T. W.
7.
Mai.15.
Mein lieber, guter, teurer, einziggeliebter Frank,
könnte ich Dir doch mit den zärtlichsten Namen alles sagen, was ich für Dich empfinde! Ich muss an Dich
schreiben, denn ich kann doch an nichts anderes denken. Als ich eben am Heimwegvon der Klinik, wo ihr Mann lag, zur Wohnung in der Prinzregentenstraße 50. Wedekind lag seit dem 14.4.1915 in der Privatheilanstalt Josephinum (Schönfeldstraße 16) [vgl. Adressbuch für München 1915, Teil I, S. 310], wo er am 15.4.1915 zum zweiten Mal operiert worden ist (die erste Blinddarmoperation war am 29.12.1914); er blieb dort bis zum 9.6.1915: „Aus der Heilanstalt Josephinum entlassen, fahre mit Tilly nach Haus.“ [Tb]
alles überdachte was Du gesagt hast, da wurde mir sehr schwer u. bang um’s
Herz! Wie kannst Du nur so hoffnungslos sein, als ob es mit Dir schlimm stände.
Das würdest Du zuerst mir anmerken, denn ich könnte es nicht vor Dir verbergen.
Es ist freilich eine schreckliche Zumutung an Deine Geduld nun noch eine
Zeitlang zu|warten zu müssen, bis Du ganz gesund bist. Aber Du wirst gesund
Frank, Lieber, Geliebter, Einziger!
Und Du wirst mir dann einen Fußtritt geben, ich weiß es u. doch
ersehne ich es, dass Du endlich wieder Herr Deiner Kräfte bist. Es tut mir so
furchtbar weh, Dich leiden zu sehen. Auf den Knieen Frank bitte ich Dir ab,
womit ich Dich in meiner Dummheit u. Gedankenlosigkeit gekränkt haben sollte. Wenn
ich wirklich mit Schuld trage an dem was Du auszustehen hast, dann verdiente
ich, dass man mir einen Stein um den Hals bindet u. mich im Meer versenkt wo es
am tiefsten ist. Dann verdiente ich, dass mir meine | beiden, lieben Kinder
genommen würden,. d/D/ass ich an den Straßenecken stehen u. betteln
müsste.
Dein Bild steht vor mir, Du stehst aufrecht hinter dem Tisch, u. Du siehst mich vorwurfsvoll an. Immer wenn ich es
ansehe, sehe ich den Vorwurf in Deinen Augen.
Warum willst Du nicht, dass ich länger bei Dir bin? Wie ich Dich
pflegen, Dir vorlesenWedekind notierte am 6.5.1915: „Tilly liest mir bis zum Verlassen der Klinik vor: Onkel Benjamin. Aus Alt-Ischl Euripides Iphigenie in Tauris Göthe Iphigenie in Tauris Schiller: Briefe über Don Carlos Rezension über Egmont.“ [Tb] Im Tagebuch finden sich krankheitsbedingt vom 16.4.1915 bis 1.5.1915, vom 7. bis 23.5.1915, vom 25.5.1915 bis 8.6.1915, vom 17.6.1915 bis 8.8.1915, vom 10. bis 15.8.1915 sowie vom 17. bis 29.8.1915 keine Einträge. durfte fand ich darin Erleichterung, bildete mir ein Dir
etwas zu helfen. Den übrigen Tag kann ich doch auch nichts tun, bin nicht fähig
irgend etwas zu tun.
Geliebter Frank, ich bin ja so schrecklich unglücklich, dass
ich so dumm u. faul u. unfähig bin, kein Mensch kann mehr unter sich leiden |
wie ich unter mir leide. Je klarer ich mir aber über mich werde, desto weniger
kann ich mich aufraffen. Solchle Menschen wie mich, müsste man
erschlagen.
Und alles was ich sagen könnte, sieht vielleicht wie eine Anklage gegen
Dich aus, u. soll doch nur Selbstanklage sein.
Ich wünsche Dir eine andere Frau u. den Kindern eine andere Mutter.
Aber Lieber, Liebster versprich mir, dass Du noch ein klein wenig
Geduld haben willst; dann wirst Du endlich gesund u. kommst wieder zu Kräften.
Und wenn es nur wäre, um mir den Fußtritt zu geben –
Ich küsse Dir Mund u. Hände!
Deine Dir ewig dankbare
Tilly