DR. Med.
A. Wedekind
Riesbach-ZÜRICH.
Riesb., den
11. Dec.
89.
Lieber Bruder!
Mit Freude habe ichnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 10.12.1889. gelesen, aus dem
ich dies mal entnehme, daß er nicht vom Diplomaten, sondern von einem offenen
Bruder geschrieben ist. Leider ist zwar mein Mißtrauen noch nicht beseitigt, daß/s/
sich besonders damals wieder zu regen begann, als ich erfahren mußte wie
illoyal Du seiner Zeit meine Auseinandersetzung mit Dir
wegen des Gratulationsbriefes hinter Mama gesteckt hast, sodaß diese dann die
Gelegenheit benutzte, es Emma bei ihrem Aufenthalt in Lenzburg vor unserer
HochzeitArmin Wedekind und Emma Frey hatten am 21.3.1889 geheiratet. aufzutischen u sie dadurch wie durch manche andere Bemerkung in
Verlegenheit zu setzen. Ueber die Rolle, die Du damals gegen sie gespielt hast
im Verein mit allen meinen NächststehendenSchreibversehen, statt: nächststehenden. Gemeint sein dürften die Mutter und die Geschwister Armin Wedekinds. Verwandten fordre ich allerdings von Dir selber zunächst Aufklärung bevor ich annehmen kann/darf/, daß
Du mit ehrlicher Gesinnung zwischen Mama u mir vermitteln sollst kannst.
Denn obwohl Du mir damals schriebstnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 1.2.1889. Der nicht überlieferte Brief entstand wahrscheinlich im Lauf des Jahres vor der Eheschließung Armin Wedekinds mit Emma Frey. Die Verbindung wurde von der Familie in Lenzburg nicht befürwortet, Frank Wedekind ging jedoch bereits im Frühjahr 1888 von einer sicheren Heirat aus [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1888], verlobt waren die beiden seit November 1888. Die in dem verschollenen Brief von Wedekind erklärte Absicht, sich für seine zukünftige Schwägerin einsetzen zu wollen, dürfte er in relativer Nähe zum Heiratstermin am 21.3.1889 geäußert haben. Du thätest Alles, um das einmal
feststehende Factumdie bevorstehende Eheschließung mit Emma Frey, der Tochter des Züricher Bezirksarztes Gottlieb Frey, bei dem Armin Wedekind seit Frühjahr 1886 in Hottingen als Assistenzarzt tätig war [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.5.1886]. so gut als möglich in Einklang mit Mama den zu Hause
herrschenden Ansichten zu bringen so war sowohl Dein Beneh|men als das der
andern nicht nur weit entfernt von Herzlichkeit oder Liebe, wie man sie der
Braut eines Bruders sonst doch entgegenzubringen pflegt, sondern i/I/hr
suchtet ihr im Gegentheil Emma zu beschämen, zu demüthigen u sowohl
durch Grobheit als durch hämische Bemerkungen gegen mich sie
zu kränken oder zu veranlassen sich eine Blöße zu geben, um dann das/iese/
wieder gegen sie benutzen zu können. Du speziell magst wohl versucht haben
Deine psychologischen Studien an ihr zu üben, als sie sich dem entzog war sie
Dir gleichgültig, die Braut Deines Bruders hast Du in
ihr nicht geachtet. Ueber diesen Umstand wünsch ich von Dir eine bündige
ehrliche Erklärung zu haben, erst dann kann ich annehmen, daß wir im alten
Vertrauen weiter verkehren dürfen.
Aus diesen Gründen ist auch mein letzter Briefvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889.
entstanden. Ich habe nicht Deine Hülfe angefleht, um zwischen mir u Mama zu
vermitteln. Es war vielmehr dabei meine Ueberzeugung maßgebend
daß ich den Zwist u die DivergenzMeinungsverschiedenheit. mit meinen Angehörigen zu Hause zum großen
Theile dem Einflusse zuzuschreiben habe, den Du letzten Winter auf Alle Deine
dortigen geistigen Sklaven ausgeübt hast. Wie schwer es auch
sowohl Emma als mir wurde, das Vor|urtheil, das gegen sie existirte u tief
eingewurzelt war zu zerstreuen, es gelang doch, und es gelang gerade durch
unsere Gegenwart, gerade dadurch, daß sich sowohl Mama als Mieze davon
überzeugen mußten, es sei doch nicht so schlimm wie sie sich’s vorgestellt. Nun kam am Vorabend unserer
Abreise mitten im besten Einvernehmen jene Scene vor, die den Bruch
herbeiführte. Mit Emma von einer Tour in’s SeethalTal zwischen Lenzburg und Emmen. zurückgekehrt erlaubte ich mir jene Bemerkung gegen Fräulein
Minkein Pensionsgast auf Schloss Lenzburg, die Frank Wedekind kannte und die auch Gegenstand der Korrespondenz mit seiner Schwester Erika war [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1889]., daß sie im Hause die erste Rolle spiele oder so
etwas, eine Bemerkung die auf Thatsachen beruhte indem diese Dame in
Abwesenheit der Pensionäre„Wedekinds Mutter betrieb nach dem Tod ihres Mannes auf Schloss Lenzburg eine Pension für Feriengäste, um zusätzlich Einkünfte für sich und die Familie zu erzielen, solange das Schloss noch nicht verkauft war.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 136], die Zimmer derselben untersuchte, so auch das
unsere, dann über Alles ihr nicht nur arrogantes sondern äußerst unverschämtes
Urtheil sich erlaubte, über die Dienstboten die Zuträgerinabwertend für eine Person, die ohne Auftrag Informationen weitergibt. machte, aus einem
jeden seine Schwächen herauszuexaminiren suchte und sie dann wieder bei andren zu
verwerthete um sich damit angenehm zu machen. Dabei ist zu bemerken, daß ich
weder gegen Emma noch mich von ihr irgend etwas gehört hatte. Ich sah aber u
hörte wie Mama über Papa sich lächerlich machte, dann über unsere VerwandtenIn Hannover lebten Frank Wedekinds Onkel Erich Wedekind sowie seine Tante Auguste Bansen, beides Geschwister des Vaters. in
Hannover schimpfte u wie Frl. Mink bei solchen Gelegen|heiten nicht nur
aufmerksame Zuhörerin war, sondern in das liebens würdige Urtheil
miteinstimmte. Ich kann ihr das nicht übel nehmen, sie ist einmal
eine Schmarotzerin, eine s/S/eeleDrekseele„bildlich eine gemeine und niederträchtige denkungsart“ [DWB, Bd. 2, Sp. 1360].,
die vom Sumpfe lebt, in den sie sich mit vorliebeSchreibversehen, statt: Vorliebe. hinein setzt u wo sie üb/p/pig
u kräftig darin wird, mit einem Wort eine Dame mit soviel Hautgouthaut goût (frz. ‚hoher Geschmack‘) ursprünglich für Wildgeschmack, pikante Würze; daneben: „Hautgout haben (übertr.) = anrüchig, faul sein.“ [Verdeutschungsbücher des allgemeinen deutschen Sprachvereins. I. Die Speisekarte. Braunschweig 1888, S. 53], daß ich nicht dran zweifle, daß sie Dir äußerst
behagen wird. Mir dagegen war ihre Gegenwart allerdings zuwieder u die
Aussicht, die mir damals schon g/G/ewißheit
war, daß sie sich immer fester ankletten werde keine erfreuliche. So ließ ich
mich zu jener Bemerkung hinreißen. Was war die Antwort? Das sei nicht meine
eigene Stimme, die aus mir spreche u s. w.; kurz Emma, die keine Silbe gesagt hatte, sollte Schuld sein an
Allem. Sie hatte mir noch abgerathen als ich auf Mieze ihren Jammer über die
Mink zu Mama gehen wollte, trotzdem mußte sie Schuld sein. Am andren Tag
kam Mama nicht zu Tisch, sprach kein Wort u als wir
Abschied nehmen wollten entließ sie uns, wie man ein Paar Bettler von der Thüre
weist. Aber dies rohe, herzlose Betragen, das ihr eine solche brutale
Beleidigung ihres Sohnes u seiner Frau vor Dienstboten u Pensio|nären eingab,
das wurzelte nicht in meiner Äußerung, sondern in Mamas altem Haß u Hochmuth u
der war gehegt u gepflegt von Dir. Er hat sich glänzend bewährt dieser stolze,
eingebildete, eigendünkelhafte Sinne, dieses „ich u mein Fleisch sind
besser als alles andere Volk.“ Er hat sich in seiner ganzen Höhe u seiner
abscheulichen Niedrigkeit, in seiner Unfähigkeit zu denken zu prüfen aber in
seiner Wollust, die, die sich nicht wehren können zu
quälen u zu beleidigen gezeigt.
So stehen die Dinge. Als ich von Zürich her mich über solche Behandlung beklagte und
hoffte, nur einen Wink geben zu müssen um Mama zu veranlassen ihre Rohheit wieder gut zu machen, da kam jener BriefDie Korrespondenz zwischen Emilie und Armin Wedekind ist nicht überliefert., in dem
sie mein Betragen als Neid u Mißgunst auslegt u daneben Emma beschuldigt aus gekränkter Eitelkeit jene Scene durch
mich herbeigeführt zu haben. Diese dummen u
lächerlichen Beschuldigungen ließ ich allerdings unbeantwortet.
Mama hat wohl nachträglich gefühlt, daß sie ein
Unrecht begangen. Es läßt sich aber so etwas nicht durch kleine Spenden wieder
gut | machen. Ich fordere von Mama einSchreibversehen, statt: eine. bündige Erklärung über ihr Verhalten,
denn nur Offenheit kann in einem solchen Falle helfen.
Wenn Du dabei eine Vermittlerrolle s/ü/bernehmen
willst so habe ich nichts dagegen sobald wir mit einander im Klaren
sind. Die Sache von damals als Spaß
auszulegen, wie Du das im letzten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 10.12.1889. thust, möchte doch wohl verfehlt sein,
nachdem Deine Indiscretion sowohl bei Emma als mir den schlechtesten Verdacht
gegen Dich rege gemacht. Du hättest nachdem ich so mit Dir gesprochen hatte,
wissen können daß ich damit nicht spasse u vor Mama u Emma schweigen dürfen, das wäre anständig gewesen!
Ebenfalls zurückweisen muß ich Dein Ansinnen, daß es sich jetzt um eine
gewöhnliche Differenz zw à la Pfarrerin u SchwiegermutterAnspielung nicht ermittelt.
handelt. Emma hat mit Mama nie eine Auseinandersetzung
gehabt, sie hat leider stets jede Beleidigung ertragen ohne die gehörige
Antwort darauf zu geben (auf die es dabei allerdings wahrscheinlich abgesehen
war.) Emma befindet sich überdies am Ende ihrer Schwangerschaft sodaß ich sie
bitte sie vollständig aus | dem Spiele zu
lassen. Sie weiß weder von diesem noch dem vorigen Brief vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 27.11.1889.an Dich etwas. Ich
hoffe ich kann mich wenigstens mit dieser Bitte auf Dich verlassen. Daß Du
trotz meinem ausdrücklichen Wunsch an Mama geschriebenvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 4.12.1889. hast ist mir sehr
unangenehm u entschlage ich mich in dieser Beziehung jeder Verantwortung.
Ich überlasse es Dir nun zu thun was Du für gut
findest. Daß ich mir von zu Hause eine Behandlung wie die bisherige nicht
weiter gefallen lassen kann scheint auch Dir klar zu sein, doch kann ich nicht den ersten Schritt thun, wo es an den andren ist ein bitteres Unrecht
einzugestehen u gut zu machen. Sonst So
muß ich sogar eben riskiren, nach
allen Seiten die Fühlung zu verlieren, da ich zu einem
Diplomaten nach Deinem Sinne kein Talent habe.
Indem ich hoffe, daß das nächste Jahr mir von
den Meinigen etwas mehr Liebe u Achtung entgegenbringt u zugleich das Mißtrauen in Dich
schwinden
Möge verbleibe Dein Bruder
Armin.