München,
4 II.85.
Lieber Freund.
Reumüthig komm’ ich zu Dir;. Deine beiden Kartenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.1.1885; Oskar Schibler an Wedekind 3.2.1885. haben mich schwer verletzt, nicht
Deinetwegen, aber meinetwegen, daß ich so lässig und vergeßlich sein konnte.
Wir sind uns eben allerdings ein wenig aus dem Auge gekommen, aber an mir soll
es nun gewiß nicht fehlen, den Baum
der Freundschaftmetaphorische Redeweise. aufs neue zu hegen und zu pflegen, daß auch ihm der
kommende Frühling dichtes Laub und duftige Blüthen bringt.
Doch kannst Du darauf vertrauen, lieber Oskar, daß es nichts
Geringes, | nichts Unwürdiges ist, was deinen Franklin Heiliges und Heiligstes vergessen ließ Es
war wol das e/E/inzige, das den Kampf mit alter inniger Freundschaft ,
aufnehmen mag, das Einzige, dem dieser Kampf eher TriumpfSchreibversehen, statt Triumph. als Niederlage bringt, es war eine junge,
frische, wärmende LiebeZwischen Wedekind und der Lenzburger Apothekerswitwe Bertha Jahn, seiner 25 Jahre älteren kunstsinnigen und literarisch interessierten Nenntante, hatte sich nach seiner Rückkehr aus Lausanne (18.8.1884) eine erotische Beziehung entwickelt. „Im September 1884 scheint es […] zu Intimitäten gekommen zu sein, die diese Freundschaft in die Nähe einer Liebesziehung rückten und Wedekind veranlaßten, Bertha Jahn fortan seine ‚erotische Tante‘ [...] zu nennen.“ [KSA I/1, S. 988].
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Wenn der Mensch durch die Liebe im eigenen Herzen so
beseligt wird, daß er, sich selbst vergessend, nur noch in Gefühlen lebt, die
ihn überwältigen, so erfüllt ihn die Gewißheit, geliebt zu werden, wiederum mit
hohem Selbstbewußtsein, und in Mitten des Gewühles der mächtigsten Empfindungen
bleibt er Herr der Situation; statt zum Knechte seiner Leidenschaft macht ihn
die Liebe zum Gotte und hebt ihn heraus aus der kleinlichen Menschheit, heraus
aus irdischem Wirrsal, empor | in den strahlenden Äther des hohen Olymposdas höchste Gebirge Griechenlands; in der griechischen Mythologie der Sitz der Götter..
Dieses Glück ward mir zu Theil und schlug seine
ersten zarten Wurzeln kurz nachdem wir uns zum letzten Male in Aarau gesehen hattenzwischen 20.8.1884 [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.8.1884] und dem Ende der Semesterferien, die für Oskar Schibler 2 Wochen früher als für Wedekind am 14.10.1884 zu Ende gingen [vgl. Verzeichniss der im Winter-Halbjahre 1884/85 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen. Leipzig (1884, Titelblatt)].. Da die ganze
Natur zur üppigsten Entfaltung ihrer sommerlichen Pracht gediehen war, da wehte
mir ein warmer Frühlingshauch durch die ahnungsvolle Seele; und die
Blätter im Walde rötheten sich bereits, schon dufteten im Garten die letzten
Rosen, als der wonnige Mai mit all’ seinem Zauber und seiner Herrlichkeit
feierlichen Einzug hielt in unsere Herzen.
Seitdem bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Zum
ersten Mal in meinem Leben empfand ich meine hohe Würde als Mitglied der
Gesellschaft und schleuderte stolz die ausgetretenen KinderschuheSynonym für das Erwachsensein; hier vermutlich in Anlehnung an die Zeilen „Noch suchen wir nicht die Glückseeligkeit / In Kinderschuhen, die wir erst zertraten“ aus Wedekinds Briefgedicht „Zum neuen Jahr 1881 caro amico Hildebrand“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 31.12.1880]. von den männlichen Füßen. | Wol
deckt jetzt kalter SchneeAn diese Beschreibung seiner Stimmung erinnert insbesondere die 2. Strophe des Gedichts „Töne rauschen, Worte klingen“ (München, 29.12.1890): „Holder Muse Trost und Segen / Flockt auf unser Trennungsweh / Wie ein Frühlingsblüthenregen / Über kalten Winterschnee“ [KSA 1/I, S. 287]. die wintet/r/liche Erde und auch auf meinem
Frühling lagert dumpfes
Trennungsweh, aber Erinnerung und Hoffnung weben mir ein Paradies von
feenhafter Zauberpracht, in dessen warmen Quellen sich die Seele badet, wenn
sie zurückschaudert vor der eisigen Gegenwart. Und bisweilen nasch’ ich auch
von dem Baume des Lebens und
der ErkenntnißIn der biblischen Schöpfungsgeschichte werden zwei im Garten Eden (Paradies) stehende Bäume unterschieden – der Baum des Lebens in der Mitte des Gartens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von dem zu essen Gott Adam und Eva verboten hat [vgl. Genesis 2] und deren Zuwiderhandlung zum Verweis aus dem Paradies führte, damit die Menschen neben der Erkenntnis nicht auch ewiges Leben erlangten, indem sie vom Baum des Lebens aßen [vgl. Genesis 3]. – Hier dürfte der „Baum der Erkenntnis“ gemeint sein, der „Ort der Verführung Adams durch Eva (vgl. Genesis 2,17; Genesis 3,3ff.) und Symbol des Sündenfalls durch die Entdeckung der Sexualität“ [KSA 1/II, S. 2177]., so in Mitten des Gartensder Garten Eden (Paradies), in Anspielung auf die Vertreibung aus dem Paradies [vgl. Genesis 2-3]. steht, und verbleibe in alter treuer
Freundschaft Dein Dich liebender
Franklin.
P. S.Abkürzung für: Post Scriptum; (lat.) nach dem Geschriebenen; Nachsatz. Nicht wahr, du schreibst mir
recht bald wieder und straftSchreibversehen, statt: strafst.
mich nicht allzuhart für mein langes Schweigen!