T. W.
Montag,
6.VII.14.
Innigst geliebter Frank,
von heute giebt es nicht viel zu erzählen. Vormittag hatte ich Tanzstunde, zu der jetzt immer Fräulein Huberdie Tochter des Tanzlehrers Karl Huber [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 3.7.1914].
mitkommt. Wir übten erst CzardasCzárdás (Csárdás), ungarischer Volkstanz. Wedekind schrieb 1914 ein Lied „Scardas“ [KSA 1/III, S. 210; vgl. KSA 1/IV, S. 1046-1048]. dann Bolerospanischer „Solotanz in gemäßigtem Tempo, bei dem sich der Tänzer selbst mit Gesang und Kastagnetten oder Tamburin begleitet“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 251].. Bolero ist lange nicht so anstrengend,
aber dafür complicierter, besonders die Pirouetten. (Ist es so richtig
geschrieben?) Nachmittags war ich wieder mit Anna Pamela im Schwimmbad. Ich
hielt sie nur ganz lose u. es gieng schon sehr schön. Jedenfalls ist sie sehr
mutig. Die beiden Sachen füllen den Tag eigentlich vollständig aus, denn vom
Ungerer-Bad hin u. her | ist es ziemlich weit. Auch ist das Tanzen sowohl wie
das Schwimmen ziemlich anstrengend u. ermüdend.
Heute erhielt ich übrigens auch einen Brief von meinen
Elternnicht überliefert. aus Berchtesgaden. Es gefällt ihnen sehr, sie sind sehr zufrieden u.
laden mich natürlich auch ein mit den Kindern zu kommen.
abends 11 Uhr.
Inzwischen war ich in einer „ProtestversammlungErich Mühsam hat dem Polizeispitzelbericht vom 7.7.1914 zufolge die Protestversammlung gegen die Zensur am 6.7.1914 in der Schwabinger Brauerei München (Leopoldstraße 82) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 651; Teil II, S. 375], das „damals größte Schwabinger Lokal“, das Platz „für über 700 Personen“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 257] bot, einberufen (Beginn: 20.20 Uhr, Ende: 22.45 Uhr): „Betreff: Versammlung in der Schwabinger Brauerei, Leopoldstr. 82, einberufen von Erich Mühsam. Auftragsgemäss überwachte ich [...] die in der Schwabinger Brauerei von Erich Mühsam veranstaltete Protestversammlung gegen die Theaterzensur mit dem Thema: Die Bevormundung des Geistes durch den Säbel.“ [KSA 7/II, S. 1385] gegen die Polizeizensur“
in der Schwabinger Brauerei in der Mühsam sprachIm Polizeispitzelbericht über die Protestversammlung gegen die Zensur (siehe oben) heißt es: „Erich Mühsam legt zunächst die Gründe dar, welche zur Einberufung der Protestversammlung geführt haben und betont, dass es neben andern Vorgängen ganz besonders das Verbot des ‚Simson‘ von Wedekind gewesen wäre.“ [KSA 7/II, S. 1385] Die Presse berichtete: „Erich Mühsam hatte das Referat übernommen und forderte in teilweise sehr wirksamer Rede zum nimmermüden Kampf gegen die polizeiliche Kunst- und Theaterzensur auf. Denn sie stützt sich nicht auf Gesetze, sondern ist auf dem Verordnungswege [...] langsam eingeführt worden. Auch über den Zensurbeirat, insbesondere über Herrn Geheimrat v. Possarts Beurteilung von Wedekinds ‚Simson‘, fielen scharfe Worte, die bei der Versammlung lauten demonstrativen Beifall fanden. [...] Um im Kampfe gegen die Zensur erfolgreich zu sein, genüge nicht eine Willenskundgebung, meinte der Redner, es müsse gehandelt werden. Er selbst schlug zwei Wege vor [...]. Der eine wäre, nach dem Muster der Berliner Filmfabrikanten, die wegen der hohen Zensurkosten einen Streik durchgeführt hatten, einen Streik der Theaterdirektoren zu inszenieren. Der andere Weg ist dazu angetan, die Krone zu treffen, ihre Einkünfte zu schmälern und dadurch eine Pression auszuüben, bis die Kunst- und Theaterzensur aufgehoben werde. Das Mittel hiezu sieht der Redner in einem Boykott des königl. Hofbräu Hauses, der umso leichter durchzuführen wäre, als die Münchener deshalb nicht einen Tropfen Bier entbehren müßten, da ja die anderen Brauereien mit Vergnügen Ersatzstoff liefern würden.“ [Protestversammlung gegen die Polizeizensur. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 344, 8.7.1914, Vorabendblatt, S. 4] u. zwar wieder mit Frau
Eysold. Wir hatten uns nicht verabredet, ich wusste nicht dass sie hier ist,
sie wusste nicht ob ich gehen wolle. Jenny war verabredet Fr. Dr. Pariser ist nicht
hier, so wusste ich nicht, soll ich gehen | oder nicht. Es interressierteSchreibversehen, statt: interessierte. mich
sehr, denn ich hoffte etwas über Dich zu hören. Ich fuhr mal hin um es mir
anzusehen, stand unentschlossen am Eingang u. war eben im Begriff wieder zu
gehen, als Frau Eysold kam. Nun giengen wir natürlich zusammen u. ich habe noch
nie eine so interessante Versammlung mitgemacht. Es wurde sehr viel über „Simson“
gesprochenDie Presse meldete: „Das Aufführungsverbot von Wedekinds dramatischem Gedicht ‚Simson‘ war der Anstoß zu einer stark besuchten Protestversammlung am Montag abend in der Schwabinger Brauerei.“ [Protestversammlung gegen die Polizeizensur. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 344, 8.7.1914, Vorabendblatt, S. 4] Erich Mühsam äußerte sich in seiner Rede (siehe oben) dezidiert zum „Simson“-Verbot [vgl. KSA 7/II, S. 1331f.], das auch in der Resolution (siehe unten) zentral war. u. vor Allem gegen die Zensur überhaupt. Zum Schluss wurde eine Resolution
gegen die ZensurErich Mühsam veröffentlichte die von ihm zur Abstimmung vorgelegte Resolution, die auch in der Tagespresse publik gemacht wurde [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 344, 8.7.1914, Vorabendblatt, S. 4], im Rahmen seines Artikels „Wider die Zensur!“ in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift; sie lautet: „Die am 6. Juli in der Schwabinger Brauerei tagende Versammlung beschließt folgende Kundgebung: Die polizeiliche Theaterzensur ist ein Rudiment vormärzlicher politischer Zustände. Sie bewirkt die Unterbindung einer Verständigung zwischen den geistig Schaffenden und dem Volk. Sie bedeutet eine Bevormundung des kunstfreundlichen Publikums, die die Versammlung als überflüssig, schädlich und unwürdig bezeichnen muß. Die Münchener Zensurbehörde insbesondere handhabt ihr Amt in einer Weise, die unausgesetzt Mißtrauen und Verbitterung erregt. Das Verbot des dramatischen Gedichts ‚Simson‘ von Frank Wedekind muß, nachdem das Werk in Wien und Berlin ohne Beanstandung aufgeführt worden ist, wie beabsichtigte Schikane wirken. Die Versammlung protestiert nachdrücklich gegen dieses Verbot und verurteilt gleichzeitig das Verhalten des Zensurbeirates in der Angelegenheit. Die Versammlung erwartet, daß die dem Zensurbeirat angehörenden Herren angesichts des subalternen Charakters und der Einflußlosigkeit ihrer Tätigkeit unverzüglich auf ihr Ehrenamt verzichten und sich solidarisch den gegen die Zensur gerichteten Bestrebungen ihrer Standes- und Bildungsgenossen anschließen werden. Die Versammlung hält eine starke Volksbewegung für zeitgemäß und geboten, die die völlige Abschaffung der als überlebt und kulturwidrig erwiesenen Polizeizensur zum Ziele hat.“ [Kain, Jg. 4, Nr. 4, Mitte Juli 1914, S. 57] mit großer StimmenmehrheitErich Mühsam zufolge ist die von ihm zur Abstimmung vorgelegte Resolution „mit überwältigender Majorität“ [Kain, Jg. 4, Nr. 4, Mitte Juli 1914, S. 57] angenommen worden, nämlich „mit ungefähr 4/5-Mehrheit“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 344, 8.7.1914, Vorabendblatt, S. 4]. angenommen. Es waren fast keine
Bekannten, hauptsächlich Schwabinger JugendDem Polizeispitzelbericht zufolge war die Protestversammlung gegen die Zensur (siehe oben) „von 3-400 Personen besucht. Es waren in der Mehrzahl Studenten, Damen und ein grosser Prozentsatz Kaufmannsgehilfen im Alter von 19 bis 21 Jahren.“ [KSA 7/II, S. 1386] u. ich glaube auch viele Münchner
Spießbürger. Frau Eysold sagte zu Mühsam Einiges, dassSchreibversehen, statt: das. er dann in seiner
Schlussrede zu verwerten suchte. | Ich hatte einen lichten Augenblick u. sagte
ihr, ich bewundere es, wie sie ohne selbst zu sprechen die ganze Versammlung
beeinflusst habe. Sie brachte mich im Auto nach Hause. Ich wollte nicht, dass sie
sich meinethalben bemüht, aber sie sagte sie tut es gern, weil sie mich lieb
habe. Ich sagte, dass ich leider noch nichts getan habe um das zu verdienen.
Sie sagte ungefähr, sie liebe mich eben, weil ich so sei wie ich bin. Ich
erzählte ihr, dass ich glücklich war sie zu treffen, weil ich nicht wusste ob
ich da hingehen könne oder nicht. Sie meinte, ich könne überall hingehen, sie
bewundere jedes Mal meine Haltung.
Ich fühle mich ja ihr gegenüber wie ein unmündiges Kind, freue
mich aber wirklich sehr über | ihre Herzlichkeit. Sie liebt mich ja wohl nur,
weil ich Deine Frau bin. Aber wieviel könnte ich von ihr lernen! Nur fürchte
ich, dass sie wenn sie mich näher kennen lernt,
vielleicht nicht mehr soviel Interesse an mir nimmt. Doch bin ich glücklich mal
mit einer Frau zu verkehren, von der auch Du viel hältst.
Herzlichsten Dank für Dein Telegrammvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 6.7.1914 (Telegramm).! Ich wäre ja sehr froh,
wenn Du in 8 Tagen wieder hier wärst, Geliebter, will Dir aber nicht zureden.
Schließlich tust Du ja doch auch, was Du willst. In 8 Tagen ist auch Anna Pamela’s
Schulschluss.
Ich bin sehr froh, dass Du durch die ZeitungsausschnittePresseberichte über das vorgezogene Bankett am 24.6.1914 zu Wedekinds 50. Geburtstag im Bayerischen Hof in München [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 4.7.1914]. beruhigt
bist, es war eben doch | wohl ein Zufall. Ich begreife nur nicht, weshalb Du
Dich deswegen mit Jemand schießen„Replik auf Wedekinds Formulierung“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 258] im zuletzt erhaltenen Brief [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 4.7.1914]. müsstest.
Nun will ich aber schlafen gehen. Morgen heisst es wieder fleißig
üben. Ich hoffe, Du bist einverstanden damit, dass
ich zu Mühsam’s Vortrag gieng u. bete zu Gott, dass es keine Missstimmungen
zwischen uns giebt.
Sei tausendmal innigst geküsst geliebter, theuerster Frank,
von Deiner Tilly
P.S. Kann ich die Steuer anbeiDem Brief liegt die Anlage nicht mehr bei. erledigen?