DONALD WEDEKIND
BERLIN-FRIEDENAU
FRIEDRICH WILHELMPLATZ 6.
d. 15.VIII.03
Mein lieber Frank!
Gleich in den ersten Tagen meiner Rückkehr nach Berlin
Donald Wedekind hatte nach einem Schweiz-Aufenthalt seinen Bruder Frank in München ab Mitte April für eine Woche besucht [vgl. Wedekind an Max Halbe, 22.4.1903; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.5.1903]. Ob es im Sommer 1903 noch zu einem weiteren Treffen gekommen ist, wie die spätere Korrespondenz nahelegt („Deinen Ratschlägen von letztem Sommer habe ich nach bestem Vermögen nachgelebt“ [Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.4.1904]), ist ungewiss. machte ich zufälligerweise die Bekanntschaft von Herrn Bruno Cassirer. Dieser
und Herr Felix Holländer, welcher neuerdings Dramaturg beim Neuen TheaterDas Neue Theater in Berlin (Schiffbauerdamm 5) stand seit 1903 unter der Direktion von Max Reinhardt; Dramaturg war der Schriftsteller Felix Hollaender [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 245]. ist
baten mich nun, Herrn Cassirers Wunsch, dich | für seinen Verlag zu gewinnen, durch
ein brüderliches Handschreiben zu unterstützen. Ich bemerkte gleich, daß von
Einfluß von meiner
Seite auf dich überhaupt nicht die Rede sein könne, versprach aber Herrn
Cassirer einen aufklärenden Brief, so wie er ihn wünscht, um so lieber, da ich
in dem jungen Verlagsbuchhändler und neuerdings DoktorEine Promotion von Bruno Cassirer ließ sich nicht nachweisen. und Theaterverleger einen wirklich angenehmen Menschen
und meinem Urteile nach | vorsichtig, sicher und anständig vorgehenden
Geschäftsmann kennen gelernt habe. Nun besonders die Angelegenheit Herrn
Cassirers.
Derselbe ist ein/der/ eine Teil der früheren Firma
Bruno und Paul CassirerBruno Cassirer führte zusammen mit seinem Cousin und Schwager Paul Cassirer seit dem 20.9.1898 die Bruno & Paul Cassirer, Kunst- und Verlagsanstalt (Viktoriastraße 35) in Berlin [vgl. Adreßbuch für Berlin 1901, Teil IV, S. 157], die am 30.8.1901 aufgeteilt wurde. Der Kunsthandel wurde unter gleicher Adresse von Paul Cassirer, die Verlags-Buchhandlung (Derfflingerstraße 16) [vgl. Adreßbuch für Berlin 1904, Teil I, S. 250] von Bruno Cassirer weitergeführt.. Was ich noch von diesen Leuten gehört habe, waren
immer die besten Urteile über ihre geschäftliche Prosperität. Bruno Cassirer übernahm, während er
seinem Vetter den Kunstsalon mit Ge|mäldehandel überließ, den Verlag, in
welchem meines Wissens nur die besten und neusten Autoren in vorzüglicher
Ausstattung und mit offenbarem, buchhändlerischem Erfolge erschienen sind. Herr
Cassirer hat nun erfahren, daß du für einen andernWedekind hatte seinem Verleger Albert Langen geschrieben, er werde sich bei ausbleibenden Vorschusszahlungen für „Hidalla“ um einen anderen Verlag bemühen [vgl. Wedekind an Albert Langen, 25.5.1903]. Das Stück erschien dann im Mai 1904 beim Münchner Verlag Dr. J. Marchlewski & Co. [vgl. KSA 6, S. 386]. Unzufrieden war Wedekind auch mit dem Nichterscheinen der Buchausgabe seiner Tragödie „Die Büchse der Pandora“, die ein Jahr zuvor in der Zeitschrift „Die Insel“ [Jg. 3, Nr. 10, Juli 1902, S. 19-105] des Leipziger Insel-Verlags erschienen war [vgl. KSA 3/II, S. 860], der möglicherweise eine Buchausgabe erwog [vgl. Wedekind an Georg Mischek, 4.8.1903]. An den Albert Langen Verlag schrieb Wedekind wenige Tage nach dem vorliegenden Brief, er habe das Stück nun „einem anderen Verlage zur Buchausgabe übergeben“ [Wedekind an den Albert Langen Verlag, 19.8.1903]. Dass damit bereits der Bruno Cassirer Verlag, der am 13.10.1903 die Rechte für das Stück erhielt [vgl. KSA 3/II, S. 842; 862], gemeint war, ist nicht belegt. als den Langenschen Verlag
augenblicklich arbeitest und hält den Moment für gekommen, um dich, so weit das
möglich, von deinen alten Verpflichtungen zu befreien, | jedenfalls aber um mit
dir in Zukunft zusammenzuarbeiten. Daß das mit Kosten verbunden sein wird,
darauf scheint Herr Cassirer gefaßt zu sein und ich glaube dich versichern zu
können, daß die Firma Bruno Cassirer bei derselben Solidität jedenfalls ein
coulanteres Verfahren ihren Mitarbeitern gegenüber einhalten wird als da/e/r
Albert | Langensche Verlag, aus dem einfachen Grunde, weil Herr Cassirer
geistig und gemütlich„dem gemüt angehörig, das gemüt betreffend“ [DWB, Bd. 5, Sp. 3329]. über Herrn Langen steht.
Das einzige Bedenkliche an der Geschichte wäre, daß du,
wenn der Vertrag mit Herrn Cassirer zu Stande kommt, offenbar indirekt dem
Neuen TheaterFrank Wedekind arbeitete mit dem Neuen Theater (Direktion: Max Reinhardt) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 245] zusammen, wo, seinerzeit noch unter der Direktorin Nuscha Butze-Beermann [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 260], am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne bereits „Der Kammersänger“ (Regie: Martin Zickel) uraufgeführt wurde und der Einakter am 30.9.1903 erneut Premiere hatte, nun unter der Regie von Max Reinhardt [vgl. KSA 4, S. 392f.]; am 27.11.1903 folgte die Premiere von „So ist das Leben“ (Regie: Richard Vallentin) [vgl. KSA 4, S. 632]. zugeschoben wirst, welchem Unternehmen ich bei allen guten AuspicienVorzeichen, Aussichten., unter
denen es begonnen, keine Zukunft von dauernden Erfolgen zuschrei|be. Diese
Verbindung des N. Th. mit dem Bruno Cassirerschen Verlage mag aber auch nur ein
momentanes Ergebnis der persönlichen Freundschaft Herrn Holländers mit Bruno
Cassirer sein und braucht, da das Neue Theater ja einstweilen floriert, auch
von keiner schlechten Wirkung zu sein. Dann machte mich Herr Holländer noch
besonders darauf aufmerksam, daß Bruno Cassirer abgesehen von seiner |
Verlagserweiterung noch ein anderes, großes Unternehmennicht eindeutig ermittelt (möglicherweise die Gründung der illustrierten Halbmonatsschrift „Das Theater“, deren erstes Heft am 1.10.1903 bei Bruno Cassirer erschien). im Sinne hat, wovon
jetzt noch nicht gesprochen werden soll, worüber er dich aber, Herr Cassirer,
gerne unterrichten wird, sobald es nach Einleitung der andern Angelegenheit zu
einer persönlichen Zusammenkunft gekommen. Wenn man nun hier in Berlin von
einem Projekt nicht spricht, so ist es gewöhnlich das eines Theaters, weshalb
ich, | ohne aller dings irgend welchen festen Anhaltspunkt zu haben, unter dem
Eindruck stehe, als trügen sich die Beiden, Herr Cassirer und Herr Holländer,
mit solchen Plänen, was bei dem Ansehen, ein/w/elchemSchreibversehen, statt: welchen. der Name Cassirer
hier in Geschäftskreisen steht/hat/, durch aus keine Größenwahnsinnigkeit zu bedeuten braucht. Kurzum,
um meine Mission auch wörtlich genau zu erfüllen, resumire ich dir, was | mir
gegenüber Herr Cassirer gesternam 14.8.1903. geäußert hat und was, wie er mir sagte, dir
schon schriftlich mitgeteiltHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Bruno Cassirer Verlag an Wedekind, 13.8.1903. wurde.
Herr Cassirer ist bereit, bei dem geringsten
Entgegenkommen von Seiten deines neuen Verlegersder Verleger Julian Marchlewski in München (Ungererstraße 80) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1903, Teil I, S. 416], in dessen Verlag 1904 nur ein Buch Wedekinds („Hidalla“) erschien. in München, dich dort
abzulösen und dir natürlich dieselben oder mehr Förderungen zu gewähren. Herr Cassirer beansprucht
für seine Vermittlung an die Theater nur 4/7/ % (ich sage „nur“, | weil
er glaubt, damit billiger zu seinFrank Wedekind vereinbarte in seinem Vertrag mit dem Albert Langen Verlag vom 1.6.1904 [vgl. Aa, Wedekind-Archiv E, Mappe 5 Nr. 3] eine Verlagsprovision von 10 Prozent. als der Langensche Verlag, was ich nicht
wissen kann[)]. Herr Cassirer ist überhaupt, so du dich ihm für die Dauer
verpflichtest, zur Eingehung von für dich ganz ausnahmsweise günstigen
Bedingungen geneigt, was ich bei der ausnahmsweisen Energie, womit er sich um dich
bemüht, rückhaltslos glaube. Herr Cassirer wäre auch bereit, die bei Langen
erschienenen und in seinem | Vertriebe ruhenden Werke von dir zu übernehmen,
insofern sich Herr Langen darauf einläßt. Und Herrn Cassirer liegt daran,
sobald wie möglich von dir über die verschiedenen Punkte a/A/ufschluß zu
bekommen, um dann im günstigen Fall weiter vorzugehen.
Lieber Frank, dieses mein Auftrag, den ich mit um so mehr
Aufrichtigkeit aus|führen konnte, da, wie ich oben bemerkte, Herr Cassirer noch
bevor ich um die Sache wußte, auf mich als neue Bekanntschaft in der
angenehmsten und liebenswürdigsten Weise wirkte. Ich selber bitte dich deshalb
und weil ich augenblicklich ebenfalls mit Herrn Cassirer einer kleinen
VerlagssacheZu einer Publikation von Texten Donald Wedekinds im Bruno Cassirer Verlag kam es nicht. wegen in Unterhandlung | stehe, möglichst umgehend deine Antwort
an Herrn Cassirer zu senden, da dann die Entscheidung in meiner Angelegenheit um so
schneller fallen wird. Es handelt sich um die Publikation in Buchform der „Schweizer
Reminiscenzengemeint sind vermutlich die unter dem Titel „Kindheitstage“ (1905) publizierten Erinnerungen Donald Wedekinds (siehe unten).[“],
der „Wirtin v.
Aedermannsdorf“ und noch einer größeren SchweizernovelleIn dem Band „Oh, mein Schweizerland! Novellen und Erinnerungen“ (1905 in Berlin bei Lilienthal erschienen), in dem die beiden anderen genannten Erzählungen erschienen sind, findet sich keine weitere Novelle, die ihren Schauplatz explizit in der Schweiz hat; die Erzählung „Die Töchter Banfi oder Gesetz- und Ungesetzlichkeit“ spielt jedoch in einer „Republik“ [Donald Wedekind: Oh, mein Schweizerland! Novellen und Erinnerungen. Berlin 1905, S. 55], die deutlich Züge der Schweiz trägt. , an der ich jetzt
arbeite. Dabei soll natürlich (es ist | beinahe überflüssig, daß ich es
wiederhole, dein Verhalten Herrn Cassirer gegenüber ein völlig unabhängiges
sein, denn meine Sache ist von so geringem Belang, daß du ihretwegen nicht um
eine Idee anders handeln sollst. Eine prompte Beantwortung der Zeilen Herrn
Cassirers aber wären/n/ erwünscht, wäre es einzig aus dem Grunde, weil
das Leben kurz und | die Ruhe langKontamination einer Zeile aus dem Kirchenlied „Wohlauf, wohlan zum letzten Gang!“ von Christian Friedrich Heinrich Sachse: „Kurz ist der Weg, die Ruh ist lang“ [in: Ferdinand Bäßler: Evangelische Liederfreude. Auswahl geistlicher Lieder von der Zeit Luthers bis auf unsereTage. Berlin 1853, S. 314] und des lateinischen Spruchs: „Vita brevis, ars longa“ (Das Leben währt kurz, die Kunst lang) [vgl. Büchmann 1879, S. 249]. sind und wir später Zeit genug haben werden,
um eine selbst an eine überflüssige Arbeit gewandte Mußestunde nachzuholen. Damit bin ich,
lieber Frank, mit den herzlichsten Grüßen an Mamma und Mati und in Erwartung
deiner Nachricht an Cassirer (Herr Hölländer läßt dich natürlich grüßen und fragt mich jedes
Mal, ob du ihn überhaupt kennst) dein treuer Bruder
Donald