Paris, 25.II.1893.
Lieber Bruder,
dein Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.2.1893. traf mich in dem Augenblick, als ich an dich
schreiben wollte, und zwar in meinen eigenen Angelegenheiten. Ich sah mich
darauf angewiesen durch eine Cartevgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 22.2.1893., die mit der gleichen Post von Donald an
mich eintraf. Ich weiß nun wirklich nicht, ob ich Dir zuerst auf Deinen
Vorschlagden Umgang mit Donalds Erbe betreffend (siehe unten). antworten und dann meine Bitte aussprechen soll oder umgekehrt. Da
die beiden Angelegenheiten in einander greifen, will ich da anfangen, wo sich
mir der Anfang bietet.
Du weißtArmin Wedekind verwaltete das Erbe des Vaters für seine Geschwister und unterstützte seine Mutter bei den Bemühungen um den Verkauf von Schloss Lenzburg. Frank Wedekind hatte sich sein verbliebenes Erbteil des Wertpapiervermögens zur Finanzierung seines Paris-Aufenthalts bereits auszahlen lassen [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 14.3.1892]., daß ich Mama Anfang Winters um 2000 frs gebeten habe, d. h.
ich hatte Mieze darum gebetenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Erika Wedekind, 7.11.1892. und erhielt darauf hin 1000 von Mamadas Begleitschreiben zu der Geldsendung der Mutter ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 12.11.1892., mit der
Zusicherung, daß ich die übrigen 1000 eventuell bekommen könnte. Ich habe
darauf hin noch 200 frsdas Begleitschreiben zu der Geldsendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 26.1.1893. von Mama erhalten und 200 schickte mir DonaldHinweis auf das Begleitschreiben zu der Geldsendung: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.2.1893. Anfang dieses Monats.
Ich hatte ihn um circa 500 gebetenvermutlich in den beiden nicht überlieferten Briefen Frank Wedekinds an Donald Wedekind, 25.1.1892 und 5.2.1893., und er schrieb mir damals, daß ich den Rest
vor Ende des Monats haben könnte. Nun erhalte ich eben eine Carte von ihm,
worin er mir anzeigt, daß er mir leider nichts schicken könnte. Ich sah mich
dadurch in einer Hinsicht – von Anderem abgesehen, das sich leicht arrangiren
läßt – aber in einer Hinsicht in einer sehr unangenehmen Verlegenheit. Ich
schulde nämlich frs 75 – der alten Frau
HerweghDie 75jährige Schriftstellerin und Politikerin Emma Herwegh, Witwe des Dichters und Revolutionärs Georg Herwegh, lebte seit 1878 in Paris und zählte im September 1893 und Januar 1894 gemäß Wedekinds Tagebuch zu seinen engen Kontakten., für eine französische ArbeitEmma Herwegh war Wedekind gemeinsam mit Louise Read bei der Korrektur der umfangreichen französischsprachigen Dialoge in der entstehenden „Monstretragödie“ „Die Büchse der Pandora“ behilflich, wie das Tagebuch ausweist: Am 8.1.1894 sagte sie ihm, „sie hätte eben den vierten Akt schon gelesen, sie finde ihn fürchterlich. Die Read sei bei ihr gewesen […] Sie habe sie gebeten, mit mir zusammen das Französische im vierten Akt durzugehen […] Wir gehen die französischen Stellen im vierten Akt zusammen durch“ [Tb]. Kurz darauf notierte Wedekind: „bin um halb zehn bei der alten Herwegh. Gleich darauf kommt Mlle Read und wir nehmen zu dritt noch einmal das Französische im vierten Akt durch.“ [Tb, 11.1.1894] Und am 15.1.1894 schreibt er: „Am Nachmittage nehme ich den 4. Akt unter den Arm und gehe damit zur Read. Sie hat mir versprochen ihn noch einmal lesen zu wollen.“ [Tb] Die fast durchgängig französischsprachigen Dialoge finden sich in den Auftritten IV/1 [vgl. KSA 3/I, S. 234-238], IV/6 [vgl. KSA 3/I, S. 248f.], IV/9 bis Auftakt IV/14 [vgl. KSA 3/I, S. 252-257] und IV/20 [vgl. KSA 3/I, S. 268-274]; den 4. Akt hatte Wedekind am 3.1.1894 abgeschlossen: „gehe nach Hause, schreibe noch die letzten drei Sätze am vierten Akt und trage das Manuscript zur alten Herwegh.“ [Tb], die sie mir korrigirt hat. Diese 75 frs sind am 28.II. d. h.
am Dienstag fällig, und es würde mir wirklich eine unendliche FatalitätUnheil. daraus
erwachsen, wenn ich sie ihr nicht bezahlen könnte. Frau Herwegh ist arm und auf
derartige Arbeiten angewiesen. Dessenungeachtet habe ich ihr die Arbeit nicht
aus Mitleid übergeben, sondern erstens, weil ich die Correctur in der That
nöthig hatte, und zweitens, weil ich durch sie Bekanntschaften zu machen
hoffte, die mir von großem Werth sein könnten. Sie hat das dann auch, ohne daß
davon die Rede gewesen wäre, vollkommen begriffen und mich mit verschiedenen
namhaften Pariser Redacteuren und Componisten in liebenswürdigster Weise in
Verbindung gebracht. Da mich nun Donald im Stich gelassen, da ich nicht weiß,
wo Mama momentan ist, da ich auch nicht mit Bestimmtheit annehmen kann, daß
Mieze so viel Geld übrig hat, so wende ich mich an Dich, an Dich persönlich mit
der Bitte, wenn es Dir möglich ist, mir aus deinen eigenen Mitteln über die
peinliche Unannehmlichkeit hinwegzuhelfen, und mit der Versicherung, daß du mir
einen zehnmal größeren Dienst damit erweist, als das Vorstrecken von 75 frs. unter gewöhnlichen
Verhältnissen zu bedeuten hätte. Wäre es eine gewöhnliche Schuld, so würde ich
mir sagen, ich könnte sie ebenso gut jemand anders schuldig sein wie dir, ich
würde jedenfalls lieber jemand fremden, der von mir verdient, als dich damit
belästigen. Es ist aber eine rein gesellschaftliche Verpflichtung, die ich in
der Zuversicht auf das Versprechen Donalds eingehen zu dürfen glaubte und deren
Nichterfüllung mich das Zehnfache kosten würde. Von den 2000 frs, die mir Mama
versprochen, habe ich 1200 frs von Mama und 200 frs von Donald erhalten. Du siehst daraus, daß ich keine übermäßigen
Ausgaben gemacht. Ich habe diesen Winter thatsächlich so einfach wie nur irgend
möglich gelebt. – Wenn Du in der Lage bist, mir den großen Dienst, um den ich
dich bitte, erweisen zu können, so schicke mir die frs 75 – bitte umgehend telegraphisch. Mit der
gewöhnlichen Post würden sie kaum mehr zur rechten Zeit eintreffen. Du bist
meines herzlichsten aufrichtigsten Dankes gewiß. Seit dem Empfang von Donalds
Karte befinde ich mich in ununterbrochener Aufregung über das mir bevorstehende
Mißgeschick, in einer Aufregung, die mit Absendung dieses Briefes keineswegs gehoben
ist, da ich ja nicht weiß, ob du mir helfen kannst oder nicht. Ich hoffe
natürlich darauf, da es das einzige ist, worauf ich hoffen kann. Ich bitte
Dich, wenn es Dir irgend möglich ist, mir deinerseits den großen Dienst nicht
zu versagen. Ich versichere Dich, es ist kein Bagatellunbedeutende Angelegenheit., es sind keine 75 frs, es ist so ziemlich das
beste, was ich mir hier in Paris bis jetzt mit unendlicher Mühe errungen.
Und nun zu DonaldNach seiner Matura war Donald Wedekind am 9.9.1892 zunächst nach Turin gereist [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 13.9.1892] und hielt sich bis Februar 1893 in Italien auf, vorwiegend in Rom. „Dort konvertierte er zum katholischen Glauben und nahm sich vor, in ein Jesuitenkolleg einzutreten. Der Plan scheiterte.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 159].. Deinem Brief gemäßnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 24.2.1893. hast Du ihm bis jetzt 6500 frs geschickt, das macht
nach Abzug dessen, was er mir vergangenen Sommer in Lenzburg und dann vor 4
WochenVermutlich bezieht sich Wedekind hier auf seine erste briefliche Bitte an Donald Wedekind um Geld [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 25.1.1893], das er dann am 8.2.1893 erhielt. Demnach hat er sich 1000 Francs in Lenzburg geliehen und später noch die genannten 200 Francs erhalten. vorgestreckt, 5300 frs. Das ist allerdings etwa das Dreifache von dem, womit er das
behaglichste Leben hätte führen können. Seine Briefe an mich fließen ebenfalls
von verrückter verworrener Verzweiflung über, die aber jedenfalls zum guten
Theil Komödie ist. Gearbeitet hat er den Winter über einiges, das kann ich am
besten bezeugen, da er es mir zur Correctur übersandtDonald Wedekind hatte seinem Bruder seit Herbst das Manuskript zu seiner Reisebeschreibung „Eine Auswanderfahrt im Jahre 1889“ zur Korrektur zugeschickt [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.10.1892 sowie die daran anschließende Korrespondenz]..
Der Hauptgrund seiner Verschwendung liegt offenbar darin,
daß er in Rom nicht das gefunden, was er gesucht, und vor allem jeder
anständigen gebildeten Gesellschaft entbehrt. Ich finde gleichfalls, daß das
wenigste, was er sich für sein Geld verschaffen könnte, eine gediegene Bildung
wäre. Ich habe ihn daher auf die Klage in seinem letzten Briefvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.2.1893. , nicht mehr
arbeiten zu können, dringend gebetenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.2.1893. , hierher zu kommen, da sich ihm hier
Gelegenheit zur Arbeit auf den Bibliotheken, wo ich mich auch täglich aufhalte,
von selbst bietet, und da er hier auch in anderer Hinsicht von seinem Gelde
einen wenigstens relativ guten Gebrauch machen könnte. Er hat mir darauf noch
nicht geantwortet. Ich werde ihm nun noch den anderen Vorschlag machen, nach
München zu gehen. Ich könnte ihm dorthin die besten Empfehlungen mit geben und
er in seinem Alter könnte in München jedenfalls ebenso viel profitiren wie in
Paris. Desgleichen steht ihm, wenn er sich durchaus der katholischen Kirche
widmen will, das ja in München wie in Paris ebenso und vielleicht leichter zu
Gebote wie in Rom. Soweit mein moralischer Einfluß auf Donald reicht, gebe ich
Dir die Versicherung, daß ich nichts unversucht sein lasse, was ihn von seinen
gegenwärtigen Sprüngen zurückführt. Dabei hege ich doch noch die feste
Zuversicht, daß er, sobald er irgendwo festen Fuß gefaßt und eine anregende,
anständige, gebildete Gesellschaft gefunden, selber rasch zur Besinnung kommen,
und sich der Arbeit, sei es welche es sei, widmen wird. Ich verspreche Dir, daß
ich alles aufbieten werde, um ihn dahin zu bringen. Was Deinen Vorschlag in
Bezug auf seine Papiere betrifft, so würde ich den Auftragnicht ermittelt. natürlich
übernehmen. Ich verspreche mir davon allein aber keine großen Vortheile. Die
beste Garantie für seine Umkehr sind, soweit mein Urtheil reicht, seine verzweifelten
Briefe, indem sie davon Zeugniß ablegen, daß er sich bei seinem Leben alles
andere eher als wohl fühlt. Theil mir bitte Deine Ansicht darüber mit und ob Du
mit meiner Ansicht einverstanden bist. Ich meinerseits werde derweil alles
aufbieten, um ihn aus Italien zu entfernen. Ich glaube, wie gesagt, daß, sobald
er anständige Gesellschaft gefunden, auch sein besseres Ich wieder wach werden
wird. – Und nun noch einmal, lieber Bruder, laß mich, wenn Du irgendwie kannst,
bitte nicht im Stich. Im Voraus mit bestem Dank und den herzlichsten Grüßen
Dein treuer Bruder
Frank.