T. W.
Mittwoch,
8.VII.14.
Mein innigst geliebter Frank,
heute habe ich keine Nachricht von Dir erhalten, aber Du wirst ja auch nicht soviel Zeit zum Schreiben haben.
Hoffentlich ist nichts Anderes der Grund, und bekomme ich morgen einen
Brief. Heute Vormittag habe ich Einiges besorgt, Nachmittags las ich, bis um 5
Uhrum 17 Uhr. Dr. RommelDr. Otto Rommel, „Spezialarzt“ für Kinderkrankheiten und „leitender Arzt“ des „Säuglingheims München“ [Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 572], der Kadidja Wedekind impfte. kam u. die Kleine impfte. Sie war sehr brav, weinte gar nicht u. war die ganze Sache in ein paar Minuten
vorüber. Nun muss man halt achtgeben, hoffentlich geht es ohne Störung vorbei.
Nächste Woche wird Dr. Rommel nochmal nach|sehen. Bis zum Abheilen dauert es
doch 10 – 14 Tage, könnte ich also vorläufig auf keinen Fall zu meinen Eltern.
Vielleicht können wir sie nach unserm Gastspiel hierder Wedekind-Zyklus an den Münchner Kammerspielen, der am 25.7.1914 begann und kriegsbedingt am 31.7.1914 vorzeitig abgebrochen wurde., besuchen. Vor dem
Abendessen tanzte ich noch eine Stunde u. jetzt bin ich so müde, dass ich am Liebsten
gleich zu Bett gienge.
Hier schicke ich Dir die Ausschnittewie angekündigt Zeitungsauschnitte über das Aufführungsverbot von „Simson“ in München [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 7.7.1914], darunter ein Bericht der „Münchner Neuesten Nachrichten“ [vgl. Wedekinds „Simson“ und die Zensur. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 344, 8.7.1914, Vorabendblatt, S. 2-3].. Den aus den „Neuesten“
hab’ ich von unsrer HausmeisterinChristine Schreier (Dachauerstraße 135), ausgewiesen als „Hausmeisterin“ [Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 640], die als solche Frank und Tilly Wedekinds Münchner Wohnung in der Prinzregentenstraße 50 nachweislich betreute (siehe die Korrespondenz Tilly Wedekinds mit ihrem Mann seit dem 18.6.1912).. Hoffentlich regst Du Dich nicht zu sehr auf
über das Verbot.
Vom Künstlertheater (Dumont-Lindemann) erhielten wir heute
eine offene Postkartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Louise Dumont und Gustav Lindemann an Frank und Tilly Wedekind, 7.7.1914. ‒ Louise Dumont und Gustav Lindemann leiteten das Düsseldorfer Schauspielhaus und gastierten gerade mit ihrem Ensemble an dem von ihnen den Sommer über gepachteten Münchner Künstlertheater. die ich las. Sie kündigten Dir den Besuch ihres
RegisseursFritz Holl, Regisseur und Schauspieler an Schauspielhaus Düsseldorf unter der Direktion von Louise Dumont-Lindemann und Gustav Lindemann [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1915, S. 391f.]. an. Ich telephonierte, dass Du verreist seist. Da der Regis|seur
aber aus Starnberg herein kam, konnten sie ihn nicht rechtzeitig verständigen
u. er kam doch. Als er hörte Du seist nicht hier, fragte er, ob er mich nicht sprechen
könne. Ich empfing ihn u. er fr/s/agte, er
käme hauptsächlich um zu fragen, weshalb sich der AbschlussErhalten ist ein in „München“ aufgesetzter, auf „Juli 1914“ datierter Vertrag, in dem Frank und Tilly Wedekind sich verpflichten, in der Zeit vom 1. bis 10.9.1914 und 12. bis 19.9.1914 „am Düsseldorfer Schauspielhaus im Rahmen des Ensembles des Düsseldorfer Schauspielhauses zu gastieren. Zur Aufführung sind vorgesehen: ‚Erdgeist‘ ‚Marquis v. Keith‘ sowie ‚Stein der Weisen‘ zusammen mit ‚Kammersänger‘ Herr und Frau Wedekind spielen in jedem dieser Werke jeweils die beiden Hauptrollen.“ [Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf, Dumont-Lindemann-Archiv, SHD 8008-2] Der Vertrag ist allerdings nicht unterschrieben. Das in Aussicht genommene Gastspiel am Schauspielhaus Düsseldorf fand nicht statt. verzögere. Ich
sagte, ich wisse nicht ob Du für September überhaupt abschließen willst u. dann
hättest Du vor Allem wegen der Besetzung Bedenken gehabt, da das Schauspielhaus
doch hier gastieren. Er bat D/m/ich Dir mitzutheilen, dass es
genau so besetzt würde wie zu anderer Zeit auch,
2. Besetzung gebe es bei ihnen nicht, das dürften sie auch schon wegen ihres Düsseldorfer
Publikum’s nicht tun. Allerdings habe er „Marquis v. Keith“ bei nochmaligem
Lesen als zu schwierig erkannt u. | wollte er Dir vorschlagen zu „Erdgeist“
eventuell „Stein der Weisen“ u. „Kammersänger“ zu geben, da das in Berlin doch
einen so großen ErfolgIm Rahmen des Wedekind-Zyklus an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin vom 31.5.1914 bis 14.6.1914 wurden das Versdrama „Der Stein der Weisen“ und der Einakter „Der Kammersänger“ am 9.6.1914 an einem Abend gespielt, wie Wedekind notierte: „Berliner Premiere von Stein der Weisen [...] Kammersängervorstellung“ [Tb]. Die Doppelvorstellung wurde von der Kritik gewürdigt: „Das Gastspiel des Dichters, Regisseurs und Schauspielers Frank Wedekind [...] brachte gestern neben dem neuen, burgtheaterfähig gewordenen ‚Kammersänger‘ den noch unbekannten ‚Stein der Weisen‘. Der ‚Kammersänger‘ [...] bereitet immer noch ein prickelndes Vergnügen. Für die ernsthafte Zusammensetzung des Publikums ist es indessen ein charakteristischer Beweis, daß der ‚Stein der Weisen‘ einen viel stärkeren Beifall fand. [...] Dem Unvorbereiteten kann diese ‚Geisterbeschwörung‘ [...] nicht viel bedeuten. Für den Wedekind-Kenner und -Studenten ist sie als Beitrag zu ihm von großem Wert.“ [Fritz Engel: Wedekind-Gastspiel. In Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 288, 10.6.1914, Morgen-Ausgabe, S. (2)] „Das Publikum bezeugte dem Dichter seine Achtung mit einer über das gewohnte Maß hinausgehenden Wärme, die nach den bekannten, den Abend beschließenden ‚Kammersänger‘-Szenen noch um einige Grade zunahm.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Jg. 59, Nr. 265, 10.6.1914, Morgen-Ausgabe, S. 7] gehabt habe. Ich sagte ich würde Dir das schreiben,
ausserdem kommst Du vorauss. nächste Woche zurück u. würdest dann schon das Weitere
veranlassen. Der Regisseur hätte die Sache in Düsseldorf zu leiten u. die Vorproben
zu halten, von denen er ungefähr 10 für jedes Stück in Aussicht stellte.
Ich lege Dir die Karten beinicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Fritz Holl an Wedekind, 8.7.1914 (wohl eine Visitenkarte, die der Regisseur des Düsseldorfer Schauspielhauses bei seinem Besuch bei Tilly Wedekind hinterlassen haben dürfte) – sowie die genannte Postkarte (siehe oben) von Louise Dumont und Gustav Lindemann an Frank und Tilly Wedekind., Du kannst Dir es ja dann
überlegen. Jedenfalls machte das Ensemble im „Sturm“ einen sehr schlechten
EindruckTilly Wedekind besuchte am 2.7.1914 im Münchner Künstlertheater die Eröffnungsveranstaltung zum Auftakt des Sommergastspiels des Düsseldorfer Schauspielhauses, bei der Shakespeares Schauspiel „Der Sturm“ gezeigt wurde; die Inszenierung hat ihr nicht gefallen [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 2.7.1914]., alle Vorstellungen die wir früher sahen waren besser.
Eben erhalte ich Dein Telegramm:Es folgt ein Zitat der telegrafierten Mitteilung [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 8.7.1914 (Telegramm)]. zweiten BriefWedekind schrieb unter dem Datum des 8.7.1914 einen ersten Brief (Uhrzeit im Poststempel Paris auf dem Kuvert: 12 Uhr), sandte dann das genannte Telegramm (um 16.49 Uhr in Paris aufgegeben, um 20 Uhr in München eingetroffen), in dem er auf den zweiten Brief verwies, den er am 8.7.1914 schrieb (Uhrzeit im Poststempel Paris auf dem Kuvert: 18.30 Uhr). abwarten gruß,
Frank. Oh Gott was ist das nun wieder, nun soll ich die ganze Nacht warten bis
diese Briefe kommen! Diese Aufregungen halte ich nicht mehr lange aus, meine
Gesundheit ist schon sehr angegriffen.
[am linken Rand, um 90
Grad gedreht:]
In treuer Liebe, Deine Tilly