München,
18.III.17.
Geliebter, Dein Telegrammvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 18.3.1917 (Telegramm). macht mich sehr glücklich.
Gottlob, dass es nur ein Versehen war!
Gestern war ich sehr gedrückt, u. konnte es nicht ertragen allein
zu sein. Ich giengSchreibversehen, statt: ging. mit Frau Vane in die AufführungTilly Wedekind besuchte mit Sybil Vane die Doppelpremiere von Heinrich Manns Einaktern „Der Tyrann“ (1917; nach der Novelle „Der Tyrann“, 1908) und „Varieté“ (1910) unter unter der Regie von Hermann Sinsheimer am 17.3.1917 in den Münchner Kammerspielen (Beginn: 19.30 Uhr, Ende: 21.30 Uhr): „Zwei Einakter von Heinrich Mann / Zum ersten Male: Der Tyrann [...] Hierauf: Neu einstudiert: Variété“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 70, Nr. 137, 17.3.1917, General-Ausgabe, S. 2], in der Presse dann charakterisiert als „zwei ältere Einakter des Dichters, den psychologischen Dialog ‚Der Tyrann‘ und sein satirisches Gegenspiel ‚Varieté‘, in denen der Künstler tiefergehende Analysen menschlicher Sondererscheinungen versucht und ungewöhnliche seelische Verschlingungen aufweist. Man findet dies erste, auf eine entscheidende Szene verdichtete Drama als Novelle in den ‚Bösen‘, wo die unerbittliche Kühle des vivisezierenden Schriftstellers minder fühlbar wird als auf der Bühne.“ [Kurt Morek: Theaterrundschau. In: Allgemeine Zeitung, Jg. 120, Nr. 15, 8.4.1917, S. 151] Frank Wedekind hatte dem Tagebuch zufolge die szenisch geschriebene Novelle „Der Tyrann“ am 7.9.1910 gelesen („Lese im Hofbräu Heinrich Mann ‚der Tyrann‘“), den Einakter „Varieté“ am 10.11.1910 („Lese im Bett Variété von Hrch. Mann“). von Heinrich Mann, Tyrann u.
Variété. Es war nicht besonders, das 2. ganz lustigder in den Münchner Kammerspielen am 17.3.1917 als zweites Stück gespielte Einakter „Varieté“ (siehe oben), über dessen Aufführung die Presse schrieb: „Beifall und Aufnahme entsprachen dem unterhaltsamen Scherzo.“ [E. (= Richard Elchinger): Der Tyrann – Variété. Zwei Einakter von Heinrich Mann. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 70, Nr. 140, 19.3.1917, Morgen-Ausgabe, S. 2]. Dann aßen wir in der
TorggelstubeMünchner Stammlokal Wedekinds; seine Frau war dort am 17.3.1917 in Gesellschaft von Georg Stollberg, Direktor des Münchner Schauspielhauses und des Gärtnerplatztheaters, und seiner Frau Grete Stollberg sowie deren Tochter (nicht identifiziert), Max Halbe, Max Langheinrich, Joachim Friedenthal, dem mit Lion und Marta Feuchtwanger befreundeten Kunsthistoriker und Schriftsteller August Mayer, der seit 1912 Kustos der staatlichen Galerien München war, sowie der Schauspielerin Annie Rosar (siehe unten)., wo Dir. Stollberg mit Frau u. TochterGeorg Stollbergs Gattin Grete Stollberg (geb. Kramme) und ihre Tochter Charlotte Stollberg., Halbe, Langheinrich, Friedenthal, August
Meyer | u. die RosarAnnie Rosar (Mauerkircherstraße 12), eigentlich Annie Walser [vgl. Adreßbuch für München 1917, Teil I, S. 586, 777], Schauspielerin am Münchner Schauspielhaus [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1917, S. 506], dann am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1918, S. 441], die seit 1912 zu Wedekinds Bekanntenkreis zählte; zuletzt gesehen hat er sie Lion Feuchtwanger zufolge am 3.2.1916: „Abends Sinsheimer-Vortrag bei Caspari. Dann mit Sinsheimer, Rosar, Wedekind, Frank u.a. im Preysingpalais.“ [Tb Feuchtwanger] waren. Die Rosar lud alle ein zu ihr zu kommen, ich wollte
erst nicht, giengSchreibversehen, statt: ging. aber dann mit, damit es nicht so aussieht als ob ich nicht
darf. Frau u. Herr Feuchtwanger kamen auch.
Auch sagte ich mir, ich muss es endlich lernen mich in der Gesellschaft zu
bewegen, dann wird es auch gehen wenn Du mit mir gehst u. wir werden Vergnügen daran
haben. Besonders behaglich war es nicht, bei Frau LangheinrichTilly Wedekind hatte am 2.3.1917 bei Anna Langheinrich (geb. von Seidlitz) und Max Langheinrich (Friedrichstraße 34, 2. Stock) [vgl. Adreßbuch für München 1918, Teil I, S. 407] einen anregenden Abend verbracht [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 3.3.1917]. fand ich es
viel, viel netter. Aber ich glaube, dass ich nicht herausfiel aus der
Unterhaltung. |
Heute war ein herrlicher, sonniger Tag. Ich giengSchreibversehen, statt: ging. mit den
beiden Kindern durch den englischen Garten, wir tranken beim chinesischen Turm Cacao u. besuchten dann Frl. MarionBlanka Marion (eigentlich: Blanka Milischowsky), „Chorsängerin (Gärtnerplatztheater)“ [Adreßbuch für München 1916, Teil I, S. 458] und mit Tilly Wedekind befreundet, hatte zunächst am oberen Anger 9 (2. Stock) gewohnt [vgl. ebd.]; sie zog dann um – ihre neue Adresse ist zwischenzeitlich zwar nicht verzeichnet, sie wohnte aber Reichenbachstraße 11 (1. Stock).. Sie hat
sich’s schon sehr nett in ihrer Wohnung eingerichtet u. wir unterhielten uns
sehr gut. Morgen abends wird sie zu mir zum Essen kommen.
Morgen schicke ich Dir E/e/inige
Esswaren, die Butter giebtsSchreibversehen, statt: gibt’s (gibt es). nicht früher. Du kannst es doch einschließen u. zum
Frühstück essen. Eventuell in Wasser legen. | Denn es ist doch sehr wichtig,
dass Du Dich gut nährst, besonders bei der Anstrengung.
Die Kinder sind sehr lieb. Heute musste ich ihnen noch viel von meiner Reise erzählen. Frl. Marion staunte
wie groß sie geworden sind, sie hat sie lang nicht gesehen.
Nun lebwohl Du mein Liebster u. schreib mir bald.
Innigen Kuss,
Deine Tilly