Postkarte
An Herrn Karl Kraus
in Wien IV.
Wohnung (Straße und Hausnummer) Schwindtgasse 3. |
Lieber Herr Kraus!
Besten DankHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur genannten Sendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 13.11.1906. – Karl Kraus hat Wedekind entweder das „Fackel“-Heft geschickt, das seinen das ganze Heft füllenden Aufsatz „Der Prozeß Riehl“ enthält [vgl. Die Fackel, Jg. 8, Nr. 211, 13.11.1906, S. 1-28], oder aber „den broschierten Sonderdruck“ [Nottscheid 2008, S. 191], der vier Wochen später als „vorläufig vergriffen“ [vgl. Die Fackel, Jg. 8, Nr. 214-215, 22.12.1906, S. (54)] angezeigt ist. Der Aufsatz bezieht sich auf den fünftägigen Skandalprozess gegen die Wiener Bordellbetreiberin Regine Riehl vom 2. bis 6.11.1906 wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Kuppelei und Mädchenhandel am Strafgericht Wien (das Urteil – 3½ Jahre Zuchthaus – wurde am 7.11.1906 verkündet) und die öffentliche Resonanz auf diesen Prozess, der auch Korruption auf Seiten der Polizei offenlegte und bürgerliche Doppelmoral erkennen ließ, was für Karl Kraus der Dreh- und Angelpunkt seiner Ausführungen war. Berthe Marie Denk schrieb er in einem undatierten Briefragment: „Der ‚Process Riehl‘, der deinen Beifall hat, hat hier das stärkste Aufsehen erregt seit der Gründung jenes Blättchens, das mich zum Sclaven meiner Freiheit gemacht hat.“ [Nottscheid 2008, S. 191; Original: DLA] für den Prozeß RielSchreibversehen, statt: Riehl. – So im Erstdruck korrigiert.. Ich habe ihn noch nicht
gelesen, weil ich augenblicklich für eine ArbeitWedekind arbeitete am Projekt „Die große Liebe“, dessen Plan er bereits erwähnt hatte [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 23.10.1906]. sehr viel zu lesen habe. Zu
diesem sehr vielenWedekinds in der Tat außerordentlich umfangreiche und kulturgeschichtlich weit ausgreifende Lektüren zu seinem Projekt „Die große Liebe“ [vgl. KSA 5/I, S. 1148-1237], zu dem in den Notizbüchern „Bücherlisten“ und „Notizen zur Literaturrecherche“ [KSA 5/I, S. 1138] überliefert sind. gehört aber in erster Linie auch dieser Prozeß, so daß ich
sehr bald dazu kommen werde. Fr. Erw. wurde schweigend hingenommendie Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ (1891) an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) in Berlin am 20.11.1906, an dem Wedekind notierte: „Premiere von Frühlings Erwachen. Es rührt sich keine Hand.“ [Tb] Hermann Bahr notierte dazu am 21.11.1906: „Die Première war recht zuwider, weil dieses Publicum der geschlossenen Abonnementsvorstellungen zu trottelhaft ist. Es glaubt, weil es zwanzig Mark gezalt und sich wie zu einer Leiche angezogen hat, es sich nun schuldig zu sein, daß es weder lacht noch weint noch klatscht noch zischt noch irgend etwas empfindet, sondern regungslos, lautlos, gedankenlos sitzt es da, während der Akte und nach den Akten gleich stumpf und stumm, und scheint nichts zu empfinden als: Ich habe zwanzig Mark gezalt! Du kannst Dir die Nervosität des Autors und der Schauspieler denken, wenn am Ende der mit solcher Arbeit vorbereiteten Première kein Mensch weiß, ob sie nun durchgefallen sind oder einen großen Erfolg haben – was sie erst zwei Tage später, in der zweiten, für die Presse veranstalteten Vorstellung erfahren. – Ich sagte: Merkwürdige Idee von Reinhardt, sich die feinsten Stücke auszusuchen, diese mit den besten Schaupielern einzustudieren, um das Ganze dann dem ausgesucht dümmsten Publicum der ganzen Stadt vorzusetzen!“ [Tb Bahr, Bd. 5, S. 152] Die Inszenierung hatte dann aber einen überwältigenden Erfolg und markiert „den eigentlichen Durchbruch Wedekinds als Bühnenautor“ [KSA 2, S. 920].. Es hat sich buchstäblich nicht
eine Hand gerührt.
Wann sehen wir uns wieder?sehr bald, vier Tage nach dem vorliegenden Brief. Karl Kraus kam, um „Frühlings Erwachen“ auf der Bühne zu sehen (er sah die fünfte Vorstellung), am 27.11.1906 nach Berlin, wie Wedekind notierte: „Am Vormittag kommt Karl Kraus. Fr. Erw. 5 Nachher mit Kraus bei Treppchen“ [Tb].
Mit herzlichen Grüßen, auch von Tilly
Ihr
FrWedekind.