Heinrich
Lautensack
Berlin Wilmersdorf
Gieseler Str. 16Heinrich Lautensack wohnte seit 1910 in Berlin-Wilmersdorf in der Gieseler Straße 16 (Hinterhaus, 3. Stock) [vgl. Berliner Adreßbuch für 1911, Teil I, S. 1665].
9. März.
Lieber, sehr verehrter Frank Wedekind,
du erinnerst dich noch, da wir eines furchtbar kalten Tages
uns in diesem Winter auf der Kantstraße trafenDie Begegnung auf der Kantstraße in Charlottenburg dürfte während Wedekinds letztem Aufenthalt in Berlin vom 11. bis 14.1.1912 [vgl. Tb] stattgefunden haben. Wedekind könnte etwa eine Filiale des „Berliner Tageblatt“ in Charlottenburg (Kantstraße 34) [vgl. Berliner Adreßbuch für 1912, Teil V, S. 101] aufgesucht haben und dabei Heinrich Lautensack über den Weg gelaufen sein.: diese Begegnung mit dir löste bei
mir dann jene heimliche TheaterideeHeinrich Lautensack hat in seinem Artikel „Das Heimliche Theater. Ein Weg zur Ueberwindung des Zensors“ in der „Aktion“, dessen Bedeutung der Herausgeber Franz Pfemfert nachdrücklich unterstrich und der eine rege Diskussion nach sich zog, zur Umgehung der Zensur das Projekt eines ‚heimlichen Theaters‘ (geschlossene Vorstellungen vor geladenem Publikum) und als erstes der aufzuführenden Stücke Wedekinds „Totentanz“ („Tod und Teufel“) vorgeschlagen [vgl. Die Aktion, Jg. 2, Nr. 4, 22.1.1912, Sp. 97-100]. Das „Berliner Tageblatt“ berichtete mehrfach über das Projekt, zu dem am 26.2.1912 in Berlin auf Einladung der „Aktion“ eine Kundgebung stattfand [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 41, Nr. 104, 26.2.1912, Abend-Ausgabe, S. (3)]. Heinrich Lautensack und Alfred Kerr sprachen ‒ mit nur verhaltener Resonanz. „Das heimliche Theater, eine Überwindung der Bühnenzensur ‒ unter dieser Devise war gestern eine Versammlung einberufen, die gleichzeitig gegen die Zensur protestieren sollte. Nicht allzu viele Neugierige hatten sich zu diesem Protest in dem großen Saal eingefunden.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 41, Nr. 107, 28.2.1912, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Das Projekt wurde nicht realisiert. aus und ich freute mich auch in der Folge
immer wieder nur darüber, daß ich mit meinen schwachen Kräften auf die Art meiner
grenzenlosen Verehrung für dich vielleicht einigermaßen wirksamen Ausdruck
verleihen könnte. –
An meine eigene PfarrhauskomödieHeinrich Lautensacks antiklerikales Stück „Die Pfarrhauskomödie“ (1911), im Vorjahr im A. R. Meyer Verlag in Wilmersdorf erschienen [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 78, Nr. 57, 9.3.1911, S. 2979], konnte erst postum am 5.1.1920 in Berlin uraufgeführt werden. –
du kennst mich und glaubst mir, wenn ich dir das sage – dachte ich dabei wirklich schier am allerletzten ‒
Da aber schnappte von allem Anfang an der Franz PfemfertFranz Pfemfert, Herausgeber und Chefredakteur der Wochenschrift „Die Aktion“ in Berlin-Wilmersdorf (Nassauische Straße 17) [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1912, Teil II, Sp. 1274], hatte Wedekind eingeladen, „vor den Lesern der ‚Aktion‘ einen Vortrag zu halten“ [KSA 6, S. 741]. Wedekind hat die Einladung unter Hinweis darauf nicht angenommen, er werde einen solche Vortrag erst dann halten, wenn Franz Pfemfert ihm Gelegenheit gebe, eines seiner Dramen, darunter etwa „Tod und Teufel“, aufzuführen [vgl. Wedekind an Franz Pfemfert, 2.1.1912].
nach meiner Idee wie ein wütiger Hund –
Dieser Brief würde wahrhaftig über zwanzig Seiten lang werden, wollte ich dir
detailliert nun schildern: nicht allein, wie dieser Haupt- und Staatsaktionär
mich durch einfaches Uebersehen und Uebergehen brutal aus allem herauszuekeln
trachtete – das
fand ich persönlich weniger schlimm, und denn ich wollte mir ja beileibe keine Sinekuremüheloses, einträgliches Amt. damit schaffen! −, sondern wie die
gesunde Idee an seinen wütigen Zähnen rapid vergiftete! – Und das machte mich
allmählich ebenfalls gelinde rasen. |
Alles in allem: ich fühlte mich von Tag zu Tag weniger
imstand, dir auch nur eine Zeile zu schreiben, aufmunternden Inhalts, mein ich − Wie ich es andererseits
doch wieder nicht über mich brachte, dich gradaus vor diesem Herrn zu warnen –
Aber am 5. März deponiertedeponieren, hier: unterbringen. Heinrich Lautensack hat sich in Sachen Heimliches Theater offenbar am 5.3.1912 an Paul Block, Feuilletonredakteur des „Berliner Tageblatt“ [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1912, Teil II, Sp. 144], gewandt. Paul Block dürfte Wedekind angesprochen haben, der jedenfalls brieflich Stellung zu Besetzungsfragen einer möglichen „Tod und Teufel“-Aufführung durch das geplante Heimliche Theater nahm [vgl. Wedekind an Paul Block, 7.3.1912]. ich bereits bei Paul Block: Mein
künstlerisches Gewissen gebietet es mir, mich all den Machenschaften der AktionEs hatten sich zwei rivalisierende Gruppen unter den Befürwortern herausgebildet. Franz Pfemfert hatte das Projekt gleich in seiner kämpferischen Nachbemerkung zu Heinrich Lautensacks Artikel (siehe oben) zu seiner Sache gemacht. Er sah in ihm „eine eminent politische, eine kulturpolitische Frage, die hier gelöst werden soll.“ Ihm ging es um fundamentale Opposition gegen die Zensur, auch als Botschaft an die „Herrscher vom Feuilleton“: „Wir werden unser Heimliches Theater zu schaffen suchen, ob mit, ob gegen euch.“ [Die Aktion, Jg. 2, Nr. 4, 22.1.1912, Sp. 100f.] Er gab in den nachfolgenden Heften der „Aktion“ einer regen Diskussion um das Vorhaben Raum, in der sich die unterschiedlichen Sichtweisen herauskristallisierten. Die Gruppe um Heinrich Lautensack veröffentlichte schließlich im ersten Heft der von Carl Einstein in Berlin herausgegebenen Zeitschrift „Neue Blätter“ folgende Erklärung: „Sinn dieses Unternehmens ist keineswegs Opposition. Einfach nötige Ergänzung des Theater-Repertoires und Verwirklichen der Dramen, die Werte enthalten, die sich dem Königlich Preußischen Verständnis entziehen. Opposition gegen die Zensur hieße dem Nichts ein Nein entgegensetzen. Wir stehen der bisherigen Propaganda, die den Namen borgte, fern und lehnen sie ab. Zunächst wird Wedekinds ‚Tod und Teufel‘ gespielt werden. Der Arbeits-Ausschuß: Erich Baron, Carl Einstein, Heinrich Lautensack, Alfred Richard Meyer.“ [Das Heimliche Theater. In: Neue Blätter, Jg. 1 (1912), Heft 1, S. 6]
fernzuhalten, und ich trage keine Verantwortung als die der alleinigen Vaterschaft
bei der Idee. Aber wie sich die Mutter, d.i. die Wochenschrift „Die Aktion“
in ihrem gesegneten Zustande aufführt, das mag auf ihre Kappe gehn. Und schloß:
ich sei nicht mit ihr verheiratet.
−
Lieber
und sehr verehrter Frank Wedekind, nun aber ist die Sache in ein anderes
Stadium getreten und wir wollen rein noch einmal von vorn anfangen. Es ist auch
schon etwas Geld daHeinrich Lautensack hatte während der Kundgebung für das Heimliche Theater am 26.2.1912 um Spenden für das Projekt geworben. „Zum Schluß richtete er einen ebenso warmherzigen wie energischen Appell an ‒ die Geldbörse der Versammlung.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 41, Nr. 107, 28.2.1912, Morgen-Ausgabe, S. (3)] und was noch fehlt, wird weiter aufgebracht – o welch
ungeheuerer Gegensatz zu Pfemfert, wo’s, wenn’s sein hätte können, direkt
umgekehrt gewesen wäre!! − − − − möchtest du’s auf einer viel gesünderen
Unterlage nun mit uns versuchen?! Du telegraphierstEin Telegramm Wedekinds in dieser Sache ist nicht überliefert; ob er es aufgegeben oder Heinrich Lautensack anderweitig geantwortet hat, ist unklar und jedenfalls nicht belegt., um es kurz zu sagen, mir 1.) deine Einwilligung, 2. bestimmst den Termin, 3.)
depeschierst mit einem Ja oder Nein, ob es dir recht ist, wenn Erich Ziegel
und seine FrauMirjam Horwitz, mit dem Regisseur und Schauspieler Erich Ziegel verheiratet (Heirat am 5.6.1907 in Berlin), war seinerzeit frei gastierende Schauspielerin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 794] und lebte mit ihrem Mann in Charlottenburg (Dahlmannstraße 1) [vgl. Berliner Adreßbuch für 1912, Teil I, S. 3465], der seinerseits nominell dem Berliner Neuen Theater und der Direktion von Liebichs Etablissement in Breslau angehörte [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 939]. Miriam Horwitz | die übrigen beiden RollenWedekind hatte sich für die Schauspielerin Rosa Bertens, Gattin von Paul Block (siehe oben), als Darstellerin der Elfriede von Malchus in der geplanten „Tod und Teufel“-Inszenierung durch das Heimliche Theater ausgesprochen [vgl. Wedekind an Paul Block, 7.3.1912]. In der Presse war dagegen publik gemacht: „Die erste Aufführung wird voraussichtlich schon am 6. März stattfinden, und zwar als Nachtvorstellung; zur Aufführung gelangt Wedekinds ‚Tod und Teufel‘. Frank Wedekind und Frau, ferner Mirjam Horwitz und Erich Ziegel werden in den Hauptrollen mitwirken.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 41, Nr. 107, 28.2.1912, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Die Inszenierung wurde mehrfach verschoben und dann nicht realisiert. übernehmen in
Tod und Teufel ‒ und stellst 4.) sonstige
etwaige Bedingungen.
Du siehst, das ist geschäftlich kurz und du gerätst in keine
Flunkerei, wie Pfemfert eine an die andere setzte.
Dabei ist derselbige Pfemfert absolut unschädlich samt
seiner Aktion. Und falls er nur im geringsten das Maul aufreißt, stopf ich es
ihm mit seinen eigenen Thaten in Sachen des heimlichen Theaters, wobei nur
ich das Licht der Oeffentlichkeit nicht zu scheuen habe.
−
Mit ergebensten Grüßen an deine Frau Gemahlin und dich
dein
Heinrich Lautensack.