7.6.1913, S. 16] „Man blickt in ein sinnreiches, phantasievolles Spiel, manchmal ergriffen, oft fasziniert, immer geistig sehr beschäftigt.“ [Leo Feld: „Franziska.“ In: Die Zeit, Jg. 12, Nr. 3842, 7.6.1913, Morgenblatt, S. 1; vgl. KSA 7/II, S. 1218] „Unter den Novitäten, die das Münchener Ensemble des experimentierlustigen Direktors Eugen Robert nach Wien bringt, steht Wedekinds ‚Franziska‘ entschieden obenan. [...] Wedekind spielte selbst den Veit Kunz und [...] wirkte mit stärkerer Eindringlichkeit als je.“ [‒bs‒: Deutsches Volkstheater. In: Neues Wiener Journal, Jg. 21, Nr. 7047, 7.6.1913, S. 9] „Dieses genial ungeheuerliche Werk, das in der Banalität Tiefsinn, im Wahnsinn Weisheit zu offenbaren vermag, das dilettantisch scheint, wo es in Wahrheit künstlerische Vollendung zeigt [...]. Den Veit Kunz spielte der Dichter selbst. Wahrscheinlich gibt es viele Schauspieler, die dieses oder jenes weit besser machen würden ‒ aber keinen, der im achten Bilde so ans Herz griffe. Hier schrie der Dichter aus dem Darsteller, und alles schwieg erschüttert.“ [D.B.: Deutsches Volkstheater. In: Arbeiter-Zeitung, Jg. 25, Nr. 154, 7.6.1913, Morgenblatt, S. 9] In weiteren wohlwollenden Besprechungen heißt es: „Was Wedekind hier geschrieben hat, ist eine Kette genialischer Visionen.“ [v.: „Franziska“ von Wedekind. In: Illustrirtes Wiener Extrablatt, Jg. 42, Nr. 154, 7.6.1913, S.10; vgl. KSA 7/II, S. 1219] „Er setzt das Pathos […] völlig in Energie um, […] seine Darstellung bedeutet […] einen Gipfel intellektueller Theaterspielerei. Da kommt alles mit fabelhafter Eindringlichkeit, mir einer Ausdrucksintensität, die dem Zuhörer die Worte des Dichters förmlich mit glühendem Stempel ins Fleisch preßt.“ [g.: Deutsches Volkstheater. In: Fremden-Blatt, Jg. 67, Nr. 154, 7.6.1913, Morgen-Blatt, S. 15] bereiteten.
Mir schien | eine Verabredung getroffen, eine Parole vereinbart, darauf
gerichtet, eine schriftstellerische Arbeit gegen eine allenfalls zu
gewärtigende Unterschätzung von seiten der Zuhörer in Schutz zu nehmen.
Selbstverständlich ein Trugbild, aber kein leeres. Sollte mich je wieder
einmal ein anderes Trugbild belästigen und verärgern, das bekannte lügnerische
Schreckbildgespenst einer nicht zum Nutzen Schutze sondern zum Nachtheil
irgend eines Werkes stillschweigend getroffenen Verabredung der Kritik, dann
werde ich mich, mögen Tage, mögen Jahre dazwischen liegen, mit Freude der
Überraschung des heutigen Morgensam 7.6.1913. erinnern und glaube sicher zu sein, daß die
Gefühle der Ehrerbietung und des Dankes jenes lächerliche
Schreckgespenst rasch und auf Nimmerwiedersehen ins Nith Nichts
verscheuchen werden.
Frank Wedekind.
[2. Druck im „Neuen Wiener Tagblatt“:]
An die Wiener Kritik.
Meine hochverehrten Herren!
Als sich nach dem
Schlußbild von „Franziska“ der Vorhang schloß, hatte ich den Eindruck eines
verfehlten Spiels, einer verstimmten Zuhörerschaft, die übermüdet die Ausgänge
suchte. Erst am Abend vorher hatte in den gleichen Räumen der ausgezeichnete
Gianetto der Frau Roland, zum viertenmal wiederholt, einen unvergleichlich,
wärmeren Widerhall gefunden. Um so größer war die Ueberraschung, die mir heute
früh die Berichte der Wiener Zeitungen bereiteten. Mir schien eine Verabredung
getroffen, eine Parole vereinbart, darauf gerichtet, eine schriftstellerische
Arbeit gegen eine allenfalls zu gewärtigende Unterschätzung von seiten der
Zuhörer in Schutz zu nehmen. Selbstverständlich ein Trugbild, aber kein leeres. Sollte mich je wieder einmal ein andres Trugbild belästigen und
verärgern, das bekannte lügnerische Schreckgespenst einer nicht zum Schutz,
sondern zum Nachteil irgendeines Werkes stillschweigend getroffenen Verabredung
der Kritik, dann werde ich mich, mögen Tage, mögen Jahre dazwischen liegen, mit
Freude der Ueberraschung des heutigen Morgens erinnern, und glaube sicher zu
sein, daß die Gefühle der Ehrerbietung und des Dankes jenes lächerliche Schreckgespenst rasch und auf Nimmerwiedersehen
ins nichts verscheuchen werden.
Wien,
7. Juni.
Frank Wedekind.