Kennung: 4401

London, 2. Mai 1894 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Inhalt

London, 2.V.1894.


Lieber Armin,

ich danke Dir für Deine NachrichtenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 30.4.1894.. Es freut mich zu hören, daß es Mama besser geht. Ich werde ihr nun jedenfalls auch zu ihrem GeburtstagEmilie Wedekind wurde am 8.5.1894 54 Jahre alt. schreiben. Mir geht es so weit gut. Ich habe hier jetzt mehr Verkehr, meist unter deutschen Flüchtlingen. Wir treffen uns in demselben ClubDer Communist Club in London ging aus der am 7.4.1840 von sieben Mitgliedern des Bundes der Gerechten gegründeten Deutschen Demokratischen Gesellschaft hervor. Karl Marx und Friedrich Engels schlossen sich dem Bund 1847 an, der dann in Communist League (Bund der Kommunisten) umbenannt wurde. Gottfried Kinkel trat dem Bund nach seiner Flucht aus Deutschland 1850 bei. Der Versammlungsort der Clubmitglieder war zunächst Great Windmill Street 20 in Soho, ab 1846 in Räumlichkeiten in der Drury Lane. Der Club spaltete sich mehrfach auf. Während Wedekinds Aufenthalt war der Communist Club in der Tottenham Street 49 beheimatet, eine anarchistische Abspaltung in Stephens Mews, Rathbone Place., der vor 80wahrscheinlich Übertragungsfehler, statt: 50. Jahren von Marx, Kinkel und Engels gegründet worden. Meine aesthetischen Bedürfnisse befriedigen die Damen Doustedie Schwestern Louise und Jeanne Douste (Hornton Street 4, Kensington), die als Pianistinnen, Sängerinnen und Klavierlehrerinnen in London tätig waren., zwei reizende Französinnen, die schönsten Mädchen, die ich je gesehen, und bei denen man sich alle vierzehn Tage in Frack und weißer Cravatte zusammenfindet. Ein solcher Abend ist ein wahres Labsal für mich, besonders da man etwas freier sprechen darf als in Herrengesellschaft. Wenn Du die ältere der beiden sähest, in ihrer Haltung, in ihren Bewegungen, in der absoluten Harmonie ihrer Erscheinung, ich wüßte nicht, was mit Dir geschähe. Wahrscheinlich das gleiche, was mit mir geschieht. Ich habe nie so viel Intelligenz mit soviel Lebhaftigkeit, soviel Schönheit und so viel Liebenswürdigkeit vereinigt gesehen. Dabei ist sie höchstens 22 Jahr altLouise Douste war 30, Jeanne Douste 23 Jahre alt.. Ich thue ihr vielleicht noch Unrecht damit. Dabei stark brünet und eine volle elastische Figur. Ich hätte nie geglaubt, daß solch ein Prachtwerk in der Wirklichkeit möglich wäre.

Donald hatte mir eine Empfehlung geschickt, für die ich ihm sehr dankbar bin, von Dr. BölscheWilhelm Bölsche, Schriftsteller und von 1890 bis 1893 Redakteur der Zeitschrift „Freie Bühne“, lebte seit Oktober 1893 vorübergehend in Zürich, nachdem er das Verhältnis zwischen seiner Frau Adele und dem mit ihm befreundeten anarchistischen Publizisten Bernhard Kampffmeyer entdeckt hatte, in dessen Haus in Friedrichshagen (Wilhelmstraße 72), einem Treffpunkt des Friedrichshagener Dichterkreiseses, das Paar wohnte. Bernhard Kampffmeyer und Adele Bölsche reisten daraufhin nach Paris und London, wo sie am 22.12.1893 eintrafen. in Zürich an Herrn Kampfmeyer hier. Herr Kampfmeyer hat mich in den anarchistischen Club geschleppt. Ich traf dort viele Bekannte, die ich letzten Sommer in ZürichWedekind war von Juli bis September 1893 in Zürich und besuchte den Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress in der Tonhalle (6.8. – 12.8.1893). kennen gelernt, viele Flüchtlinge aus ParisNach einem Bombenanschlag auf die Nationalversammlung in Paris durch den Anarchisten Auguste Vaillant am 9.12.1893 erließ die französische Regierung mehrere Gesetze, die die Pressefreiheit einschränkten und sich gegen politische Sympathisanten richteten (‚lois scélérates‘). Man darf annehmen, dass etliche Sozialisten und Anarchisten daraufhin das Land verließen, um einer Verhaftung zu entgehen., kaum einer darunter, der nicht schon irgend wo einige Zeit hinter verschlossenen Thüren zugebracht.

Du fragst mich nach Guitarren Accorden. Ich habe nun momentan leider keine Guitarre. Ich habe mir in Paris eine Violine gekauft, mit der ich meine einsamen Stunden erheitere. Ich gehe fortwährend mit dem Gedanken um, mir auch wieder eine Guitarre zuzulegen. Aber bei den schlechten Zeiten kann das noch ein Weilchen dauern. Ich habe mir aus dem Kopf die Accorde zusammenzustellenGemeint sind die Griffmuster der linken Hand zur Liedbegleitung auf der Gitarre. Im Folgenden erläutert Wedekind seinem Bruder die gängige Akkordfolge der tonalen Harmonik (Tonika – Subdominante – Dominante – Tonika). gesucht. Es ist mir aber nur mit zweien gelungen, auf die sich allerdings schon die meisten Lieder singen lassen. Sobald ich eine Guitarre habe, schicke ich Dir die anderen nach. Es thut mir besonders leid, daß ich keinen Mollaccord zusammengebracht. Eine weitere Erklärung ist zu den Accorden nicht nöthig. Jedes Lied beginnt mit der Tonica, geht dann in die Oberdominante über, um wieder zur Tonica zurückzukehren. Ausnahmsweise geht die Untere der Oberen voraus.

Nun leb wohl, lieber Bruder. Ich dank Dir auch für das FeuilletonEs dürfte sich um Hermann Stegemanns Besprechung von Max Halbes Drama „Jugend“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ gehandelt haben, die mit den Worten schließt: „Ich kenne aber noch ein modernes Büchlein, das den Anspruch erheben darf, wenn auch nicht poetisch und dramatisch neben die ‚Jugend‘ gestellt, so doch inhaltlich und der Analyse nach ihr vorangestellt zu werden. Es heißt ‚Frühlingserwachen‘, eine Kindertragödie von Frank Wedekind. Darstellbar ist die Tragödie nicht“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 115, Nr. 116, 27.4.1894, Morgenblatt, S. (2)].. Rühmend ist es gerade nicht, aber immer besser als nichts. Mit den herzlichsten Grüßen Dein treuer Bruder
Frank.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Empfangsort wird Armin Wedekinds Wohnort angenommen.

  • Schreibort

    London
    2. Mai 1894 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    London
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Zürich
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
269-271
Briefnummer:
113
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Armin (Hami) Wedekind, 2.5.1894. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

12.09.2023 17:00