Hochverehrter Herr WolffTheodor Wolff, Chefredakteur des „Berliner Tageblatt“ [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1914, Teil II, Sp. 1990].!
Wollen Sie mir erlauben, Ihnen meinen herzlichen
Dank für den schönen AufsatzDer Wedekind entzückende Leitartikel des aus dem Urlaub zurückgekehrten Chefredakteurs, der die reaktionäre Pressekritik an der Berichterstattung über das Turnfest in Leipzig (13. bis 15.7.1913) durch den Korrespondenten seiner Zeitung als überzogen zurückweist, lautet: „Wenn man. wie der Schreiber dieser Zeilen, nach vier Einsamkeitswochen ein verregnetes Bergdorf verlassen hat und wieder die Stätten der deutschen Kultur betritt macht es Vergnügen, gleich in guter Auslese einige der alten vertrauten Erscheinungen, die hier das Leben schmücken bei einander zu sehen. Eine Angelegenheit, die mancher vielleicht nicht beachtet hat, hat die schönsten dieser Erscheinungen wieder ans Licht gebracht, und darum dürfen wohl noch ein paar Worte über einen Vorfall gesagt werden, der einen ausgezeichneten Anlaß zur Betrachtung der verschiedensten dummen und niedrigen Instinkte gibt. Der Leipziger Korrespondent dieses Blattes hat sich in einer ‒ stellenweise enthusiastischen ‒ Schilderung des Leipziger Turnfestes ein paar Bemerkungen über die Baumwollhemden, die Kragenlosigkeit und andere äußere Merkmale der Turner und Turnerinnen erlaubt, und da die Turner mit gutem Recht darüber verstimmt sein konnten, wurden jene Bemerkungen auch hier in aller Form für unpassend erklärt. War der Bericht, als Ganzes angesehen, eine Herabsetzung oder gar eine Verspottung des Leipziger Festes und der Turnerei? Der Verfasser erzählte im Gegenteil, wie er bald die kleinen Aeußerlichkeiten vergessen habe und durch die prachtvollen Leistungen der Turner und die Schönheit des Bildes hingerissen, begeistert, überwältigt worden sei. Sehr farbig und mit nicht alltäglichem Gestaltungstalent schilderte er das ungeheure Stadion, dieses ‚von Menschen nach nie geschaute Schauspiel‘, das neben ihm ein großer Künstler in starrem Entzücken genoß: ‚Wohin sich immer die Augen lenkten, gewahrte man schnurgerade Linien, senkrechte und diagonale, die in der Ferne immer dünner wurden und verschwammen; ... und nicht ein einziger klappte mit einer Bewegung nach, nicht ein einziger verdarb die Richtung der Reihen, so daß man nie einen Einzelnen, sondern nur immer dies bewegte Ganze sah.‘ Aber die bewundernden Worte scheinen ganz unbeachtet geblieben zu sein, und nur die unerlaubten Glossen wurden hervorgezerrt. Und man kämpfte und kämpft um das Wollhemd. als wäre es das goldene Vließ, und erhitzt sich, als gelte es nicht den Kragen, sondern den Kopf. / Wie das kam? Jene Presse, der ein überall hindringendes Blatt, wie jeder gern begreifen wird, unbequem ist, und der ganze antisemitisch-nationalistische Janhagel druckten mit tiefempfundener Entrüstung und grandiosem Begleitgeheul das, was ihnen verwertbar schien, ab, und hatten für das andere, Rühmende und Begeisterte, leider keinen Platz. An der Spitze der Leipziger Presse marschieren mit flammendem Patriotenzorn jene alldeutschen ‚Leipziger Neuesten Nachrichten‘, deren leitender Liman, ein Journalist mit doppeltem Boden, in einem bekannten Sensationsprozesse knieschlotternd alles verleugnete, was er kurz vorher gesagt, im Feuilleton der ‚Deutschen Tageszeitung‘ führt ein bedauernswerter Mann, dessen Kräfte unter der Last des täglich herbeigeschleppten Unrates bald erlahmen müssen, den heiligen Krieg, die ‚Tägliche Rundschau‘ des Herrn Rippler und die ‚Kreuzzeitung‘ schleudern mächtige Speere, und die kleineren Käseblättchen von Erfurt bis nach Treptow an der Rega bellen wildwütig mit. In der ‚Kölnischen Zeitung‘, die im Rheinland unter komplizierten Bedingungen ihre Gemeinde zu vergrößern sucht, versichert ein Feuilletonist zu herabgesetzten Preisen, der Leipziger Verbrecher habe diejenigen Turner, die ‚noch nie in das Telephon gesprochen‘, gering geschätzt, und das ist eine absichtliche Entstellung der Tatsachen. denn der Berichterstatter hat gerade im Gegenteil dargelegt, daß die voigtländischen Landbewohner und ähnliche Turner, wenn sie auch nicht telephonieren und nicht ins Theater gehen, sich an diesen drei Festtagen stolz und groß fühlen durften ‒ ‚verbunden mit aller Welt als freie Weltbürger und Unterstützer der nationalen Wohlfahrt‘, wie es sehr schön und sehr patriotisch in dem Artikel hieß. Jeder, der die Motive kennt, hinter die Masken sieht und immer wieder durch das alles hindurchwatet, hat ja kaum noch ein Achselzucken dafür übrig und nimmt den Spektakel nicht ernst. Aber im Zunftinteresse wünscht man doch, daß ein gewisser Teil des Journalismus wenigstens das Lügen verlernen möchte, wenn er auch das Schreiben nicht lernt. / Der Vorsitzende der Deutschen Turnerschaft hat sich über den Leipziger Bericht beschwert, und ohne zu markten, hat man hier, um auch die leiseste Kränkung ehrenwerter Männer fortzuwaschen, alles, was er begehren konnte, getan. Aber neben den profitsuchenden Blättern und Blättchen haben dann auch noch andere Leute sich eingemischt, Leipziger Gastwirte haben ‚mannhaft‘ in dem Bericht eine ‚Verächtlichmachung der Stadt und der gesamten Leipziger Bürgerschaft‘ gesehen ‒ was, da die Stadt und die Bürgerschaft überhaupt nicht erwähnt wurden, eine mannhafte Unwahrheit ist ‒ sogenannte Leipziger Freisinnige, denen man die Hosen recht fest zubinden sollte, haben ihr demütiges Sprüchlein aufgesagt und schließlich ist es in einem Leipziger Schwimmbade sogar zu einer Prügelei gekommen, wobei, wie die ‚Deutsche Tageszeitung‘ und die ‚Kreuz-Zeitung‘ versichern, der Verfasser des Berichtes Schläge erhalten hat. Ob das den Tatsachen entspricht, ist uns nicht bekannt, aber wenn zwanzig gegen einen standen, können sogar Männer vom Mute des Herrn Liman und seiner Mitredakteure mit dabei gewesen sein. Und nun vergleiche man dieses Geschrei über einen Bericht, in dem Aeußerlichkeiten gewiß ungerecht bespöttelt, aber der Geist und die Leistungen der Turner warm gefeiert worden und nicht, wie etwa im konservativen ‚Reichsboten‘, die moralischen Eigenschaften dieser Männer herabgesetzt worden sind, mit jener anderen ‚Campagne‘, die man vor einem Monat in diesen Landen sah. Damals bewarfen dieselben Blätter und Helden, die heute das gewiß respektable Wollhemd tüchtiger Turner mit ihren rächenden Kriegsrufen umgeben, einen deutschen Dichter mit allem auffindbaren Schmutz. Die bloße Erwähnung zeigt, wohin man unter der Pöbelherrschaft nationalistischer Schreier gelangen muß. / Von den hunderttausend Turnern haben gewiß kaum tausend den in vielen Punkten vortrefflichen Bericht gelesen, die allermeisten haben nur die hübsch hergerichteten ‚Auszüge‘ kennen gelernt, aber ihre Klage schien doch nicht unbegründet, und darum haben sie die Satisfaktion erhalten, die ihnen gebührt. Den Zaungästen, die sich nicht zufrieden geben wollen, deren Geschäftssinn etwas zu verdienen ober deren Neidseele sich zu laben hofft, alles ihnen Gebührende zu verabreichen, verbietet die Höflichkeit. Sollten sie der Meinung sein, mit den üblichen Mitteln ihrer geistigen Schatzkammer, und zum Beispiel mit den Lieblingsworten ‚undeutsch‘ und ‚antinational‘ irgendeinen Eindruck zu machen, so gingen sie vollkommen fehl, denn jeder anständige Mensch wird auf diejenigen, die aus politischen oder geschäftlichen Gründen ihm sein Vaterlandsgefühl absprechen, immer nur mit herzlicher Verachtung, wie auf die Träger einer recht lumpigen Gesinnung, hinuntersehen. Wenn sie sich schwitzend ereifern wollen, so ist ihnen das gern gegönnt. Es ist ihnen gestattet, uns jene turnerische Bewegung auszuführen, die man mit einem etwas derben technischen Ausdruck ‚den Buckel runterrutschen‘ nennt.“ [T.W.: Die Schlacht bei Leipzig. In: Berliner Tageblatt, Jg. 42, Nr. 377, 28.7.1913, Montags-Ausgabe, S. (1)] auszusprechen: Die Schlacht bei Leipzig. Seit bald
vierzehn Tagen liegt es mir schwer auf der Seele, daß ein so durchaus
vornehmer, ruhiger, in jedem Sinn gebildeter junger Mann wie Dr. Kurt PinthusDr. phil. Kurt Pinthus (1910 in Leipzig promoviert), Korrespondent des „Berliner Tageblatt“ in Leipzig [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1914, Teil II, Sp. 1335f.]; seine hier zur Debatte stehenden Artikel (siehe unten) waren teils namentlich („Dr. Kurt Pinthus, Leipzig“), teils mit Verfassersigle („K.P.“) gezeichnet und mit entsprechendem Hinweis („Von unserem Korrespondenten“) versehen. | so furchtbar unter den Folgen einer
nachlässig hingeworfenen Arbeitdrei literarisch anspruchsvolle Artikel, wobei der dritte [vgl. K.P.: Das Fest der 100000. In: Berliner Tageblatt, Jg. 42, Nr. 354, 15.7.1913, Abend-Ausgabe, S. (4)] die rechte Presse besonders provoziert hatte, die beiden ersten kulturkritisch ambitioniert ebenfalls auf hohem Niveau geschrieben waren [vgl. K.P.: Das zwölfte deutsche Turnfest. In: Berliner Tageblatt, Jg. 42, Nr. 351, 14.7.1913, Montags-Ausgabe, S. (3); Kurt Pinthus: Leipzig im Taumel. In: Berliner Tageblatt, Jg. 42, Nr. 352, 14.7.1913, Abend-Ausgabe, S. (2)] zu leiden hat, daß er ohne etwas ehrenrühriges
gethan zu haben mit einem Schlage den Ertrag sechsjähriger Arbeit verlieren
soll. Es läßt sich wohl kaum leugnen, daß Dr.
Pinthus durch diesen Streit der Öffentlichkeit als das Gegentheil von dem
erscheinen muß, was er in Wirklichkeit ist. Sollte sein Ansehn in Leipzig
vernichtet sein, so hätte das meines Erachtens die deutsche Literatur schwer | zu
beklagen, da er seit Jahren in Leipzig in unerschrockenster Weise für alles
eintrat, was sich literarisch hervortat. Deshalb war mir Ihr schöner Aufsatz
eine Art von Erlösung, da daraus hervorgeht, daß das B.T. Dr. Pinthus für seinen Fehler nicht schwerer büßen lassenDie Redaktion hatte in Abwesenheit des Chefredakteurs folgende Mitteilung veröffentlicht: „Infolge eines technischen Versehens wurde in der Abendausgabe des 15. Juli eine Korrespondenz über das Leipziger Turnfest in einer Form veröffentlicht, in der die Korrekturen und Streichungen der Redaktion nicht berücksichtigt waren. Auf diese Weise wurden die Gefühle der Turnerschaft und aller derjenigen, die zu dem ausgezeichneten Gelingen des Festes beigetragen hatten, verletzt. Wir nehmen keinen Anstand, festzustellen, daß unsere Anschauungen über die Bedeutung dieses Festes sich keineswegs mit denen jener Korrespondenz decken und daß wir den berechtigten Ansprüchen der Turnerschaft auf rückhaltlose Anerkennung gern Rechnung getragen hätten.“ [Zum Leipziger Turnfest. In: Berliner Tageblatt, Jg. 42, Nr. 360, 18.7.1913, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)] Die Redaktion veröffentlichte danach aber noch einen Beitrag, der sich inhaltlich wieder mit dem Kollegen in Leipzig solidarisierte [vgl. Das Leipziger Turnfest in konservativer Beleuchtung. In: Berliner Tageblatt, Jg. 42, Nr. 370, 24.7.1913, Morgen-Ausgabe, S. (2)]. will
als es unumgänglich geboten ist. Haben sie also nochmals herzlichen Dank.
In größter Hochschätzung
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 29. Juli 1913.