Ischl, 26. Sept.
Lieber Herr Wedekind,
für Ihr Schreibenvgl. Wedekind an Karl Kraus, 25.9.1907. danke ich Ihnen bestens. Ich möchte Ihnen aber, ehe ich nach Hamburg
Antwort schicke, doch eines zu bedenken geben. Es scheint mir kaum möglich, daß
das ThaliatheaterWedekind hatte von einer möglichen Inszenierung der „Büchse der Pandora“ am Hamburger Thalia-Theater berichtet [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 25.9.1907], als Karl Kraus ihm das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg für eine solche Inszenierung nahelegte [vgl. Karl Kraus an Wedekind, 22.9.1907]. die Büchse der Pandora freibekommt. Dies eine Moment schon müßte
Ihnen über alle Bedenken helfen. Nun aber der Regie-PunktWedekind hatte Vorbehalte gegen die Regieleistungen von Alfred von Berger, Direktor des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, geäußert [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 25.9.1907].. Ich glaube mich zu
erinnern, daß Sie mir in Wien gesagt haben, Sie hätten selbst noch keine Vorstellung am Deutschen Schauspielhaus gesehen.
Ich habe deren viele gesehen. Und in der Fackel die Ansicht
ausgesprochen, daß Baron Berger ein Regisseur allerersten Ranges ist. Dies
schrieb ich in einem Artikel über „Salome“Karl Kraus hatte die erste öffentliche Inszenierung von Oscar Wildes „Salome“ (1893) am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg unter der Regie von Alfred von Berger (Premiere: 10.2.1903) gelobt und gegen die von der Zensur freigegebene Inszenierung von Max Reinhardt am Neuen Theater in Berlin (Premiere: 29.9.1903) hervorgehoben: Alfred von Berger sei „ein Regisseur [...], dessen befeuernder Theaterblick eine Gesamtheit von Künstlern, von denen die meisten einem Burgtheatervergleich gewiß nicht Stand halten könnten, zu unvergleichlich höheren Wirkungen geführt hat, als man sie [...] in Berlin gewohnt ist: Berger in Hamburg […]. Die somnambule Stimmung einer aus Wollust und Grauen bereiteten Vision; das rhythmisierte Tempo des aus schwüler Ruhe zur Katastrophe eines Zeitalters hastenden Fiebertraums; die aus dumpfen Seelen, aus einer Zisterne und aus dem Himmel dräuende Wende zweier Welten, der unsichtbare Galiläer und ein stilisierter Mond, der vom blanken Rund zum scharlachfleckigen Ungetüm alle Phasen irdischen Unheils begleitet, – die Unregelmäßigkeit der aus den Fugen gebrachten Natur: all dies ist auf der Hamburger Bühne, wo die erste öffentliche Aufführung der ‚Salome‘ stattfand, möglich gewesen.“ [Salome. In: Die Fackel, Jg. 5, Nr. 150, 23.12.1903, S. 1-14, hier S. 11], die bei Berger unvergleichlich
besser herausgebracht wurde als in Berlin bei Reinhardt. Ich habe Berger auch
selbst | Regie führen gesehen – im ersten JahrKarl Kraus hat nach Eröffnung des Hamburger Deutschen Schauspielhauses am 15.9.1900, wo eigentlich Annie Kalmar hatte spielen sollte (Karl Kraus hatte ihr das Engagement bei Alfred von Berger vermittelt), aber ihrer Krankheit wegen nie aufgetreten ist, die verehrte kranke Schauspielerin, die er „leidenschaftlich geliebt“ [Fischer 2020, S. 152] hat, in Hamburg bis zu ihrem Tod am 2.5.1901 mehrfach besucht [vgl. „Wie Genies sterben“. Karl Kraus und Annie Kalmar. Briefe und Dokumente 1899-1999. Hg. von Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen. Göttingen 2001, S. 20]. des Deutschen Schauspielhauses –,
ich war zugegen, als dieser und jener Theaterkitsch (wie Alt-HeidelbergWilhelm Meyer-Försters erfolgreiches Bühnenstück „Alt-Heidelberg“ (1901) hatte am 24.1.1902 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere [vgl. Neue Hamburger Zeitung, Jg. 7, Nr. 38, 23.1.1902, Abend-Ausgabe, S. (8)], Regie führte der mit Wedekind befreundete Carl Heine (nicht Alfred von Berger, wie Karl Kraus meinte): „Die Regie des Herrn Dr. Carl Heine hat in der Anordnung der schwierigen Massenscenen mit ihrem Radau und tollen Scherzen ein Meisterstück geliefert.“ [M.L.: Deutsches Schauspielhaus in Hamburg. „Alt-Heidelberg.“ In: Altonaer Nachrichten, Nr. 42, 25.1.1902, Abend-Ausgabe, S. (3)]) unter seinen Händen fast zur
Dichtung wurde. Herr HardenMaximilian Hardens Äußerung in einem der Hefte seiner Wochenschrift „Die Zukunft“ (Berlin), auf die sich Karl Kraus hier bezieht, ist nicht ermittelt., auf dessen Urtheil in Theaterdingen ich mich gewiß
nicht allzu gern berufeKarl Kraus hatte schon seit einiger Zeit Maximilian Harden in der „Fackel“ bissig glossiert; die erste große Polemik gegen den Berliner Publizisten erschien rund einen Monat darauf [vgl. Karl Kraus: Maximilian Harden. Eine Erledigung. In: Die Fackel, Jg. 9, Nr. 234-235, 31.10.1907, S. 1-36]., ist ganz derselben Ansicht und hat Berger in der
„Zukunft“ für den bedeutendsten unter den lebenden Theatermännern und für die
stärkste Regisseur-Persönlichkeit seit Dingelstedt erklärt. Wenn Sie
Aufführungen im Deutschen Schauspielhaus gesehen haben, dann kann ich
allerdings gegen Ihre Meinung nichts vorbringen. Ich erinnere mich aber nur,
dass wir in WienWedekind und Karl Kraus haben sich zuletzt am 20. und 21.5.1907 in Wien gesehen [vgl. Tb]. über Berger’s Fähigkeiten bloß im Zusammenhang mit einem abfälligen UrtheilFelix Salten hat sich zuletzt in einem größeren Beitrag in der Wiener Tageszeitung „Die Zeit“ (er war dort Feuilletonredakteur) abfällig über Alfred von Berger geäußert, über einen Artikel von ihm, den er eine „lächerliche Nichtigkeit“ nannte, und erwähnte ihn auch als Hamburger Theaterdirektor: „Der Herr Baron Berger ist ein eifriger Mann. Seit drei Dezennien bemüht er sich, Burgtheaterdirektor zu werden. Und seine Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen, sind oft possierlich genug. Er produziert sich in Hamburg als Bühnenleiter und depeschiert seine ‚sensationellen‘ Erfolge nach Wien. Noch nie vorher hat die ‚Neue Freie Presse‘ so viel Hamburger Theatertelegramme gebracht, als seitdem Baron Berger dort den exilierten Burgtheaterretter spielt.“ [F.S.: Die Erinnerung des Baron Berger. In: Die Zeit, Jg. 6, Nr. 1762, 21.8.1907, S. 2] des
Herrn Salten gesprochen haben. Das Urtheil
des Herrn Salten bewegt sich gerade in der Richtung der neuberlinischen
TheatermeinungAuffassungen vom Theater, wie sie Max Reinhardt in Berlin vertrat, im Unterschied zum alten ‚großen Stil‘, wie er durch das Burgtheater in Wien tradiert war., die sich gegen alles auflehnt, was irgendwie an den großen Stil
anknüpft. Überdies: Sie | wollen Berger kein Werk überlassen, weil Sie zu
seiner Regie kein Vertrauen haben. Herr Salten aber spricht sich gegen den
Theatermann Berger aus, nachdem ihm ein Stücknicht ermittelt. vom Deutschen Schauspielhaus abgelehnt worden ist. Ehe er es
einreichte, hat er – dies kann ihm nachgewiesen werden – nicht genug LobFelix Salten lobte Alfred von Berger wenige Wochen bevor am 15.9.1900 in Hamburg das Deutsche Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) mit Goethes Tragödie „Iphigenie auf Tauris“ (1787) – in der Titelrolle Stella Hohenfels, Wiener Hofburgschauspielerin und Alfred von Bergers Gattin – eröffnet wurde: „Binnen kurzer Frist wird in Hamburg das neue Schauspielhaus eröffnet, zu dessen Leitung Freiherr Alfred Berger berufen ist. Ein emsiger, vernünftig strebender Mann gelangt da in eine von jeher gewünschte Thätigkeit [...]. Berger’s Zuneigung zum Theater hat sich schon durch ihre ungewöhnliche Ausdauer als ein wirklich innerer Beruf legitimirt. Wer nur seine eigene Person durchsetzen will, wird es auf mancherlei Arten versuchen. Aber nur Derjenige, der in einem Fach etwas Wesentliches zu sagen hat, besteht so geduldig darauf, zu einer ganz bestimmten Sache das Wort zu erlangen, wie Berger auf seinem Willen zum Theater verharrte.“ [Felix Salten: Milieu und kein Ende. I. In: Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 6699, 8.7.1900, S. 2] für den
außerordentlichen Kopf aufbringen können, aus dem die Frau Hohenfels die Auffassung der Iphigenie bezog u. dgl.
Ich glaube, es wäre jammerschade, wenn Sie sich die
Gelegenheit nicht entgehen ließen, die Pandora am Deutschen
Schauspielhaus, unter der Regie Bergers, aufgeführt zu sehen. All dies sage ich
natürlich in der Voraussetzung, daß Ihr Mißtrauen keiner persönlichen Erfahrung
entspringt. Ich bitte Sie sich in Ihrer Arbeit nicht stören zu lassen und mir
auf diesen Brief nur mit einer Zeile zu antworten, wenn Sie sich die
Angelegenheit in meinem Sinne überlegt haben. Sollten Sie von Ihrem ablehnenden
| Standpunkt nicht abgehen, so bedarfs der Mühe eines Antwortschreibens
nicht. Ich würde in jedem Fall Montag nach Hamburg
schreiben, da ich einem Freundedem Dramaturgen Fritz Schik [vgl. Karl Kraus an Wedekind, 22.9.1907]., der bei mir anfragte, Antwort schulde. Sie
sind sicherlich davon überzeugt, daß ich – sollten auch unsere Ansichten über
Berger grundverschieden bleiben – Ihr Interesse zumal in Sachen der „Pandora“
so gut zu wahren bemüht bin wie Sie selbst.
Mit den herzlichsten Grüßen,
auch an Ihre l. Frau
Karl Kraus
Ischl postlagernd