Kennung: 4336

München, 4. Februar 1885 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

München, 4 II.85.


Lieber Freund.

Reumüthig komm’ ich zu Dir;. Deine beiden Kartenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 5.1.1885; Oskar Schibler an Wedekind 3.2.1885. haben mich schwer verletzt, nicht Deinetwegen, aber meinetwegen, daß ich so lässig und vergeßlich sein konnte. Wir sind uns eben allerdings ein wenig aus dem Auge gekommen, aber an mir soll es nun gewiß nicht fehlen, den Baum der Freundschaftmetaphorische Redeweise. aufs neue zu hegen und zu pflegen, daß auch ihm der kommende Frühling dichtes Laub und duftige Blüthen bringt.

Doch kannst Du darauf vertrauen, lieber Oskar, daß es nichts Geringes, | nichts Unwürdiges ist, was deinen Franklin Heiliges und Heiligstes vergessen ließ Es war wol das e/E/inzige, das den Kampf mit alter inniger Freundschaft , aufnehmen mag, das Einzige, dem dieser Kampf eher TriumpfSchreibversehen, statt Triumph. als Niederlage bringt, es war eine junge, frische, wärmende LiebeZwischen Wedekind und der Lenzburger Apothekerswitwe Bertha Jahn, seiner 25 Jahre älteren kunstsinnigen und literarisch interessierten Nenntante, hatte sich nach seiner Rückkehr aus Lausanne (18.8.1884) eine erotische Beziehung entwickelt. „Im September 1884 scheint es […] zu Intimitäten gekommen zu sein, die diese Freundschaft in die Nähe einer Liebesziehung rückten und Wedekind veranlaßten, Bertha Jahn fortan seine ‚erotische Tante‘ [...] zu nennen.“ [KSA I/1, S. 988]. ––

Wenn der Mensch durch die Liebe im eigenen Herzen so beseligt wird, daß er, sich selbst vergessend, nur noch in Gefühlen lebt, die ihn überwältigen, so erfüllt ihn die Gewißheit, geliebt zu werden, wiederum mit hohem Selbstbewußtsein, und in Mitten des Gewühles der mächtigsten Empfindungen bleibt er Herr der Situation; statt zum Knechte seiner Leidenschaft macht ihn die Liebe zum Gotte und hebt ihn heraus aus der kleinlichen Menschheit, heraus aus irdischem Wirrsal, empor | in den strahlenden Äther des hohen Olymposdas höchste Gebirge Griechenlands; in der griechischen Mythologie der Sitz der Götter..

Dieses Glück ward mir zu Theil und schlug seine ersten zarten Wurzeln kurz nachdem wir uns zum letzten Male in Aarau gesehen hattenzwischen 20.8.1884 [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.8.1884] und dem Ende der Semesterferien, die für Oskar Schibler 2 Wochen früher als für Wedekind am 14.10.1884 zu Ende gingen [vgl. Verzeichniss der im Winter-Halbjahre 1884/85 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen. Leipzig (1884, Titelblatt)].. Da die ganze Natur zur üppigsten Entfaltung ihrer sommerlichen Pracht gediehen war, da wehte mir ein warmer Frühlingshauch durch die ahnungsvolle Seele; und die Blätter im Walde rötheten sich bereits, schon dufteten im Garten die letzten Rosen, als der wonnige Mai mit all’ seinem Zauber und seiner Herrlichkeit feierlichen Einzug hielt in unsere Herzen.

Seitdem bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich meine hohe Würde als Mitglied der Gesellschaft und schleuderte stolz die ausgetretenen KinderschuheSynonym für das Erwachsensein; hier vermutlich in Anlehnung an die Zeilen „Noch suchen wir nicht die Glückseeligkeit / In Kinderschuhen, die wir erst zertraten“ aus Wedekinds Briefgedicht „Zum neuen Jahr 1881 caro amico Hildebrand“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 31.12.1880]. von den männlichen Füßen. | Wol deckt jetzt kalter SchneeAn diese Beschreibung seiner Stimmung erinnert insbesondere die 2. Strophe des Gedichts „Töne rauschen, Worte klingen“ (München, 29.12.1890): „Holder Muse Trost und Segen / Flockt auf unser Trennungsweh / Wie ein Frühlingsblüthenregen / Über kalten Winterschnee“ [KSA 1/I, S. 287]. die wintet/r/liche Erde und auch auf meinem Frühling lagert dumpfes Trennungsweh, aber Erinnerung und Hoffnung weben mir ein Paradies von feenhafter Zauberpracht, in dessen warmen Quellen sich die Seele badet, wenn sie zurückschaudert vor der eisigen Gegenwart. Und bisweilen nasch’ ich auch von dem Baume des Lebens und der ErkenntnißIn der biblischen Schöpfungsgeschichte werden zwei im Garten Eden (Paradies) stehende Bäume unterschieden – der Baum des Lebens in der Mitte des Gartens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von dem zu essen Gott Adam und Eva verboten hat [vgl. Genesis 2] und deren Zuwiderhandlung zum Verweis aus dem Paradies führte, damit die Menschen neben der Erkenntnis nicht auch ewiges Leben erlangten, indem sie vom Baum des Lebens aßen [vgl. Genesis 3]. – Hier dürfte der „Baum der Erkenntnis“ gemeint sein, der „Ort der Verführung Adams durch Eva (vgl. Genesis 2,17; Genesis 3,3ff.) und Symbol des Sündenfalls durch die Entdeckung der Sexualität“ [KSA 1/II, S. 2177]., so in Mitten des Gartensder Garten Eden (Paradies), in Anspielung auf die Vertreibung aus dem Paradies [vgl. Genesis 2-3]. steht, und verbleibe in alter treuer Freundschaft Dein Dich liebender
Franklin.

P. S.Abkürzung für: Post Scriptum; (lat.) nach dem Geschriebenen; Nachsatz. Nicht wahr, du schreibst mir recht bald wieder und straftSchreibversehen, statt: strafst. mich nicht allzuhart für mein langes Schweigen!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Seiten sind von Wedekind in Bleistift mit arabischen Ziffern durchnummeriert (hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    4. Februar 1885 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Leipzig
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
S. 332-333
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 4.2.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

29.04.2023 13:52