[1. Briefentwurf:]
An die tit. geehrte Redaktion des Berliner
Tageblattes
Sehr geehrter HerrTheodor Wolff – auf dem Titelblatt vermerkt: „Chef-Redakteur: Theodor Wolff in Berlin.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (1)] Der Chefredakteur dürfte der Adressat gewesen sein – nicht Fritz Engel, Feuilletonredakteur des „Berliner Tageblatt“, auf dessen Besprechung der Berliner Premiere von „Musik“ Wedekind sich im vorliegenden Brief zwar bezieht, ohne ihn aber dezidiert als Rezensenten anzusprechen.
in seiner Besprechung vom 1 November 1908Fritz Engel besprach unter Verfassersigle [vgl. F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] die Premiere von Wedekinds „Musik“ am 31.10.1908 im Kleinen Theater in Berlin (Direktion: Victor Barnowsky) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 289] unter der Regie von Victor Barnowsky [vgl. KSA 6, S. 802]. wirfSchreibversehen, statt: wirft. mir das
Berliner Tageblatt mein Drama SittengemähldeGattungsbezeichnung im Untertitel der Erstausgabe von Wedekinds Stück: „Musik. Sittengemälde in vier Bildern“ (1907, vordatiert auf 1908).
„Musik“ vor die FüßeZitat aus Fritz Engels Besprechung, in der es über „Musik“ heißt: „Es ist ein schlechtes Stück […]. Nein, Herr Frank Wedekind! Wer in Ihnen einen der originalsten Köpfe unserer Zeit, einen Schrittmacher neuer Anschauungen, einen Gestalter kühner Probleme, mit einem Worte den Dichter von ‚Frühlingserwachen‘ sieht, gerade wer Sie größer sieht als die anderen, muß Ihnen dieses Stück und Stücke wie jenes ‚Oaha‘ vor die Füße werfen. Annahme verweigert.“ [F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] Wedekind hat die Formulierung in einer „BT“ überschriebenen Notiz aufgegriffen: „Vor die Füße werfen = eine lausbubenhafte Unverschämtheit.“ [Nb 56, Blatt 65r] Gleich darunter notierte er: „Die Fälschung und Vergiftung der Öffentlichen Meinung.“ [Nb 56, Blatt 65r] In einer anderen „BT“ überschriebenen Notiz [Nb 58, Blatt 65r] aus den „Varianten und Paralipomena“ zur Vorrede von „Oaha“ notierte Wedekind unter anderem das Stichwort: „Ein Stück vor die Füße werfen“ [KSA 5/III, S. 596]. und behauptet, dabei umgekehrt zu verfahren als wie es mit
meiner Kindertragödie Frlgs Erw. verfahren ist. Das ist unrichtig. Mein Drama Frlgs Erw. wurde
vom Berliner Tageblatt 15 Jahre lang totgeschwiegenWedekind wiederholte diesen Vorwurf [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 4.11.1908], als er im „Berliner Tageblatt“ im Kommentar zu seinem offenen Brief nicht nur las, sein Brief sei „in tiefem Groll“ verfasst ein Ausdruck von „Riesenkatzenjammer“ eines „durchgefallenen Autors“, sondern auch, dem „schönen ‚Frühlingserwachen‘“ sei „in unserem Blatte die wärmste Anerkennung gezollt worden“ [F.E.: Frank Wedekind zürnt. In: Berliner Tageblatt, Berlin, Jg. 37, Nr. 562, 3.11.1908, Abend-Ausgabe, S. (2-3)]. Anerkennung hat „Frühlings Erwachen“ im „Berliner Tageblatt“ erst ab 1906 seit der erfolgreichen Uraufführung gefunden, die Monty Jacobs rezensierte [vgl. Monty Jacobs: „Frühlings Erwachen.“ Zur Aufführung in den Kammerspielen. In: Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 596, 23.11.1906, Abend-Ausgabe, S. (1-2)], die Erstausgabe von 1891 oder spätere Ausgaben des Stücks wurden im „Berliner Tageblatt“ nicht rezensiert.. Eine literarische Arbeit 15
Jahrevon 1891 bis 1906; „Frühlings Erwachen“ (1891) wurde 1906 von Max Reinhard in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin mit großem Erfolg inszeniert und hatte seitdem breite Anerkennung auch bei der Kritik gefunden. lang totzuschweigen ist aber jedenfalls MindestensSchreibversehen, statt: mindestens. ebensowenig
liebenswürdig als wie sie dem Verfasser zwei
Jahre nach ihrem Erscheinen vor die Füße zu werfen. Nun könnte das B.T.
einwenden, daß es sich mit dramatischen Arbeiten nicht eher beschäftigt als bis
sie auf der Bühne erschienen sind. Das Das wäre aber wiederum unrichtig.
Denn in der Besprechung über Musik schimpftFritz Engel hat „Oaha“ nur an einer Stelle erwähnt, als er schrieb, man müsse Wedekind „Stücke wie jenes ‚Oaha‘ vor die Füße werfen.“ [F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] das B.T. schon in den stärksten Ausdrücken
über mein Stück Oaha das noch gar nicht gespielt wurde und in den nächsten
Jahren voraussichtlich auch nicht gespielt werden wird. In seiner blinden Wuth |
unterschlägt das B.T. seinen Lesern vollständig die AufnahmeDie Theaterkritik äußerte sich über das in Berlin inszenierte Stück „Musik“ überwiegend ablehnend [vgl. KSA 6, S. 803-806]. die mein Stück
Musik beim Publikum gefunden hat. Diese Thatsachen zusammengenommen drängen mir
die Frage auf ob sich ein Schriftsteller in Deutschland nicht vielleicht auch
trotz des Berliner Tageblattes, in vollkommenem Gegensatze zum B. Tageblatt
entwickeln kann, eine Frage, die mir wichtig genug scheint, um mit Ernst und
Gründlichkeit erwogen zu werden. Gegen
eine entstellte wahrheitswidrige oder gekürzte Wiedergabe
dieser wenigen Zeilen bin ich bereit mich nachdrücklich zu verwahren.
Hochachtungsvoll ergebenst
FrW.
[2. Druck im „Berliner
Tageblatt“:]
Sehr geehrter Herr!
In seiner Besprechung vom 1. November 1908 wirft mir das
„Berliner Tageblatt“ mein Sittengemälde „Musik“ vor die Füße und behauptet,
dabei umgekehrt zu verfahren, als wie es mit meiner Kindertragödie
„Frühlingserwachen“ verfahren ist. Das ist unrichtig. Mein Drama „Frühlingserwachen“
wurde vom „Berliner Tageblatt“ fünfzehn Jahre lang totgeschwiegen. Eine
literarische Arbeit fünfzehn Jahre lang totzuschweigen, ist aber jedenfalls
mindestens ebensowenig liebenswürdig, als wie sie dem Verfasser zwei Jahre nach
ihrem Erscheinen vor die Füße zu werfen. Nun könnte das „Berliner Tageblatt“
einwenden, daß es sich mit dramatischen Arbeiten nicht eher befaßt, als bis sie
auf der Bühne erschienen sind. Das wäre aber wiederum unrichtig. Denn in der
Besprechung über „Musik“ urteilt das „Berliner Tageblatt“ schon in den
schärfsten Ausdrücken über mein Stück „Oaha“, das noch gar nicht gespielt wurde
und in den nächsten Jahren voraussichtlich auch nicht gespielt werden wird.
In seiner blinden Wut unterschlägt das „Berliner Tageblatt“ seinen
Lesern überdies vollständig die Aufnahme, die mein Stück „Musik“ beim Publikum
gefunden hat. Diese Tatsachen zusammen genommen drängen mir die Frage auf, ob
sich ein Schriftsteller in Deutschland nicht vielleicht auch trotz des
„Berliner Tageblattes“ in vollkommenem Gegensatz zum „Berliner Tageblatt“,
entwickeln kann, eine Frage, die mir wichtig genug scheint, um mit Ernst und
Gründlichkeit erwogen zu werden. Gegen entstellte oder gekürzte Wiedergabe
dieser wenigen Zeilen bin ich bereit, mich ausdrücklich zu verwahren.
Hochachtungsvoll
ergebenst
Frank Wedekind.