London, 14.II.1894Dem Briefinhalt zufolge ist von einer irrtümlichen Datierung im Erstdruck auszugehen – 14.2.1894 statt 24.2.1894..
Lieber Bruder,
Seit vier WochenWedekind traf am 24.1.1894 in London ein [vgl. Tb]. sitze ich hier in London und seit vier
Monaten habe ich nichts mehr von zu Hause gehört. Ich weiß nicht, wo Mati, wo
Mieze, wo Donald, wo Mama ist. Ich habe an verschiedene geschrieben, ohne
Antwort zu erhalten. Zu Weihnachten schickte ich Mati und Miezedie beiden Begleitschreiben zu den Sendungen – Bücher und Fotografien [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 4.1.1894] – sind nicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 22.12.1893; Frank Wedekind an Erika Wedekind, 22.12.1893. jeder ein
Geschenk nach Dresden. Es hat es weder die eine noch die andere angezeigt
gefunden, mit einem Wort darauf zu erwidern. Donald schrieb mirvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1893. so was, daß
Mieze ein Engagement nach Cassel Erika Wedekind, die auch nach ihrer Prüfung am Dresdner Konservatorium im Frühjahr 1893 dort ihre Ausbildung als Sängerin fortsetzte, schloss im Herbst 1893 einen Vertrag mit dem Hoftheater Kassel ab und sollte ihr Engagement im Frühjahr 1894 beginnen, wurde jedoch vorher in Dresden zur Königlich-Sächsischen Hofopernsängerin ernannt und dort verpflichtet [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 317].angenommen; ob sie das Engagement aber gleich
angetreten, konnte ich nicht erfahren. Darf ich dich nun um einen recht
ausführlichen Brief bitten. Ich werde jedes Wort wie einen Thautropfen
aufsaugen. Ich schrieb Mati vor vierzehn Tagennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 7.2.1894. Das Schreibdatum ist durch Wedekinds kalendarische Notizen für die Tage vom 28.1.1894 bis 10.2.1894 auf einem in London geschriebenen Brieffragment [vgl. Wedekind an Otto Julius Bierbaum, 29.1.1894] belegt. Emilie (Mati) Wedekind war bereits im Januar aus Dresden abgereist. nach DresdenEmilie Wedekind (Mati) trat nach Abschluss ihrer Schulzeit im Herbst 1893 „einen mehrmonatigen Aufenthalt in Dresden an, wo sie Gesangs- und Klavierunterricht am Konservatorium, Schauspiel-, Zeichen- und Malunterricht bei Privatlehrern nahm, um nach einem einmonatigen Aufenthalt im Januar 1894 bei Verwandten in Hannover ihre Mutter wieder bei der Haushaltsführung im Steinbrüchli zu unterstützen.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 323] und erhielt keine
Antwort. Ich bin wirklich beunruhigt. Ich hoffe, du wirst meine Empfindungen
verstehen. Von allem, was unsere häuslichen Verhältnisse betrifft, bin ich wie
abgeschnitten. Schreib mir besonders über Mati. Du wirst ja auch am besten über
sie unterrichtet sein. Ich beginne zu fürchten, daß sie am Ende gar nicht mehr
in Dresden ist. Ich bitte dich, verschweig mir nichts von dem, was sie
betrifft. Wenn es ihr gut geht, will ich gerne auf die Correspondenz mit ihr
verzichten. Aber schreib mir auf jeden Fall ihre Adresse. Wie steht es mit
deiner AmerikafahrtArmin Wedekind hatte zuletzt von seinen Plänen zu einer Amerikareise berichtet, die ihn über London führen sollte [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 9.10.1893].? – Wann darf ich dich erwarten? – Ich residire hier in
einem Boarding HousePension mit Verköstigung (engl.: ‚boarding‘), „wo man für einen festen Preis, 30, 40s. und mehr die Woche, Wohnung und Kost (Breakfast, Lunch, Dinner und Abendthee) findet, und mit dem Eigentümer des Hauses und den übrigen Gästen desselben wie in einer Familie lebt. […] So angenehm dies sein mag, so paßt eine derartige Unterkunft doch nur für den, welcher sich längere Zeit in London aufhält, weniger für den Touristen“ [Karl Baedeker: London und Umgebungen. Handbuch für Reisende. 11. Aufl. Leipzig 1894, S. 10] Wedekinds erste Londoner Adresse war Bedford Place 30, Russel Square., in dem man täglich willkommen ist. Mir wird es eine
außerordentliche Freude sein, wiewol ich dich zehnmal lieber in Paris gehabt
hätte. Ich habe noch kein abgeschmackteres BuxtehudeToponym für einen provinziellen Ort fernab der Zivilisation. gesehen als dieses London.
Ich büße hier alles, was ich je gesündigt habe. Abends um 12 Uhr24 Uhr. wird man
polizeilich zu Bett geschicktdurch die geltende Sperrstunde: „Bei allen Abendunterhaltungen Londons ist […] daran zu denken, daß ihnen um Mitternacht, am Sonntag sogar schon um elf Uhr nachts, durch das Early Closing Act eine unübersteigliche zeitliche Grenze gezogen ist.“ [Stichwort ‚Polizeistunde‘ in: Langenscheidts Notwörterbuch. Sachwörterbuch (Land und Leute in England, etc.). Teil III. 2. Aufl. Berlin 1888, S. 467]. Am Sonntag„Die Sonntagsfeier ist in England bekanntlich streng; alle Geschäfte, Läden, Sehenswürdigkeiten und die City Restaurants sind den ganzen Tag geschlossen, andre Speisehäuser nur von 1 bis 3 und von 6 bis 11 U. geöffnet. Viele Geschäfte schließen schon Samstag mittag.“ [Karl Baedeker: London und Umgebungen. Handbuch für Reisende. 11. Aufl. Leipzig 1894, S. 72] bleibt man dem Wahnsinn
überantwortet. Dabei keine Schönheit, kein Geschmack, kein Glanz, keine Freude,
keine Sonne. Und bei alledem fühlt man sich unausstehlich wol, in dem erhabenen
Phlegma, wie ein Schwein unter Schweinen. Bis jetzt habe ich meine Empfehlungen
noch nicht abgegeben. Wenn ich erst einige Häuser offen habe, hoffe ich, daß
sich mein Horizont erhellen wird. Ich habe Paris mit leichtem Herzen verlassen,
weil mir dort die letzten Monate alle gesellschaftlichen Annehmlichkeiten
boten, die man sich träumen kann. Ich hatte alles in rosigstem Lichte sehen
gelernt. Jetzt nähre ich meine Phantasie kümmerlich von den Lebenszeichen, die
mir meine Freunde und Freundinnen über den Canal herüberschicken.
Lasse mich bitte nicht zu lange auf eine Antwort warten. Daß Mati
nichts von sich hören läßt, liegt mir schwer auf der Seele. Ich werde mich
gerne einige Tage gedulden, in der Hoffnung, daß dein Brief um so ausführlicher
wird. Aber leg meine bangen Erwartungen nicht ad acta(lat.) zu den Akten = etwas als erledigt betrachten, nicht mehr berücksichtigen..
Die herzlichsten Grüße an Emma, ebenso an Bubi und vor allem an dich
von deinem treuen Bruder
Frank.