Berlin, Wedekind hat den Brief am 17.6.1889 notiert: „Nach dem Abendbrod schreib ich an Hammi“ [Tb]..
Lieber Armin,
besten Dank für Deinen lieben Briefvgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 30.5.1889.. Ein AttestFür seinen Berlinaufenthalt hatte Frank Wedekind bei der Polizei ein Staatsangehörigkeitsattest im Original [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 3.7.1889] vorzulegen, da sein Vater amerikanischer Staatsbürger war. Das aus Lenzburg erhaltene Dokument reichte dafür nicht aus. Am 25.6.1889 notierte er im Tagebuch: „Wie ich am Nachmittag mein Zimmer für einen Augenblick verlasse, seh ich einen Polizisten in der Thür stehen und weiß sofort was die Stunde geschlagen. Er bittet mich auf die Polizei zu kommen, wo man einen Staatsangehörigkeitsausweis von mir fordert. Somit sind denn meine Tage in Berlin gezählt.“ hab
ich seither von Lenzburg erhalten und die Polizei scheint sich damit zufrieden
gegeben habenrecte: gegeben zu haben.. Es thut mir leid, daß ich Dir unnöthige Mühe verursachte. Es ist
indessen auch etwas kühler und der Aufenthalt menschlich erträglich geworden in
Berlin. Ich wohne hier in einer sehr angenehmen GegendWedekind wohnte in der Genthiner Straße 28 im 4. Stock. Seine Wohnung war rund 700 Meter vom Tiergarten entfernt., zehn Minuten vom
Thiergarten entfernt, in dem ich mich fast täglich einige Stunden begebe um zu
lesen. Der Thiergarten und so manches andere erinnern mich auf das lebhafteste
an Hannover. Es ist das was uns dort die Eulenriederecte: Eilenriede, der Stadtwald Hannovers östlich des Zentrums. war. Thiere befinden sich
natürlich keine anderen darin als Mücken und Droschkenpferde. Eine freundliche
ReminiscensErinnerung. erweckte es mir mitanzusehen, wie die Kinder hier auf ihren
Spielplätzen, ganz gleich wie wir in Hannover, fast ausschließlich mit Dreck d. h. mit Erde spielten.
Sie graben dieselben Burgen wie wir vor 20 Jahren1869 war Frank Wedekind fünf, sein Bruder Armin Wedekind sechs Jahre alt., bauen dieselben
Höhlen über dem Fuß und verwandeln schließlich die ganze Anlage durch
Bewässerung mit der Gießkanne in denselben chaotischen Quark. Diese angenehmen
Empfindungen steigerten sich bei mir im Zoologischen Garten, wo ich mich vor
jeder Bestie wieder als kleiner Bengel fühlte. Ich wohne übrigens
verhältnismäßig sehr billig und angenehm. Gesellschaft hab ich noch wenig
gefunden, aber auch nicht gesucht. – – – – – – – – – – – Gesternam 16.6.1889. Wedekind besuchte gemeinsam mit der Opernsängerin Anna Spicharz – „Anna Spichart [...] mit ihr allein in der National Gallerie“ [Tb] – die Nationalgalerie, eine der Sehenswürdigkeiten Berlins, die sonntags von 12 bis 15 Uhr geöffnet war [vgl. Berliner Adreßbuch für das Jahr 1890, Teil IV, S. 196]. war ich mit
den DamenEmilie Herzog, Hofopernsängerin in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1890, Teil IV, S. 15], die Verlobte von Wedekinds Freund Heinrich Welti, und Anna Spicharz, Konzert- und Opernsängerin aus Frankfurt am Main. in der Nationalgallerie und vorgesternam 15.6.1889. Wedekind besuchte gemeinsam mit den Opernsängerinnen Emilie Herzog und Anna Spicharz die Königlichen Museen: „ins Museum. [...] Anna Spichart in einer Extase über den Pergamenischen Altar“ [Tb]. Zu den Königlichen Mussen gehörte das „Alte Museum, Am Lustgarten“, in dem das Fries des Pergamonaltars ausgestellt war („die Pergamenischen Funde“), und das „Neue Museum, welches durch einen Bogengang [...] mit dem Alten Museum in Verbindung steht“ [Berliner Adreßbuch für das Jahr 1890, Teil IV, S. 195]. im Museum. Böcklins Gefilde
der Seligen Das von der Berliner Nationalgalerie bei Arnold Böcklin in Auftrag gegebene Öl-Gemälde „Die Gefilde der Seligen“ (1877) war 1878 zunächst ausgestellt, aber aufgrund öffentlicher Proteste vorübergehend wieder abgehängt worden. In seiner Rede im Berliner Abgeordnetenhaus beschrieb August Reichensberger am 12.2.1880 das Gemälde so: „Die Farben sind derart schreiend, daß ich versucht war, mir die Ohren zuzuhalten. (Heiterkeit.) Und worin besteht die ‚Seligkeit‘ der betreffenden Dargestellten? Sie zeigt sich in der Art, daß 6 bis 7 unbekleidete Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts, wenn ich nicht irre, theilweise mit Bocksfüßen versehen, auf und ab spazieren, während im Vordergrund, in einem Wasser auf einem centaurartigen Scheusal eine ebenfalls unbekleidete weibliche Person reitet, – wohin ist nicht zu sehen. (Große Heiterkeit.)“ [August Reichensperger: Parlamentarisches über Kunst und Kunsthandwerk nebst Glossen dazu. Köln 1880, S. 48] Im Katalog der Nationalgalerie ist das Gemälde so beschrieben: „Phantastische Landschaft mit schroffer Felshalde zur Rechten, von dunklem Gewässer bespült, welches nach links hin mit flachem Rasenufer abschließt und den Blick durch Pappelgebüsch hindurch auf die von der Frühsonne angeleuchtete Gebirgsferne freiläßt. Durch die von Schwänen durchfurchte Fluth schreitet ein Centaur, auf seinem Rücken ein jugendliches Weib tragend, das von zwei aus dem Schilf auftauchenden Sirenen geneckt, nach dem Gestade umschaut, wo ein im Gras gelagertes Paar und weiterhin ein Reigen seliger Gestalten um den Altar versammelt ihrer harren.“ [Max Jordan: Katalog der königlichen National-Galerie zu Berlin. 7. vervollständigte Aufl. Teil I. Berlin 1885, S. 172] Auf Arnold Böcklins Gemälde hatte bereits Olga Plümacher Wedekind aufmerksam gemacht [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 15.11.1885]. hielt uns fast eine Stunde gebannt. Es ist von überwältigender
Stimmung und macht den Eindruck eines schönen Traumes, über den man schon
während des Träumens weinen möchte vor Ergriffenheit. Außer diesen Gefilden
packte mich nur noch ein Bild so zu sagen an der Kehle, nämlich Platons
SymposionDas Gemälde „Gastmahl des Platon“ von Anselm Feuerbach war 1878 von der Nationalgalerie angekauft worden. Im Katalog heißt es dazu: „Die Composition ist veränderte Wiederholung eines im Jahre 1867 vom Künstler gemalten Bildes, welches sich im Privatbesitz des Fräulein Röhrsen in Hannover befindet.“ [Max Jordan: Katalog der königlichen National-Galerie zu Berlin. 7. vervollständigte Aufl. Teil I. Berlin 1885, S. 174]. Das ursprüngliche Bild war 1869 auf der 1. internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast gezeigt und von der Malerin Marie Röhrs erworben und dann offenbar in Hannover gezeigt worden. von Feuerbach, das Du, wenn mir recht ist, seiner Zeit in Hannover
gesehen hast. Es wirkt nicht weniger traumhaft als das Böcklinsche. Es wirkt
wie eine großartige Erinnerung, nichts weniger als realistisch. Selbst die
Tänzerinnen des AlcibiadesPersonengruppe in der linken Bildhälfte. Im Katalog heißt es: „Platon’s Dialog ‚Symposion‘ (das Gastmahl) schildert eine Zusammenkunft verschiedener Freunde und Schüler des Sokrates im Hause des Agathon […]. Philosophische Gespräche bilden die Unterhaltung und zwar wird über den Begriff des ‚Eros‘ gehandelt […]. Nachdem Sokrates als der letzte Redner seine tiefsinnigen Gedanken über das Wesen der Liebe dargelegt hat, erschallt Lärm von der Straße her. Alkibiades erscheint weinselig auf der Schwelle; umgeben und gestützt von den ihn geleitenden Mädchen und Sklaven, begrüßt er den Wirth Agathon […]. – Diesen Wendepunkt hat unser Bild zum Gegenstand.“ [Max Jordan: Katalog der königlichen National-Galerie zu Berlin. 7. vervollständigte Aufl. Teil I. Berlin 1885, S. 174f.] Bei Platon kommt Alkibiades, ein prominenter Athener Politiker, betrunken ins Haus, und hält eine Lobrede auf Sokrates. sind wie gebannt inmitten der wildesten Bewegung.
Fröhlich sind sie auf keinen Fall, vielleicht selig, aber man kommt auf den
Gedanken, daß es ihnen verzweifelt ernst ums Herz ist.
FeuilletonsArmin Wedekind hatte seinen Bruder im letzten Brief ermuntert, Berichte aus Berlin für Schweizer Zeitungen zu verfassen [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 30.5.1889]. hab ich bis jetzt noch keine in die Welt
geschickt, aber mein Geld ist zu Ende. Es lebt sich freilich sehr billig in
Berlin, aber es muß eben alles gelernt sein. Wenn Du mir so bald wie möglich d. h. quam celerrime(lat.) so bald wie möglich. noch
einmal Recrutenstudentensprachlich für: Gelder. Die Formulierung so auch im Tagebuch: „Nach dem Abendbrod schreib ich an Hammi wegen Rekruten“ [Tb, 17.6.1889]. schicken wolltest, so sollte es, wenn auch nicht das letzte
überhaupt, so doch das letzte sein, zu dem ich nichts dazuverdient. – – – – – –
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