Kennung: 3950

Fluntern, 15. März 1886 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Fluntern, d. 15.III.86.


Lieber Bruder!

Du brauchst mir Deinen Antheil von der BüsteArmin und Frank Wedekind hatten ihrem Vater zum 70. Geburtstag eine Hermesbüste für 32 Francs geschenkt [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 12.2.1886]. nicht zu schicken, da Papa trotz des heftigsten Widerstrebens meinerseits mir doch die ganze Summe wieder zurückgegeben hat. Das war eigentlich a/A/lles, was ich Dir schreiben mußte. Immerhin habe ich letzthin auch ein sehr Ane/g/enehmes Erlebnis gehabt dessen Erzählung die übrigen | Seiten ausfüllen mag, denn sonst wäre aus meinem ziemlich einförmigen Leben wirklich nichts zu berichten. –

Letzten Donnerstagder 11.3.1886. nämlich war ich von einem Freundenicht ermittelt. eingeführt bei einem Kränzchen in Fluntern. Es war ein sog. Familienabend; die Damen, worunter einige recht hübsch waren costümirt, die Herren schwarz. Ich war in dem angenehmen Element wieder einmal recht aufgelebt u tummelte mich wie ein Fisch im Wasser. An einem Cotillon„ein Gesellschaftstanz, der ursprünglich aus Frankreich stammt, beginnt mit einer großen Ronde, der zunächst eine große Quadrillentour (chaînes en quatre, croisée) zu folgen pflegt. Andre beliebige Touren schließen sich an; zu Ende einer jeden wird von sämtlichen Paaren einmal herumgewalzt.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 11. Leipzig 1907, S. 541] Zu einem Cotillon gehörten meist auch Spieleinlagen mit entsprechenden Requisiten. hatten ein Herr u ich um eine DameEmma Elisabeth Utzinger aus Bülach, die spätere Ehefrau von Georg Gladbach (siehe unten). zu würfeln mit einem Fußgroßen Würfel. | Die Dame war begehrenswerth. Der Herr warf 3, ich auch 3. Der Herr warf noch einmal – sechs; ich glaubte aber zu bemerken, daß er einen Kunstgriff gebraucht habe u machte es ebenso, warf auch 6. Nun wurde er böse, ich rechtfertigte mich und wir wären wohl zu keinem Resultat gekommen oder zu einem schlagenden, wenn nicht der maitre de plaisirmaître de plaisir (frz.), der Leiter des Unterhaltungsprogramms einer Veranstaltung; Identität nicht ermittelt. die Sache arrangirt hätte zu beider Zufriedenheit. Ich hatte nach einigen Tänzen das recontre(frz.) Zusammentreffen, Begegnung. beinahe vergessen, als der Herr wieder auf mich zukam mit der Frage, ob ich nicht h/s/o u so Wedekind hieße. „Jawohl“ ‒ | „Dann sind wir ja Vettern! ‒ Sind sie aus Darmstadt?“ Das konnte ich nun freilich nicht bejahen. Es gab eine Erklärung, kurz, die Verwandtschaft war etwas sehr weit aber wurde festgehalten. Sein Onkel sei der Dr. iur. v. WedekindDr. Georg Freiherr von Wedekind war auch der Onkel von Wedekinds Cousine Minna von Greyerz, der Bruder ihrer Mutter Sophie Wilhelmine Margarethe von Wedekind. in Darmstadt u er selber der Sohneiner der vier Söhne des Architekten und Professors am Polytechnikum Ernst Gladbach, vermutlich der Kaufmann Georg Gladbach, der auch nach seiner Heirat am 3.1.1890 mit seiner Familie im Haus des Vaters wohnte (Zürichbergstraße 139) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1890, Teil I, S. 111]. des Prof. Gladbach hier, BruderPhilipp Gladbach war zwischen 1869 und 1898 Lehrer für Geometrie, Bauzeichnen und Mathematik an der Kantonsschule Aarau und ein Halbbruder Georg Gladbachs, Sohn aus Ernst Gladbachs erster Ehe mit Henriette Aull aus Mainz. Armin und Frank Wedekind dürften ihn aus ihrer Schulzeit als Lehrer gekannt haben. von Philipp Gl. in Aarau. An diese Erklärung schloß sich einSchreibversehen, statt: eine. Einladung in sein väterliches HausErnst Gladbach wohnte in der Zürichbergstraße 139 im Zürcher Vorort Fluntern [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1886, Teil I, S. 105]., der ich dann gestern gefolgt bin.

Und was für prächtige Leute fand ich da. Die Mutter, eine wunderschöne alte Dame mit ganz weißem Haar, aber großen leb|haften Augen. Sie ist aus der GegendGeorg Gladbachs Mutter Auguste Gladbach (geb. Buck) stammte aus Wilpoldsried, einer Ortschaft 10 Kilometer östlich vom Kempten. Sie war seit 1840 die zweite Ehefrau von Ernst Gladbach. von Kempten gebürtig und spricht auch das/ie/ unverfälschte bayrische Mundart. Dann aber der alte Herr; groß, mit weißem Bart, eine lange Pfeife im Mund, den Schlafrock an, aber in seinem Wesen kein anderer als der Philipp von Aarau. Er selber ist schon ein SiebzigerErnst Gladbach war 73 Jahre alt., wenn er aber von seinem Vater u Großvater erzählt dann reicht das so ungefähr in die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück. Sein Vater zB. war mit Danton u Robespierre SchmollisStudentensprache: nach gemeinsamem Trinken mit jemandem per du sein. u. s. w. Du kannst Dir denken, was das für herrliche Stunden waren, die ich | da verlebte. Dabei fehlte auch Jugend u Anmuth nicht, denn die gleiche Dame, vor deren Augen das Schicksal mich in diese Gesellschaft hineingewürfelt hatte war anwesend u wie ich jetzt merken konnte so eine Art Braut vom jungen Gladbach. Denn der Alte verschwatzte sich mal ganz gehörig, indem er eine Geschichte anfing mit den Worten;: mein Onkelder Architekt und Hofbaudirektor des Großherzogtums Hessen-Darmstadt Georg Moller. besuchte ein Frl. X., auch so eine Geliebte da u da ...

Der alte Prof. verließ uns von Zeit zu Zeit indem er sagte, daß die Aufregung ihn ganz todt mache. Ich besah | dann seinSchreibversehen, statt: seine. Skizzen, wunderbar schöne, große Aquarelle auf denen man sofort den Architecten erkennt, aber ebensosehr den schaffenden Künstler bewundern muß, so hübsch u harmonisch ist die exacte Zeichnung mit künstlerischer Behandlung in Ton u Farbe vereinigt. Namentlich ein herrliches, großes Bild von Palermo hat mich ganz begeistert.

Als die Dämmerung herankam holten die beiden Damen ihre Zithern. Alle hatten sich in dem kleinen Eßzimmer, wo wir 6 Personen, um den Tisch gerade Platz hatten versammelt. So hörten | wir auf die bescheidenen u doch so tief gemüthvollen wehmütigen Weisen, bis auf einmal die Fastnachtsfeuerdie am sogenannten Funkensonntag, dem Sonntag nach Aschermittwoch, in Zürich und Umgebung traditionellerweise entzündeten großen Holzstapel. zu den Fenstern herein leuchteten und ich merkte, daß es wohl an der Zeit wäre heim zu kehren. Es war beinahe eine wehmütige Stimmung über uns gekommen. Hatte ich doch einen so tiefen Blick in das Familienleben gethan, daß es mir vorkam als hätte ich einen ganzen Roman in wenigen Stunden selbst durchlebt. Wie sehr ich meinem neuen Freunde für diesen edle Rache dankte, kannst Du Dir selber ausmalen. Daß es nicht das letzte Mal gewesen ist, daß ich das hübsche Haus am Zürichberg aufgesucht ist auch sicher. Nun leb aber wohl u schreibe recht bald auch von Dir etwas.


[um 90 Grad gedreht über den Brieftext geschrieben:]


Mit herzlichem Gruß Dein
treuer Frater(lat.) Bruder.
Armin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 12,5 x 20,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Fluntern
    15. März 1886 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Fluntern
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 303
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Armin (Hami) Wedekind an Frank Wedekind, 15.3.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

31.10.2024 16:28